Martin Walsers Rückkehr zu sich selbst

Seine bescheidenste und überzeugendste Arbeit: Die Novelle „Ein fliehendes Pferd“

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Es ist bald zwanzig Jahre her. Martin Walser hatte seine Teilnahme an einer Tagung der „Gruppe 47“ zwar zuge­sagt, war aber dann doch nicht gekommen: Er stecke, wurde bedeutsam gemunkelt, in einer ernsten Krise. Da­mals war er noch ein junger, hoffnungsvoller Schriftsteller, die „Ehen in Philippsburg“ (1957) hatten ihn zu Recht bekannt gemacht, die „Halbzeit“ (1960) gab es noch nicht – und schon sprach man besorgt und bekümmert von seiner Krise.

Seitdem will kaum jemand, der sich mit Walsers Büchern oder Stücken beschäftigt, auf diese düstere Vokabel ver­zichten: Was immer er geschrieben hat und wie immer es beurteilt wurde, letztlich sei es, hieß es mit schöner Regel­mäßigkeit, als Zeichen einer Krise zu verstehen – vor allem natürlich des Martin Walser oder seiner Generation, dann aber auch des Erzählens, des Romans, des Dramas oder ganz einfach der Literatur hier und heute. Und auch nach seinen schwächsten Arbeiten hat man ihn als bedauerns­wertes Opfer eben der Krise beklagt, auch seine „Resignation“ wollten manche Rezensenten als Zeitsymptom deuten, auch für seine „Kapitulation“ sollte unbedingt die Epoche verantwortlich sein.

Dabei fällt auf, daß das Verhältnis der Kritik zu Walser immer schon etwas ungewöhnlich war: Gewiß, ihm wurde unmißverständlich ein Fehlschlag nach dem anderen be­scheinigt (und die vielen Mißerfolge machten ihn fast unmerklich, gleichsam unter der Hand, zu einem unserer Erfolgsautoren), doch hat ihm die Kritik nie ihre Aufmerk­samkeit entzogen und nur selten ihr Wohlwollen versagt.

Mehr noch: Jene, die seine Produkte, mochten sie noch so kümmerlich sein, ausführlich begutachteten, erinnerten ge­radezu – Joachim Kaiser, selber ein geduldiger und be­währter Walser-Forscher, hat hierauf hingewiesen – an behutsam-fürsorgliche Ärzte, die sich um das Bett eines Patienten scharen, dessen Fall ihnen außerordentlich inter­essant, wenn auch leider sehr bedenklich scheint.

Die liebevolle Betreuung, die dem Betroffenen verständ­licherweise auf die Nerven ging, hatte schon einen triftigen Grund: „Dieser Walser ist ein Genie, wenn auch einstwei­len nichts dabei herauskommt…“ – meinte Friedrich Sieburg 1960. Und ein anderer Kritiker schrieb über die „Halbzeit“: „Vielleicht hat noch nie ein so schlechtes Buch eine so große Begabung bewiesen.“ Kurzum: Man hatte den Verdacht und die Hoffnung, daß sich hier ein Autor unter Preis verkauft. Daß also dieser Walser ungleich mehr kann, als er leistet.

Nun ist nach vielen Jahren und Enttäuschungen, nach allerlei Irrwegen und Verstrickungen, die vielleicht not­wendig waren – wer könnte darüber mit Sicherheit befin­den? –, doch etwas herausgekommen. Nein, es ist kein gewaltiges Werk, sondern nicht mehr und nicht weniger als eine Novelle, und sie kann zumindest insofern keineswegs als Überraschung gelten, als sie mit Walsers vorangegange­nen Romanen und Erzählungen sehr viel gemein hat: Wer wieder einmal von seiner Resignation oder Kapitulation reden wollte, wäre wohl im Recht.

Aber es gibt eine Resignation, die nicht von Schwäche zeugt, sondern von Einsicht und Reife. Und eben weil Walser in einem gewis­sen Sinne tatsächlich kapituliert hat, konnte es ihm gelin­gen, die oft beschworene Krise zu überwinden: Die Novel­le „Ein fliehendes Pferd“ ist seine bescheidenste und überzeugendste epische Arbeit.

Worum geht es? Man könnte sagen: um die Selbstver­wirklichung des Intellektuellen in der bundesdeutschen Gesellschaft, um seinen Versuch, sich ihrem Druck und Einfluß zu entziehen, um die Vereinsamung und Entfrem­dung des Individuums inmitten unseres Alltags, um sein Versagen und Scheitern. Doch sind das nur dürre Formeln, die überdies schon auf Walsers frühere Bücher zutrafen, zumal auf seinen Erstling, den Erzählungsband „Ein Flug­zeug über dem Haus“ (1955).

Jene Geschichten, mit denen sein Weg begann, waren Parabeln, die in abstrakten Räu­men spielten: Ihre Gestalten dienten bloß als Demonstra­tionsobjekte. Später brillierte Walser mit psychologischen Nuancen und realistischen Details. Aber nach wie vor war es die Abstraktion, die seine Epik bedrohte. Das führte zu jener für ihn so bezeichnenden Mischung aus imponieren­der Vitalität und erschreckender Sterilität. Und damit hängt auch zusammen, daß seine erzählenden Arbeiten, ob sie sich nun wie Lehrstücke oder wie Fingerübungen aus­nahmen, stets verzweifelten Kraftakten glichen.

Auch das „Fliehende Pferd“ ist eine Parabel. Aber hat Walser die beiden hier im Mittelpunkt stehenden Figuren erfunden, um seine Geschichte vom zweifachen Scheitern erzählen zu können? Oder ist er von den beiden Charakte­ren ausgegangen und hat diese Geschichte erst aus ihnen entwickelt? Die Frage läßt sich nicht beantworten, sie ist gegenstandslos. Das aber bedeutet, daß diese Prosa lebt, daß die beiden zentralen Gestalten weder Schemen noch Marionetten sind und daß sich Walser endlich von der Abstraktion befreit hat.

Dies ist um so bemerkenswerter, als dem Ganzen eine riskante Konstellation zugrunde liegt. Denn die beiden Herren, die einst Schulkameraden waren und die sich jetzt, zum ersten Mal nach 23 Jahren, während eines Urlaubs am Bodensee zufällig treffen und hier zu­sammen mit ihren Frauen einige Tage verbringen, sind als entgegengesetzte Typen konzipiert; ein so entschiedener und scharfer Kontrast wirkt jedoch in der Regel unwahr­scheinlich und künstlich. Aber es ist heute wie eh und je: Wer gut erzählt, braucht die Künstlichkeit nicht zu fürch­ten, und er beglaubigt auch das Unwahrscheinliche.

Da haben wir also, zunächst und vor allem, den Ober­studienrat Helmut Halm, 46 Jahre alt, verheiratet und kinderlos, der an einem Stuttgarter Gymnasium lehrt. Er ist ein nachdenklicher Mann voll Hem­mungen und Skrupel, egozentrisch und grüblerisch, schwermütig und pessimistisch. Schon als Fünzehnjähriger las er Nietzsche, schon als Zwanzigjähriger fürchtete er, wahnsinnig zu werden.

Alles Unmittelbare ist ihm zuwi­der, er sucht Schutz in der Verstellung: „Je größer der Unterschied zwischen seinem Empfinden und seinem Ge­sichtsausdruck, desto größer sein Spaß. Nur wenn er ein anderer schien und ein anderer war, lebte er.“ Er möchte sich zurückziehen, er möchte fliehen. Wohin? Mit „inni­gem Wohlgefallen“ sieht er die Gitterstäbe vor den Fen­stern der Ferienwohnung, die er seit Jahren regelmäßig mietet. In seinem eigenen Häuschen, in Stuttgart, vermißt er Gitterstäbe.

Dieser Helmut Halm, der davon träumt, „seine wirk­liche Person in Sicherheit zu bringen vor den Augen der Welt“, ist, hören wir, der Sohn eines Kellners. Aber ich habe den Verdacht, daß zu seinen Vorfahren auch jener düstere dänische Prinz gehört, den die deutschen Schrift­steller seit zweihundert Jahren lieben und in dem sie immer wieder das Urbild des Intellektuellen erkennen. Ja, natür­lich, dieser Halm ist aus Hamlets Geschlecht.

Den meditierenden Studienrat konfrontiert Walser mit einer Gegenfigur, wie sie im Buche steht. Und der Mann heißt auch gleich Buch. Er verkörpert alles das, was dem einsamen und unglücklichen Halm abgeht: Er ist gesund und kräftig, zufrieden und unternehmungslustig, forsch und temperamentvoll.

Während Halm den Boden unter seinen Füßen zu verlieren glaubt, steht Buch fest auf dieser Erde. Sie sind im selben Alter, während jedoch Halm sich als ein Experte im Vorbeischauen erweist, begegnet Buch dem Dasein frontal und offensiv: „Mein Gott, daß das Leben so schön sein kann, wer hätte das gedacht.“ Wäh­rend Halm beim Rotwein Trost sucht („Jetzt trinken und versinken“), trinkt auch Buch nicht wenig, doch aus­schließlich Mineralwasser.

Halm wollte zwei Bücher schreiben, er arbeitet auch, wie seine Frau erwähnt, unun­terbrochen, doch „komme nichts heraus dabei“. Buch, ein freiberuflicher Journalist, hat natürlich schon allerlei pu­bliziert. Halm will mit der Umwelt möglichst wenig zu tun haben. Buch ist ein Spezialist für Umweltfragen. Der eine möchte die Gegenwart schön als Vergangenheit empfin­den, der andere hingegen will die Vergangenheit um jeden Preis vergegenwärtigen.

Den einstigen Schulkameraden, der unerwartet und auf­dringlich seinen Weg kreuzt, empfindet Halm als Ärgernis, als störende Herausforderung. Denn der Generationsge­nosse macht ihm die eigene Misere bewußt: Angesichts des unermüdlich aktiven „Eß- und Seesportlers“ fühlt sich Halm alt und verbraucht. Von weitem erinnert der schroffe Gegensatz an „Tonio Kröger“ – und man muß wissen, daß Walser seit seiner Jugend in Thomas Mann verliebt und vernarrt ist und gerade diese Erzählung für eine der wich­tigsten in unserem Jahrhundert hält, ja, sie sogar auswen­dig gelernt hat.

Wie Tonio Kröger klagt, ihm sei es nicht gegeben, „am Menschlichen teilzuhaben“, so fürchtet Helmut Halm, er habe „praktisch nicht gelebt“. Und wie Tonio Kröger seinen früheren Mitschüler Hans Hansen, den „Blauäugi­gen“, beneidet, weil dieser „das Leben in seiner verführeri­schen Banalität“, die „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ ge­nießt, so kann sich auch Halm von dem Verdacht nicht befreien, daß Buch, von dessen primitiver Daseinsbejahung und provozierenden Selbstzufriedenheit er sich angewidert abwenden möchte, doch jenes Glück zuteil wird, das ihm entgangen ist.

Aber bei Walser ist es, anders als bei Thomas Mann, nur eine scheinbare Antithese. Denn Helmut Halm und Klaus Buch sitzen im selben Boot. Und das ist auch wörtlich gemeint. Nachdem die beiden zusammen mit ihren Frauen gemeinsame Mahlzeiten und Spaziergänge absolviert ha­ben, schickt Walser die Männer, diesmal allein, auf eine Segelpartie.

Da stellt sich heraus, was der Leser schon geahnt hat: Dieser Buch spielt nur eine Rolle, auch er ist ein unglücklicher Mensch, der fliehen möchte. Er gibt vor, den anderen retten zu wollen, es sei „höchste Zeit, daß Helmut aufhöre, dem Leben auszuweichen“. Wenn jeder allein bleibe, müsse sich jeder „auf seine eigene miese Art durchschwindeln“, aber „wenn du mitkommst auf die Bahamas, sind wir beide gerettet“. Und: „Wir sollten, bevor wir fünfzig sind, noch einmal vom Stapel laufen.“

Der Plan ist lächerlich und verräterisch zugleich. Er zeigt, wieviel die beiden, die so unterschiedlich scheinen, doch miteinander gemein haben: Es sind zwei unreife und bemitleidenswerte, dem Leben nicht gewachsene Intellek­tuelle, für die als Lösung ihrer Schwierigkeiten immer nur die Flucht in Betracht kommt.

Beide leiden sie an dem Leistungsanspruch unserer Epoche. Walser zeigt das (unter anderem) am Beispiel des Sexuellen: „Wer den Sexualitäts­geboten dieser Zeit und Gesellschaft nicht genügte“ – heißt es einmal –, „war praktisch ununterbrochen am Pranger.“ Ob Klaus Buch dem Druck der Öffentlichkeit auf den einzelnen – also der Konvention und der Mode, der Wer­bung und der Publikationen aller Art – nachgibt, oder ob sich Helmut Halm diesem Anspruch beharrlich zu entzie­hen bemüht: das Ergebnis ähnelt sich auf fatale Weise. Denn beide sind sie verkümmerte, zur Selbstverwirkli­chung unfähige Individuen. Gerade das, worauf sie am meisten stolz sind, fehlt ihnen ganz und gar: Unabhängig­keit.

Was sich im letzten Teil der Novelle abspielt, braucht hier nicht wiedergegeben zu werden. Nur soviel: Nach einem dramatischen Vorfall und einem etwas theatralisch geratenen Epilog trennen sich die beiden Ehepaare wort­los. Im Zug sitzt Halm „mit dem Rücken zur Fahrtrich­tung“.

Das Vier-Personen-Spiel, in dem freilich die Frauen erheblich kleinere Rollen haben und auch weniger deutlich sind, mag an ein naturwissenschaftliches Experiment erin­nern: Hier werden, könnte man annehmen, Menschen wie Versuchsobjekte ihren gegenseitigen Wirkungen ausge­setzt. Aber diese Prosa ist niemals kalt, ja, man kann ihr jene verführerische oder auch bezwingende Kraft nachrüh­men, die wir bei Walser seit den „Ehen in Philippsburg“ vermissen mußten.

Er hat die Geschwätzigkeit überwunden und die Beredsamkeit wiedergewonnen. Selten wurde in der deutschen Literatur der Gegenwart die Alltagsspra­che der Intellektuellen so genau und so entlarvend eingef­angen. Die Ökonomie, die einst Walsers schwächste Seite war, bewährt sich auch in der Anwendung der charakteri­sierenden Details: Sie signalisieren das Milieu, das er dar­stellen will, ohne dem Erzähler zugleich (und das war in Walsers früheren Büchern oft der Fall) die Sicht auf eben dieses Milieu zu verbauen. Ähnliches gilt für seine Psycho­logie: Hatte er einst nur einzelne Beobachtungen und Nahaufnahmen zu bieten, die isoliert blieben, und also keine Porträts ergaben, so gelingen ihm jetzt zwei Hauptfi­guren von großer Überzeugungskraft, beide übrigens mit Humor und Mitleid gezeichnet.

Was bleibt am Ende? Walsers Liebe gilt dem von des Gedankens Blässe angekränkelten, dem kleinen Hamlet aus der bundesdeutschen Provinz, aber er spielt weder Halm gegen Buch noch Buch gegen Halm aus. Keiner siegt, beide sind sie im gleichen Maße Verlierer, eine Lösung wird nicht geboten. Die Novelle endet mit dem Satz, mit dem sie begonnen hat.

Und wer ist eigentlich an der Misere der beiden Intellektuellen schuld? Der Walser von gestern hätte geantwortet: die Gesellschaft oder gar der Monopolkapitalismus. Der Autor des „Fliehenden Pferdes“ hält sich, scheint es, an das immer noch beherzi­genswerte Wort Ibsens: „Zu fragen bin ich da, nicht zu antworten.“ In diesem Sinne mag die Novelle von Beschei­denheit zeugen, vielleicht sogar von einer gewissen Resi­gnation. In der harten Kritik der deutschen Intellektuellen verbirgt sich auch Walsers Selbstkritik. Um noch einmal Ibsen zu zitieren: „Dichten heißt, Gerichtstag halten über sich selbst.“

Wie auch immer: Martin Walser hat offenbar nicht mehr den Ehrgeiz, mit der Dichtung die Welt zu verändern. Er will nur ein Stück dieser Welt zeigen. Mehr sollte man von der Literatur nicht verlangen.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien am 24. März 1978 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wir danken Marcel Reich-Ranicki für die Genehmigung zur Nachpublikation.