Gebrochene Biografie

Manfred Flügge hat das Leben Heinrich Manns vor dem Hintergrund eines atemberaubenden geschichtlichen Panoramas nacherzählt

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Manns gehören nicht zuletzt seit Heinrich Breloers Fernseherfolg „Die Manns – ein Jahrhundertroman“ zu den berühmtesten Schriftstellerfamilien des 20. Jahrhunderts. In der Bugwelle der Ausstrahlung des Bio-Pics im Jahr 2001 eröffnete sich auf dem Sachbuchmarkt ein lukratives Segment, in dem viele Familienmitglieder ihre Würdigung fanden: die Mann-Biografien. Auch Heinrich Mann profitierte von diesem Publikumsinteresse. Nach einer eher enttäuschenden Lebensbeschreibung von Stefan Ringel im Darmstädter Primus-Verlag, die kaum Sekundärliteratur zur Kenntnis genommen hatte, die Archive schon gar nicht, hat der ausgewiesene Frankreich- und Exil-Experte Manfred Flügge im Jahr 2006 eine informative, gut recherchierte und auf dem neuesten Stand der Quellen argumentierende Biografie vorgelegt. Da das Interesse an der Familie Mann langsam abflaut und Heinrich Mann eher zu den sperrigeren Mitgliedern der Sippe gehört, wird es wohl für längere Zeit keine Biografie mehr geben – die letzte wird es hoffentlich nicht sein.

Es ist eine gebrochene Biografie. Zugleich ist ein Versuch, Heinrich Mann als letzten Romantiker und damit poetisch auch eher von der Fantastik und nicht von der Realistik her zu fassen. Dies sind die großen konzeptuellen Entwürfe, die Heinrich Mann neu lesbar machen und dazu animieren, mehr Verständnis für den 1871 geboren und 1950 im amerikanischen Exil gestorbenen Lübecker Dichter aufzubringen. In den knapp 79 Lebensjahren lebte Heinrich Mann mehrere Leben und durchlebte, so Flügge, zwei ästhetische Paradigmenwechsel. Bei genauerer Hinsicht war es jedoch nur einer: Nach einer konservativ-reaktionären Phase in den Jahren zwischen 1894 und 1896 bekannte sich Heinrich Mann zur Demokratie und fand – nach Überwindung des Ästhetizismus – zu einer sehr individuellen Form des magischen Realismus, der ihn in unterschiedlicher Ausprägung sein Leben lang begleitete und von vielen seiner Zeitgenossen nicht verstanden, von seinem Bruder im amerikanischen Exil sogar als „Greisenavantgardismus“ beschimpft wurde. Dass die Geschichte Heinrichs nicht ohne die seines Bruders, und umgekehrt, zu schreiben ist, berücksichtigt Flügge ebenfalls in wohltuender Dosierung.

Aus dem Vollen schöpft der Frankreichkenner dann für die Zeit nach 1933. Heinrich Mann hatte Deutschland verlassen – die Vorgeschichte des engagierten Essayisten und Republikaners ist etwas knapper dimensioniert – war zunächst nach Frankreich gegangen, sympathisierte dort mit den Kommunisten, um dann schließlich 1940 über die Pyränen nach Amerika zu gehen. Flügge wertet gerade für die Zeit in Frankreich neues Archivmaterial aus – wie er übrigens alle erreichbaren auch jüngeren Archivfunde verarbeitet – und zieht aufschlussreiche Verbindungen zu anderen Exilanten. Hier entsteht ein neues, komplexeres Bild Heinrich Manns, das nicht nur den frankophilen, europäisch denkenden Autor der Henri-Quatre-Romane plastisch hervorhebt, sondern auch den suchenden und gelegentlich – wie so viele seiner Zeit – irrenden Intellektuellen beschreibt. Die Beschreibung der Zeit in Amerika steht leider – wie bei so vielen Heinrich Mann-Biografen – unter einer von der späteren Rezeption des Scheiterns bestimmten Teleologie. Der Stern seines Bruders leuchtet natürlich in den USA ungleich stärker, er hat mehr Publikumserfolg, steckt seinem von kommunistischen Gelegenheitszahlern abhängigen Bruder, der zudem noch unter FBI-Aufsicht steht, gelegentlich einen Scheck zu und ärgert sich über das unstandesgemäße Verhalten von Nelly Kroeger, Heinrich Manns zweiter Frau. Gerade das amerikanische Exilwerk wartet immer noch auf eine angemessene und faire Bewertung.

Natürlich kommt auch das Privatleben Heinrich Manns nicht zu kurz. Auch wenn er keine exhibitionistischen Tagebücher geführt hat – dafür war in der Familie sein jüngerer Bruder Thomas zuständig – und er nach eigenem Bekunden sein Leben in seine Romane eingearbeitet hat, war er als öffentliche Person – mindestens in der Familie – ständigen Beobachtungen und Kommentaren ausgesetzt. Mit seiner nach außen getragenen hanseatischen Bürgerlichkeit verband Heinrich Mann ein sehr individuelles, im wahrsten Sinne des Wortes lustbetontes Leben. Hier – wie in vielen anderen Facetten – kommt die Charakterisierung Flügges einer gebrochenen Biografie zum Tragen.

In Flügges Biografie kann man Heinrich Mann vor dem Hintergrund eines atemberaubenden zeitgeschichtlichen Panoramas neu entdecken und verstehen – gelegentlich hätte man sich etwas mehr Empathie und Sympathie mit dem Autor gewünscht. Flügges Buch ist trotzdem ein weiterer Schritt, fernab einer Fortschreibung der Mythen einer Familiensaga, dem älteren Bruder Heinrich Mann, seinem Werk, aber auch seinem Leben den adäquaten Platz in der Literatur- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zuzuweisen.

Titelbild

Manfred Flügge: Heinrich Mann. Eine Biographie.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2006.
510 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3498020897

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