Kommentierung des Kommentars
Bernd Witte erklärt die Bedeutung der jüdischen Tradition für die literarische Moderne – mit „Heine, Buber, Kafka, Benjamin“
Von Nikolai Preuschoff
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Jude zu sein ist – wohl verstanden – das Los aller Menschen, denn wir sind alle im Exil. Haben wir doch in unserer absoluten Nacktheit und auf unserem erzwungenen Zug durch die Wüste kein anderes Licht als die Dunkelheit des Wortes, keine andere Führung als die Fragen ohne Antworten. So ist das Wort unser Vaterland, unser Königreich.“
Mit diesen Sätzen des Dichters und Essayisten Edmond Jabès (1912-1991) beginnt Bernd Witte seine Studie „Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin“. In groben Zügen machen sie bereits deutlich, worum es geht und wie der zunächst widersprüchlich scheinende Verbindung von „jüdischer Tradition“ und „literarischer Moderne“ zu verstehen sei. Jabès formuliert in „Le soupçon, le desert“ (1978) die Einsicht, dass sein Schriftsteller-Ich und sein jüdisches Ich in den „Qualen einer alten Welt“ eins sind. Das Wort, die Schrift, die Literatur bilden die Antwort auf die Erfahrung der Diaspora, des Exils, der Entwurzelung und treten als Heimat an die Stelle der territorialen.
Jabès – und es ließen sich hier die Ansätze Emanuel Lévinas‘ und Zygmunt Baumans ergänzen – sieht dies als Wesentliches in der jüdischen Tradition überliefert. Und hieran knüpft Bernd Witte, Professor für Neuere deutsche Literatur in Düsseldorf, an: Die von Jabès beschriebene Erfahrung ist zugleich eine der zentralen Erfahrungen der Moderne. Die jüdische Tradition hält mithin Antworten bereit für die literarische Moderne als ‚Reaktion‘ auf das die Moderne durchziehende Spannungsfeld von Bedeutungsmangel und Bedeutungsüberschuss – wodurch die Tradition paradoxerweise als moderne lesbar wird.
Den bekanntermaßen weiten und schwierigen Begriff ‚der‘ Moderne fasst Witte in der mit sechs Seiten etwas kurz geratenen Einleitung („Zur Aktualität der deutsch-jüdischen Literatur“) als „gesellschaftliche Moderne“ und verortet ihn historisch mit Adam Smith (1776) und der Erhebung der Produktivkraft des ökonomisch Handelnden zum Ordnungsprinzip der Gesellschaft auf den Beginn der Neuzeit. Die literarische Moderne sei „in ihrem Zentrum“ nun das, was dem „modernen Produktionsfetischismus“ entgegentrete. Ihren europäischen Ursprung erkennt Witte – so legt es auch der Untertitel „Heine, Buber, Kafka, Benjamin“ nahe – in den Schriften Heinrich Heines: In ihnen habe sich „die Geburt der literarischen Moderne aus dem Geist des Judentums vollzogen“. Was aber ist ‚die‘ jüdische Tradition? Witte beginnt mit einem Rekurs auf die Überlieferung der Tora, der ersten fünf Bücher Mose am Berg von Sinai, die als „kanonische Erzählung“ die jüdische Kultur bis in die Moderne prägt. Ihr zugehörig ist der Talmud, der als Niederschrift der mündlichen Lehre Kommentare, Gesetzesvorschriften und Erzählungen in sich versammelt. ‚Jüdische Tradition‘ wird demgemäß als eine Tradition der Schrift einerseits gefasst und Tradition der Kommentierung der Schrift andererseits. Entsprechend steht sie (seit der Verkündung der Gesetzesvorschriften) im Spannungsfeld zweier Autoritäten: mündlicher Offenbarung und Schriftlichkeit. Beide „Aggregatzustände“, so Witte, werden in ihrer unterschiedlichen Funktionalität bereits im Talmud erkannt und reflektiert.
Den Kapiteln zu Heine, Buber, Kafka und Benjamin gehen mit „Kulturelles Gedächtnis und Geschichtsschreibung im Judentum“ zunächst Ausführungen zu Moses Mendelssohn voraus. Dessen „Suche nach der jüdischen Erzähl-Literatur“ und sein Versuch, die jüdische Schrift- und Erzähltradition auf eine allgemeine Basis zu stellen, dauern bis nach seinem Tod fort – die Gründung der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ (1837) erlebt Mendelssohn nicht mehr. In Mendelssohns Vision eines aufklärerischen Judentums aber liegt das Paradigma religiöser Erkenntnis: „Unter Berufung auf die talmudische Tradition einer radikalen Anthropologisierung“ redet Mendelssohn, so Witte, „der Erkenntnis das Wort. Wahrheit wird nach ihm nicht im System, sondern in der kommentierenden Entfaltung vorgegebener Texte erfahren.“
Aber erst der anschließende Heine-Teil entfaltet die Grundthese des Buches: Mit einer sich eng am Text bewegende Lektüre des „Rabbi von Bacherach“ kann Witte zeigen, dass hier nicht nur ein gegen die moderne Fortschrittsgläubigkeit gerichtetes Geschichtsverständnis (in der Wiederholung der Urerfahrung des Exils) angelegt ist, sondern sich desgleichen „der Ursprung einer neuen Schreibweise der deutschen, ja der europäischen Literatur manifestiert“. Diese „neue Schreibweise“ ist die des Kommentars: Heine deutet sein historisches Material im „Rabbi“-Fragment, wie Witte überzeugend darlegen kann, durch die Einmontage eines folkloristischen Liedes, und zwar gerade an jenen Stellen, an denen eine Abweichung vom religiösen Ritus erkennbar ist. Dies sei, so Witte, eben nicht auf Heines mangelnde Kenntnis der jüdischen Tradition zurückzuführen, sondern eine mit Bedacht durchgeführte Modifikation, die auf die leidvolle Geschichte der Juden und die nicht nachlassende existentielle Drohung des Pogroms verweist. Damit sei der „Rabbi“ zugleich der Kommentar eines (in ihm verhandelten) rituellen Geschehens wie eines kanonischen Textes, wenn nämlich hinter der Flucht aus Bacherach die Ur-Erzählung des Auszugs aus Ägypten erkennbar wird. Der „Rabbi“ wird so selbst zur „Quellschrift“ im Sinne Leopold Zunz‘, zur Erneuerung der biblischen Ursprungsgeschichte (wie Heine 1825 an den Freund Moses Moser schreibt).
Die Erzählung verschmilzt mit dem Kommentar, übernimmt selbst das Kommentieren – damit wird nicht nur „die ästhetische Distanz“ angetastet (so Theodor W. Adorno über den „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“), sondern hier zeigt sich auch, Witte zufolge, „das Paradox der Erfindung der Schreibweise der Moderne aus den ältesten, den talmudischen Traditionen des Judentums“. Im historischen Kontext der in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts „gültigen klassisch-romantischen Ästhetik“ bringt die deutsch-jüdische Literatur damit „etwas revolutionär Neues“ ein – und zwar nicht nur in die deutschsprachige, sondern „in die europäische Literatur“ überhaupt.
Auch die auf Heine folgenden Autoren – Buber mit seinen pathosgetragenen Rettungsversuchen einer brüchig gewordenen Tradition, Kafkas „Enttäuschung“ angesichts seiner Begegnungen mit dem Chassidismus, und Benjamin, der sich vor einer weitgehend aufgelösten jüdischen Tradition wiederfindet und dessen Denken sich dennoch vom systematisch ausgerichteten zu einem kommentierenden wandelt – auch sie kann Witte als Autoren „kommentierenden Schreibens“ oder „kommentierenden Erzählens“ profilieren. Ein Schreiben und Erzählen, in dem das jüdische Erbe produktiv wird und sich aktualisiert – vielleicht gerade weil die vorgestellten Schriftsteller zur jüdischen Tradition in einem keineswegs homogenen, ja mitunter distanzierten, komplizierten Verhältnis stehen. Die Aneignung der ‚verpassten‘ Tradition, die eine Kultur der Schrift ist – Heine spricht von einem „portativen Vaterland“ –, wird im im Exil, in das die von Witte versammelten deutsch-jüdischen Autoren (mit Ausnahme des frühverstorbenen Kafkas) den deutschen Sprachraum verlassen mussten, umso bedeutsamer.
Mit den Ausführungen zu Benjamin schließt der Band, und sie bilden den insgesamt kürzesten Teil. Witte konzentriert sich auf den Literaten Benjamin mehr als den Theoretiker und beschränkt sich entsprechend auf die moderne-kritischen Kurztexte der „Einbahnstraße“ sowie der „Berliner Kindheit“. Eine Ausweitung der Perspektive auf Benjamins messianische Geschichtsphilosophie erfolgt erst auf den letzten Seiten des Buches: In ihr gelangt die Moderne an ihr Ende, und die Welt ist gedacht als eine „Welt allseitiger und integraler Aktualität“, in der mithin auch die Notwendigkeit des Kommentierens obsolet geworden ist.
Wittes anregende, gelehrte Lektüre weiß vor allem dann zu überzeugen, wenn sie dicht vom Text aus die Hauptthese wieder anklingen lässt – das ist die Stärke des Buches. Der Teil zu Buber mag hier etwas herausfallen, weil Buber sich zweifelsohne als bedeutender Übersetzer, Schriftsteller, Herausgeber und Vermittler der jüdischen Tradition und eines modernen Judentums in der Moderne hervorgetan hat, als Autor der literarischen Moderne (jenseits seiner Bedeutung über Max Brod hin zu Kafka) selbst jedoch nicht. Dies, und wohl auch die Konzentration auf eine begrenzte, exemplarisch zu verstehende Autoren- und Textauswahl mag von dem Umstand her rühren, dass sich die vorliegende Publikation Wittes wesentlich aus Aufsätzen des Autors der letzten drei Jahrzehnte zusammensetzt, die im Anhang auch ausgewiesen sind.
Entsprechend muss enttäuscht werden, wer eine Einführung oder auch einen systematischeren Überblick über das Feld der literarischen Moderne wie auch der jüdischen Tradition sucht. Begriffe wie ‚gesellschaftliche‘ oder ‚literarische Moderne‘ werden kaum geklärt, sondern nur angerissen oder weitgehend vorausgesetzt. Auch die beiden zentralen Termini, ‚literarische Moderne‘ und ‚jüdische Tradition‘, werden nicht unter Rückgriff auf bestehende Forschung, wie etwa den verwandten Ansatz Shulamit Volkovs („Das jüdische Projekt der Moderne“, München 2001) entwickelt, sondern annähernd und im Laufe der Lektüre umkreist – und ohne dass die Ergebnisse am Ende zusammenfasst würden.
Zu den für den wissenschaftlichen Leser bedauerlichen Umständen gehört, dass – möglicherweise seitens des Verlages – auf eine Bibliografie verzichtet wurde. So muss der Leser mit einem überschaubaren Anmerkungsapparat und dem Siglenverzeichnis Vorlieb nehmen. Wenig einsichtig ist zudem, warum einem schmalen Glossar der Vorzug vor einem Index gegeben wurde. Möglicherweise aber wird Witte es hier mit dem für ihn zentralen Heinrich Heine gehalten haben, der an seinen Verleger Julius Campe einmal schrieb, dass sich diejenigen, die „irgendeine Partikularität, von der man ihnen gesprochen, in dem Buche nachsehen möchten“, sich doch gefälligst die (sich auch hier lohnende) Mühe geben sollten, „das ganze Buch durchzulesen“.
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