Laufen, laufen, laufen

Jean Echenoz erzählt das Leben eines Ausnahme-Sportlers zwischen den zwei großen totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts.

Von Phillip HartwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Phillip Hartwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war der größte Läufer aller Zeiten. Emil Zátopek, dreifacher Goldmedaillengewinner bei der Olympiade 1952 in Helsinki, über 5.000, 10.000 Meter und die Marathonstrecke. Außerdem hielt er zu seiner besten Zeit alle Langstrecken-Weltrekorde zwischen 5.000 und 30.000 Meter. Er, der Arbeiterjunge aus Ostrava, der den Einmarsch der deutschen Truppen in Mähren noch am eigenen Leib erfuhr, wurde zu einer der sozialistischen Aushängefiguren der UdSSR und zum Volkshelden der Tschechoslowakei, die bis dato noch keinen einzigen nennenswerten Leichathleten vorzuweisen hatte. Er war eine Ausnahmefigur, hat sich selbst trainiert, mit der Devise: „Mach es dir im Training schwer, dann wird es im Wettkampf leichter“. Mit dieser Taktik lief er jahrelang an der Spitze der Weltelite. Dabei war es jedem Laufexperten ein Rätsel, wie Zátopek, der quälend und schwerfällig wie eine „Lokomotive“ lief und dabei den Schmerz jedes einzelnen Meters im Gesicht trug, überhaupt irgendetwas erreichen konnte. Die russischen Ärzte machten es an einer einfachen Tatsache aus: „Emil ist ein ganz normaler Mann, er ist nur einfach ein guter Kommunist, und das ändert alles.“

Und nun stelle man sich dieses Aushängeschild roter Überlegenheit vor, wie es am 12. August 1968, der in der Geschichte als „Prager Frühling“ in Erinnerung bleibt, an das Rednerpult der Demonstranten steigt und mit der unbeholfenen, aber sympathischen Art eines Sportlers und der Kraft einer Ikone zum Boykott der UdSSR bei den nächsten Olympischen Spielen aufruft. Damit stellt er sich klar hinter den neuen tschechischen Präsidenten Alexander Dubček und dessen Politik eines modernen Tschechiens, das sich – anders als der große Bruder – dem Westen öffnen will. Wieder sieht er die Panzer durch sein Heimatland rollen, diesmal die der vermeintlichen Freunde. Die tschechische Regierung wird entmachtet und vom einem Tag zum anderen wird der Dissident Zátopek vom gefeierten Sportlerstar und ranghohen Armeeoffizier zum Zwangsarbeiter in einem sibirischen Uran-Kraftwerk.

Dabei versteht sich Echenoz nicht als Historiker oder Biograf. Zwar bleibt er den überlieferten Fakten treu, doch nimmt er sich weitreichende literarische Freiheiten, die Lebensgeschichte Zátopeks neu zu erzählen. Worin diese Freiheiten bestehen, lässt er den Leser aber nicht merken, alles wird im gleichen ironisch-distanzierten Ton verfasst.

Auch wenn die Schilderungen nur zur Hälfte der Wahrheit entsprechen und die andere Hälfte literarische Adaption ist, muss man sagen: Was für eine Lebensgeschichte, was für ein Sprengstoff, was für ein Material um hieraus großartige, epische, kritische Literatur zu erwarten, erst recht von Jean Echenoz, Träger des renommiertesten französischen Literaturpreis, des Prix Goncourt.

Doch weit gefehlt. Das Buch, von dem hier die Rede ist, hat den zarten Umfang von 120 spärlich bedruckten Seiten und versperrt sich mit aller Anstrengung zu verraten, was es überhaupt will.

Am Tag des Truppeneinmarschs in Prag sollte diese Geschichte eigentlich beginnen. Der Autor hätte den gefeierten Volkshelden begleiten sollen, der auf Grund seiner politischen Haltung zu unmenschlicher Zwangsarbeit verdammt wird, hätte vom Kampf gegen die Unterdrückung und dem tiefen Sturz eines Weltstars berichten sollen. Stattdessen hört hier die Geschichte auf. Noch wortkarger als im restlichen Buch werden diese brisanten und unfassbaren Jahre auf zwei Seiten zusammengefasst.

Im gesamten Roman lässt Echenoz den Leser an keiner Stelle näher an den Charakter herantreten, als dass er über seine Trainingsmethoden berichtet oder anekdotenhaft die großen Siege seines Lebens zusammenfasst. Keine Schilderungen über Zátopeks Familienverhältnisse, seine Frau, die Armut seiner Kindheit unter den Nazis, alles nicht erwähnenswerte Details für Echenoz. Dafür bekommt man in einem flüssigen Stammtischton dessen Sportlerkarriere nacherzählt, alle Erfolge, großen Niederlagen und wie es dann Stück für Stück bergab ging. Doch auch damit fand sich der Sportler und Mensch Zátopek anscheinend sehr gut ab. Man würde eben irgendwann von Jüngeren, Stärkeren abgelöst.

Ist das gute Literatur, das lockere, zotenhafte Heruntererzählen einer Karriere? Oder ist es wiederum genau die Stärke des Autors, das Erzählen einer Biografie auf den Menschen Zátopek anzupassen? War Echenoz bei der Bearbeitung des biografischen Stoffes in „Ravel“ noch sehr viel mehr darauf bedacht, die Ausnahmepersönlichkeit des exzentrischen Komponisten darzustellen, sah er diese Notwendigkeit in „Laufen“ womöglich nicht. Anstatt aus dem eher schlichten Gemüt eines Sportlers einen aufregenden Charakter zu machen, dessen konzentrierte Innenbeleuchtung lohnen würde, wird die Figur nur an ihren Errungenschaffeten gemessen und das im Rahmen einer weltpolitisch aufregenden Zeit.

Doch genau an diesem Punkt kommt man zu den großen Problemen des Romans – sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Selbst wenn die formale Abarbeitung an Zátopek in sich und in Anlehnung Echenoz’ frühere Bücher legitim ist, stellt sich die Frage, inwieweit es überhaupt relevant ist, von einer Person im Verhältnis zu einem Regime zu erzählen, wenn deren Verhältnis nur durch Erwähnung bemerkenswerter Eckdaten verdeutlicht wird, nicht aber in einer aussagekräftigen Gegenüberstellung. Die Relevanz steckt sich das Buch jedoch selbst als Messlatte, da dieses Läuferleben ganz klar in den Kalten Krieg eingebettet ist. Da es sich aber inhaltlich nicht mit dem selbst aufgegriffenen Thema auseinandersetzt, manövriert es sich in die Belanglosigkeit und bleibt nicht mal das, was es eigentlich ist, eine interessante formale Spielart, Biografie und Roman zu vereinen.

Titelbild

Jean Echenoz: Laufen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Berlin Verlag, Berlin 2009.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783827008633

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