Walsers Glanzstück

Ab heute in der F.A.Z.

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Am 27. März 1976 brachte diese Zeitung eine Buchbespre­chung, die viel Verwunderung und Empörung auslöste und sogar als Denunziation bezeichnet wurde. Tatsächlich ging sie im Ton wie im Inhalt weit über das Übliche hinaus, schon ihre ersten Sätze zeichneten sich durch eine außerge­wöhnliche Schärfe aus: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“ Gemeint war Martin Walsers Roman „Jenseits der Liebe“.

Man wird zugeben: Noch deutlicher, noch härter, noch unbarmherziger läßt sich über eine literarische Arbeit gar nicht urteilen. Aber soviel gegen „Jenseits der Liebe“ einzuwenden war und ist – denn ich kann von meiner damaligen Rezension auch heute nichts zurücknehmen –, so sicher erscheinen in der Bundesrepublik alljährlich un­zählige Bücher, die in jeder Hinsicht erheblich schlechter sind als jenes, das mit einem so rabiaten Protest bedacht wurde. Wozu sollte also dieser Protest gut sein, was wollte er bewirken?

Jede Literaturkritik bezieht sich auf einen konkreten Gegenstand – und nie auf diesen Gegenstand allein. Indem der Kritiker ein Buch befürwortet oder zurückweist, spricht er sich für oder gegen einen Autor aus und zugleich für oder gegen eine literarische Richtung. Er sieht also das Buch, das er behandelt, immer in einem bestimmten Zusammenhang. Er wertet es als Symptom.

Auch „Jenseits der Liebe“ hatte ich, wie der Kritik zu entnehmen war, vor allem als Symptom verstanden und beurteilt. Es ging also in erster Linie nicht um diesen Roman, sondern um Martin Walser, der einst als eine der größten Hoffnungen der Nachkriegsliteratur galt, doch später mit seinem Talent, so jedenfalls schien es, aus verschiedenen Gründen nur Schindluder trieb – und der schließlich dieses außerordent­liche Talent fast ruiniert hat.

Die Kritik, „als Skandalon konzipiert“ (wie Heinrich Vormweg im „Merkur“ treffend bemerkt hatte), war ein zorniger und verzweifelter Versuch, auf Martin Walsers schriftstellerischen Weg einen Einfluß auszuüben. Er sei – hieß es im Fazit – „an einem Tiefpunkt seiner Laufbahn angelangt“, Der letzte Satz der Kritik lautete: „Doch gibt es Tiefpunkte, die sich als Wendepunkte erweisen. Hinter diesen Worten verbirgt sich keine Voraussage, wohl aber, das soll nicht verheimlicht werden, immer noch eine Hoffnung.“

Inzwischen hat Martin Walser die Novelle „Ein fliehen­des Pferd“ geschrieben. Und was damals nur eine vage Hoffnung war, ist jetzt ein Faktum: Das Buch „Jenseits der Liebe“ hat sich in der Tat als ein Wendepunkt erwiesen. Gewiß, leichtsinnig wäre es und auch anmaßend, wollte man jene auf Schockwirkung abzielende Kritik des Ro­mans „Jenseits der Liebe“ und die Entstehung der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ in einen ursächlichen Zusammen­hang bringen.

Der unmittelbare Einfluß eines Kritikers auf die Ent­wicklung eines Schriftstellers ist, ganz abgesehen davon, daß er sich nur selten nachweisen läßt, in der Regel verschwindend klein. Auch wäre dieser Einfluß keineswegs wünschenswert, es sei denn, es gäbe, was es noch nie gegeben hat und nie geben wird: unfehlbare Literaturkenner.

Gleichwohl fühlt sich der Kritiker, der den Weg eines Autors viele Jahre hindurch begleitet hat, für dessen Niederlagen mit­verantwortlich. Und insgeheim glaubt er, auch an dessen Siegen und Triumphen einen winzigen Anteil zu haben. Dies ist oft, zugegeben, nur eine Einbildung, eine Illusion. Aber manch ein Kritiker kann und will sich ein Leben lang von dieser Illusion nicht trennen: Er braucht sie, um seinen Beruf weiterhin ausüben zu können.

Denn entgegen der zumal in Deutschland verbreiteten Ansicht, die Kritiker seien allesamt üble Querulanten, permanente Spielverderber und ekelhafte Parasiten, gilt nach wie vor Moritz Heimanns treuherzig anmutende These: „Kritik ist nur darauf aus, daß das Gute geschaffen werde“. So bereitet uns Kritikern nichts eine größere Genugtuung als die dunkle Hoffnung, es sei uns gelungen, zu einem Stück Literatur beizutragen.

Wie auch immer: Martin Walsers Novelle „Ein fliehen­des Pferd“, die wir ab heute in der F.A.Z. drucken, halte ich für sein reifstes, sein schönstes und bestes Buch. Diese Geschichte zweier Ehepaare ist ein Glanzstück deutscher Prosa dieser Jahre, in dem sich Martin Walser als Meister der Beobachtung und der Psychologie, als Virtuose der Sprache bewährt.

Es versteht sich, dass diese begeisterte Zustimmung der ausführlichen Begründung bedarf. Sie soll unserem Leser nicht vorenthalten werden. Doch ist es wohl richtiger, die kritische Auseinandersetzung mit dem „Fliehenden Pferd“ erst nach dem Abdruck dieser Novelle in der F.A.Z. zu veröffentlichen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien in der F.A.Z. vom 24. Januar 1978 und leitete den Vorabdruck der Novelle in Fortsetzungen ein. Wir danken Marcel Reich-Ranicki für die Erlaubnis zur Nachpublikation.