Antikunst als Lebenskunst

„Best of Dada“ in kritischer Retrospektive

Von Felix Philipp IngoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Philipp Ingold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zahlreichen Avantgardebewegungen, die einst Hans Arp und El Lissitzky als „Kunstismen“ der (längst klassisch gewordenen) europäischen Moderne in Buchform rubriziert hatten, sehen heute zu einem guten Teil ziemlich alt aus. Das betrifft vorab den Expressionismus, den Verismus sowie – seinem zukunftsweisenden Etikett zum Trotz – den Futurismus. Dass demgegenüber der Dadaismus seine ursprüngliche Lebendigkeit weitgehend behalten und darüber hinaus neue Aktualität gewonnen hat, mag erstaunen, haben seine Protagonisten doch vorzugsweise mit zufällig greifbaren Materialien und spontan aufkommenden Ideen operiert, wobei sie ihren Wirkungsbereich programmatisch auf das Hier und Jetzt beschränkten. Doch tatsächlich sind die Dadaisten in der Folge für so epochale Kunstkonzepte wie den Surrealismus, die Pataphysik und den Situationismus vorbildlich geworden. Mit ihrem Beharren auf sinnlicher Wahrnehmung als ästhetischer Erfahrung haben sie manche Positionen markiert, an die Jahrzehnte später die Kunst der Performance, die visuelle und auditive Dichtung oder auch die Geräuschmusik eines John Cage unmittelbar anschliessen konnten.

Der Dadaismus gehört denn auch zu den bestdokumentierten und meisterforschten „Kunstismen“ des 20. Jahrhunderts. Eine Vielzahl von einschlägigen Katalogwerken, Monografien und Bibliografien, Text- und Bildbänden sind der eindrückliche Beleg dafür – und jede weitere Publikation wird danach zu befragen sein, ob sie zur einschlägigen Forschung und Dokumentation noch irgendein Novum beitragen kann.

Wenn nun Uta Brandes und Michael Erlhoff, zwei vorzüglich ausgewiesene Dadaexperten, unterm Titel „DADAs BEST“ erneut eine reich bebilderte Anthologie vorlegen, stellt sich die Frage mit etwas geringerer Dringlichkeit, denn wer das „Beste“ bietet, trifft in aller Regel eine wertende Auswahl aus bereits bekannten Beständen und hat wohl kaum die Ambition, mit Neuentdeckungen aufzuwarten.Tatsächlich beschränken sich die Herausgeber im Wesentlichen auf die Darbietung einer dadaistischen „Blütenlese“, will heißen auf die Präsentation längst kanonisierter Namen und Werke aus dem Fundus von Dada-Zürich, Dada-Berlin, Dada-Paris.

Neu an all dem Altbekannten ist allerdings dessen Zusammenstellung durch ein gutes Dutzend externer Ratgeber, die auf Bitte der beiden Editoren (und in Ergänzung zu deren eigener Auswahl) ihre jeweils „besten“ Lesefrüchte zur Anthologie beigetragen haben. Gleichwohl ist daraus kein sonderlich origineller Band geworden. Etwas nostalgisch nimmt man zur Kenntnis, dass auch der Dadaismus – einstmals Antikunst par excellence – „klassisch“ geworden ist und seine „Meister“, seine „Meisterwerke“ gefunden hat. Jedenfalls werden fast ausschliesslich dadaistische „Klassiker“ wie Hugo Ball, Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck, Kurt Schwitters, Walter Serner und Tristan Tzara empfohlen, und diese keineswegs nur mit „besten“ Texten. Die französische Szene ist mit weniger bekannten Autoren – darunter Pierre Albert-Birot, Pierre Bosquet, Benjamin Péret und Francis Picabia – durchaus „gut“ vertreten, wohingegen die globale Reichweite der Bewegung lediglich durch unkommentierte Hinweise auf japanische und jugoslawische Außenstellen dokumentiert ist.

Dass die russische Spielart dadaistischer Wort- und Bildkunst, wie sie vorab in Georgien von Ilja Sdanewitsch (Iliazd), Aleksej Krutschonych, Igor Terentjew und Alexandr Tufanow praktiziert wurde, in «DADAs BEST» mit keinem Wort erwähnt wird, ist ein bedauerliches Defizit angesichts des in jüngster Zeit sorgfältig aufgearbeiteten Werkbestands. Bestenfalls kann „DADAs BEST“ unter diesem Gesichtspunkt als ein „DADAs Digest“ bestehen. Umso dankbarer registriert man die eher marginalen, dennoch „typisch“ dadaistischen Textbeiträge von Otto Grosz, Erik Satie und, allen voran, Theo van Doesburg alias „I. K. Bonset“, der in der Anthologie mit ganz schön verstiegenen „Buchstabenklangbildern“ sowie dem ingeniösen Monodrama „Ernest“ vertreten ist, das aus einem einzigen Wort (oder Namen) durch vielfache Variation entfaltet wird.

Trotz mancherlei substantiellen Lücken und unklaren Auswahlkriterien bezüglich „bester“ Texte bietet der vorliegende (zwar schön gestaltete, doch schon beim zweiten Durchblättern aus dem Leim brechende) Band Gelegenheit, Theorie und Praxis des Dadaismus einigermaßen verlässlich zu erschließen.

Rasch wird deutlich, dass die dadaistische Ästhetik, so einzigartig und sonderbar sie sich ausnimmt, mit andern „Kunstismen“ jener Zeit in mancher Hinsicht übereinstimmt. Wie der italienische oder der russische Futurismus, aber auch der Kubismus und generell die neoprimitivistischen Avantgardebewegungen fordern die Dadaisten einen großen epochalen Bruch – den Bruch mit Tradition und Konvention, den Bruch überkommener Formgesetze, den Bruch nationaler, geistiger, auch sprachlicher Schranken, den Bruch mit Logik, Chronologie und Geschichte, ja sogar den Bruch mit der Kunst, der Literatur als solcher, kurz die Absage an jeglichen „Kulturdreck“ (Serner), die totale „Zerformung“ (Tzara) oder – wie Hannah Höch es in ihrer kaputten Diktion festhält:

Haben keine gute
und genügende.
schaden ihres Wohlbefindens –
brochen,
überhaupt –
brochen.

Doch die „Zerformung“ – von den Dadaisten nicht zuletzt als Polemik gegen Krieg und Kapitalismus, gegen Familie und Kirche, gegen „Herrn Opportun“ und „Herrn Bequem“ konsequent ausgetragen – ist keineswegs bloß eine destruktive Geste – sie schafft Freiraum, ermöglicht Grenzüberschreitungen und damit auch Begegnungen, Verbindungen mit dem, was fremd und befremdlich ist. So hat sich die dadaistische „Antikunst“ ebenso selbstverständlich frei gemacht für die Verquickung unterschiedlichster Materialien, Techniken und Genres wie für die intermediale Verflechtung der Sprachkunst mit Musik und bildnerischer Gestaltung.

Von daher erklärt sich die Präsenz zahlreicher Doppelbegabungen im Umkreis des Dadaismus – Künstler wie van Doesburg, Picabia oder Höch traten mit großem Selbstbewusstsein auch als Dichter auf, und ein Allrounder wie Schwitters war als Maler und Grafiker, als Plastiker und Architekt, als Rezitator und Performer an allen künstlerischen Fronten gleichermaßen engagiert.

Dass die Collage als Zusammenschnitt von Text- und Bildelementen wie auch das Typogramm (und allgemein die visuelle Konkretisierung der Lautsprache in Textbildern) zu „typisch“ dadaistischen Kunstformen werden konnten, geht auf solche Grenzüberschreitungen zurück. Beispielhaft dafür sind unter anderem Balls mehrfarbig in wechselnden Schrifttypen und Schriftgraden gesetztes Nonsensegedicht „Karawane“ (1920) oder Raoul Hausmanns Letternkomposition „kp’erioUM lp’erioum“ (1919). Als Musterstück dadaistischer Multimedialität kann in diesem Zusammenhang die Schwitters’sche „Ursonate“ von 1923/1932 gelten, in der Sprach- und Sprechkunst, „philophonische“ und „lettristische“ Textgestaltung produktiv verschränkt werden. Ein früheres, ebenso bemerkenswertes Beispiel ist Tristan Tzaras Simultanpoem „L’amiral cherche une maison à louer“, das Ende März 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire dreistimmig vorgetragen und als Partitur typografisch ausgearbeitet wurde; das Poem findet sich in „DADAs BEST“ nach dem Original auf einer Doppelseite verkleinert abgedruckt.

Die dadaistische Wortkunst lässt im Wesentlichen zwei poetologische Vektoren erkennen. Einerseits tendiert sie (häufig unter Einhaltung volksliedartiger Strophik mit gereimten Versen, wie bei Arp, Picabia, Péret) zu reiner Unsinnspoesie; hier, als Beispiel dazu, eine Strophe von Theodor Baargeld:

Bibane Cactis Azaleen
Dörrgemüse Poprobäen
Nur der kleine Hanns verstäen
Wie sie wähen.

Anderseits bringt die Dadadichtung kunstsprachliche Texte hervor, die sich nicht nur jeglicher Bedeutung und damit auch jeglichem Verständnis entziehen (so bei Ball oder Schwitters), sondern auch der Lektüre, zumal der Rezitation sich widersetzen. Beispielhaft ist hier die Wortarbeit von Hausmann, dessen poetische Texte nicht gelesen oder entziffert, vielmehr gesehen, betrachtet werden sollen – als skripturale Konstellationen, die weder Text noch Bild und gleichwohl beides in einem sind:

Bbbb
N’ moum m’ onoum onopouh
p
o
n
n
e
ee lousso kilikilikoum
t’ neksout coun’ tsoumt sonou
correyiosou out kolou
Y’ IIITTITTTTIYYYH
kirriou korrothumn
N’ onou
moussah
da
ou
DADDOU
irridadoumth
t’ hmoum
kollokoum
o n o o o h h o o u u u m h n

In diesem und vergleichbaren Fällen könnte man von opaken Texten sprechen, solchen also, die keinerlei vorgegebene Bedeutung durchscheinen lassen und deshalb die ganze Aufmerksamkeit auf die visuelle Ebene der Schrift lenken. Texte dieser Art erfordern eine Lektüre, die ausschließlich das aufnimmt, was geschrieben oder gedruckt dasteht und allein der sinnlichen Wahrnehmung sich öffnet, nicht jedoch dem rationalen Verständnis – genau so wie das bedeutungsfreie, willkürlich gesetzte Wort „Dada“, das als solches, wie Hausmann einst lapidar festhielt, „nichts als vier Buchstaben“ darbietet und folglich in allen Sprachen die selbe Gültigkeit hat. „Wahrheit“ wird somit einzig über Wahrnehmung gewonnen, nicht also wie üblich über konventionellen Wortgebrauch und dessen Bedeutung. – In manchen Dadatexten, vorab in der Prosa, werden die beiden Verfahren simultan ins Spiel gebracht, so dass Unsinn und Nichtsinn, Transparenz und Opazität fluktuierend ineinander übergehen können; bei Melchior Vischer (in „Sekunde durch Hirn“, 1919) ist Schwarz auf Weiß Folgendes zu lesen beziehungsweise zu sehen:

Kroolookroooloookroooolooooschüüschüüschüüschüüüdadadaadaadaaadaaa
Löwe, ririririririilülülülühihihihihihiiiii Pferd, poupoupouuou
taktakpoooouuuubooooboooooou Hund, schaulschaulschaulsususuu Hirsch,
eieieiiiiinöööööiöööiöööiiööööi-ööi-iööi Vogel, schief, quer, prasselnd wie
Unwetter töteten endlich gefundne ichthyosaurische Urlaute die ganzen blöden
Sprachen verkommener Erdkugel. Ich bin verrückt meinen Sie? O nein! Meine
Umwelt ist nur blödsinnig, zivilisiert, beschmiert, saher ich seltsam. Besonders
seltsam pietätvollen gesunden dicken Leuten und Turnlehrern.

„DADA ist die Wahrheit“, heißt es in Hausmanns Berliner Manifest von 1920, „die allein zutreffende Praxis des realen Menschen, wie er heute ist, stets in Bewegung durch die Simultanäität der Ereignisse, Reklame, des Marktes, der Sexualität, der Gemeinschaftsdinge, der Politik, der Ökonomie; ohne überflüssige Gedanken, die zu nichts führen.“ Die Dadasophie besteht denn auch darin, Bedeutung durch Sinn (oder eben Unsinn) zu ersetzen, die Wahrheit durch sinnliche Erkenntnis und damit ästhetisch zu erschließen. So gesehen ist Dadakunst in erster Linie Lebenskunst, Erlebniskunst, und schon deshalb verbleibt sie notwendigerweise im Status einer Antikunst. Denn wo jeder ein Künstler sein darf, kann keiner ein Künstler sein, während umgekehrt das, was üblicherweise als Kunst gilt, notwendigerweise zur „Sabotage am Leben“ werden muss.

Vielleicht könnte – oder sollte! – man sich einmal wieder auf das dadaistische Entrümpelungspostulat besinnen? Statt angesichts von Umweltzerstörung und Überbevölkerung unentwegt Zuwachs, Fortschritt, Erfolg, Gewinn zu fordern, müsste der „schamlose Bastard der Zivilisation“ endlich den Verzicht als kulturelle Leistung honorieren, müsste sich darum bemühen, aus möglichst wenig möglichst viel zu machen. Der Dadaismus, begriffen als eine dekonstruktive Ökologie des Geistes, könnte dafür Vorbild sein. „Da will ich dann hinknien auf Meer Ebene Wüste“, verkündete schon 1919 der Prosadichter Vischer: „Hände in reine weite Luft stecken, rufen wild stark gross – WIR SIND WIEDER JUNG!“

 

Felix Philipp Ingold arbeitet nach langjähriger Lehrtätigkeit als freier Publizist, Schriftsteller und Übersetzer in Romainmôtier; jüngste Buchpublikationen: „Gegengabe aus kritischen, poetischen und privaten Feldern“ (2009), „Faszination des Fremden“ (2009); als Übersetzer und Herausgeber: Anatol von Steiger, „Dieses Leben“ (Gesammelte Gedichte Russisch-Deutsch, 2008), Guillaume Apollinaire, „Watte in den Ohren“ (Gedichte und Kalligramme, 2010).

Titelbild

Michael Erlhoff / Uta Brandes (Hg.): DADAs BEST.
Edition Nautilus, Hamburg 2009.
160 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783894016012

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