Martin Walsers Kampf mit Reich-Ranicki

Anmerkung zu einer wechselhaften Beziehungsgeschichte

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Walser ist ein Meister in der Darstellung narzisstischer Kränkungen. Alle seine Protagonisten, bis hin zu Goethe in dem Roman „Ein liebender Mann“, leiden unter ihnen in einem geradezu pathologischen Ausmaß. Sie sind in Konkurrenzkämpfen und Machthierarchien geschädigte Figuren, die es mit ihrer Umwelt und sich selbst nicht leicht haben. Wie Walser die individual- und sozialpsychologischen Mechanismen, nach denen seine Figuren denken und fühlen, durchschaut, könnte zunächst vermuten lassen, dass er selbst sich von diesen Mechanismen befreien konnte. Wie sehr die Verletzlichkeit seiner Figuren der eigenen entspricht, zeigt jedoch einmal mehr der dritte Band seiner Tagebücher. Sie umfassen die Jahre 1974 bis 1978 und sind in diesem Frühjahr unter dem Titel „Leben und Schreiben“ erschienen.

Zur Groteske wird in diesen Aufzeichnungen Walsers Leiden an der Literaturkritik, vor allem an Reich-Ranicki, aber auch an anderen prominenten Rezensenten. Reich-Ranicki hatte im März 1976 seinen Roman „Jenseits der Liebe“ verrissen (siehe die Nachpublikation der Rezension in dieser Ausgabe). Walser erhält schon einen Tag vorher von seinem Verleger Siegfried Unseld eine Ankündigung dieser Rezension, will sie dann zunächst gar nicht lesen und fühlt sich schließlich von der Kritik wie vernichtet. Unseld warnt ihn, auf die Rezension zu antworten. „Er begründet das hauptsächlich damit, dass der Autor nur komisch wirke, wenn er zeige, wie sehr ihn eine Kritik getroffen habe.“ Noch Walsers Tagebuchaufzeichnungen zeigen, dass Unseld Recht hatte. Walser offenbart seine Verletzlichkeit hier in einer Art, die in der Tat komische Qualitäten hat. In einer Gesellschaft von Literaten ist er erstaunt, dass nicht nur über diese Rezension geredet wird. „Ich höre und finde es komisch, dass über etwas anderes gesprochen wird als über meinen FAZ-Kummer. Sie lachen öfter über irgend etwas. Sie bemerken nicht, dass sie auf einer Beerdigung sind.“ Mit „Beerdigung“ ist die eigene gemeint. Reich Ranicki hat ihn gleichsam getötet. Als Joachim Kaiser eine freundlichere Rezension veröffentlicht, zeigt sich Walser noch unglücklicher, findet „Joachim Kaiser noch gemeiner als R-R“. Er werde Reich Ranicki erzählen, „wie angenehm er ist, verglichen mit Joachim Kaiser.“ Am 6.5. notiert Walser, dass „Jenseits der Liebe“ im Mai auf Platz 1 der SWF-Kritikerliste stehe. Das kann ihn jedoch kaum darüber trösten, dass ihm seine Lesung am vorangehenden Tag misslungen scheint. Am 28.6. beschwerte er sich in seinem Tagebuch, dass „Jenseits der Liebe“ wieder nur auf Platz 10 der Spiegel-Bestsellerliste stehe.

1978 erscheint Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“. Reich Ranicki lobt sie enthusiastisch (siehe die Nachpublikationen hier und hier). Walser bleibt gekränkt. „Man liest einen Verriss langsamer, gründlicher als ein Lob. Ein Lob überfliegt man. Wer also als Kritiker gründlich gelesen werden will, der muss verreißen. Aber ich glaube, das braucht man den Kollegen- Kritikern nicht zu sagen, das wissen sie selber.“

Am 14. Oktober 1978 erschien in der F.A.Z. Martin Walsers Erzählung „Selbstportrait als Kriminalroman“. Reich-Ranicki nahm sie später in seinen Kanon deutscher Erzählungen auf. Der Schriftsteller stellt sich hier als einen Verbrecher und seinen Kritiker als Kommissar dar. Der Verbrecher leidet unter dem Kommissar, doch noch mehr leidet er unter der Möglichkeit, der Kommissar könnte ihn mangels Interesse nicht mehr verfolgen. Kulminationspunkt von Walsers literarischer Auseinandersetzung mit Reich-Ranicki war der 2002 erschienene Roman „Der Tod eines Kritikers“. Er verursachte, noch vor seiner Veröffentlichung, einen Skandal. Der Autor hatte ihn prognostiziert und bei seiner Inszenierung selbst kräftig mitgewirkt. Ein Starkritiker verschwindet; unter Mordverdacht steht jener Autor, dessen Werk er am Abend zuvor im Fernsehen disqualifiziert hatte. André Ehrl-König, so der schon in dem Roman „Ohne einander“ erfundene Name des Großkritikers, in dessen Armen, so suggeriert er, die Autoren zugrunde gehen wie das Kind in Goethes Ballade, ist wie sein reales Vorbild ein Jude. Ob die in der Sprache des Hasses geschriebene Darstellung dieses so macht- wie sexbesessenen Monsters antisemitische Klischees bedient, darüber ist heftig debattiert und viel geschrieben worden (siehe literaturkritik.de 6/2002). Der Roman ist zu gewitzt und geschickt konstruiert, als dass er es zuließe, dem Autor Antisemitismus zu unterstellen. Der Mord, so erweist sich am Ende des Romans, hat gar nicht stattgefunden, doch die Wut, mit der hier die Person des Kritikers im Medium diverser Romanfiguren denunziert wird, hat alle Qualitäten eines Rufmordes.

Seither blieben alle Versuche, den Autor und seinen Kritiker zu einem versöhnlichen Gespräch zu bewegen, vergeblich. Schön, dass sich beide in hohem Alter etwas von ihrer Kindlichkeit bewahrt haben. Schade, dass die beiden wohl nicht mehr zusammenkommen werden.

Titelbild

Martin Walser: Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010.
656 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498073695

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