Das Paradies ist auch nicht nebenan

Yael Hedaya zeichnet in ihrem Roman „Eden“ das Psychogramm einer modernen israelischen Stadt

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tel Aviv gilt als die säkularste Stadt Israels. Sie ist jung, modern und pulsierend. Ehemalige Dörfer in ihrem Umland sind zu angesagten Vororten für Yuppies und Intellektuelle geworden, in denen es sich verhältnismäßig sicher vor Anschlägen leben lässt. Einen solchen Vorort hat Yael Hedaya als Bühne für ihr einfühlsames Psychogramm der modernen israelischen Gesellschaft gewählt und ihm in der Tradition der Gründungsphase des Staates Israel einen hochklingenden, auratischen Namen gegeben: „Eden“.

Hedaya interessiert sich in ihren Romanen vor allem für zwischenmenschliche Beziehungen, für ihre Spielarten, ihre Grenzen und ihre verschiedenen Perspektiven. In der relativen Abgeschlossenheit von Eden nimmt sie abwechselnd den Alltag von acht Menschen in den Blick, die alle direkt oder indirekt etwas miteinander zu tun haben. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen die Lektorin Alona und Ronny, die 16-jährige Tochter von Alonas Ehemann Mark aus dessen erster Ehe. Alona und Mark haben zusammen zwei kleine Kinder und leben seit zwei Jahren getrennt, sind aber beste Freunde. Ronny findet in dem jungen Schriftsteller Uri, dessen Werk Alona betreut, ihre erste große Liebe. Als Uri sie abserviert, lässt sie sich aus Neugier und Verzweiflung auf den 42-jährigen Anwalt Eli ein. Eli wiederum sucht in diesem Abenteuer ein Ventil für den Druck, der durch die vielen Versuche entstanden ist, mit seiner Frau auf medizintechnischem Weg ein Kind zu bekommen. So verschränkt sich das Leben eines Menschen mit dem eines anderen, ohne dass die Einsamkeit je wirklich verschwinden würde.

Es ist Hedayas große Stärke, sich vollkommen glaubwürdig in die verschiedenen Charaktere hineinversetzen zu können. Die Auseinandersetzungen der 78-jährigen Großmutter mit ihrer zunehmenden Gebrechlichkeit wirken ebenso authentisch wie der ständige Kampf Alonas mit der Überforderung durch ihre beiden Kinder, die sie innig liebt, die ihr aber auch den letzten Nerv rauben, wenn sie sie Nacht für Nacht aus dem Schlaf reißen oder beim Frühstück in unbändiges Geschrei ausbrechen, weil es keine Schokokissen gibt. Gegen Ende des Buches offenbart der dreieinhalb-jährige Ido seiner Großmutter in einer sehr anrührenden Szene ein kindliches Geheimnis, das sich subtil durch beinahe das gesamte Buch zieht und das den kleinen Kerl bis zur Verzweiflung belastet hat.

Der Alltag in Eden bietet nicht besonders viel Aufregung, und dennoch überfordert er alle Figuren auf seine Weise. Sie stoßen immer wieder an äußere und innere Grenzen, die unüberwindlich erscheinen, wie etwa den Schmerz über den Verlust eines Menschen oder die Mauer zu Palästina. Gleichzeitig sind sie mit der Aufweichung und Auflösung von gewohnten Orientierungen konfrontiert: die politischen Konturen von Rechts und Links verblassen ebenso wie die traditionellen Geschlechterrollen. Gestandene Linksintellektuelle ertappen sich etwa dabei, dass sie bei einem Einbruch reflexartig „die Araber“ verdächtigen. Die Frauen im Roman sind außerordentlich tatkräftig und durchsetzungsfähig, wogegen die Männer eher den fürsorglichen, gefühlvollen Part übernehmen und zuweilen von ihren Frauen und Töchtern dafür Verachtung ernten. Eine stete Abfolge von Alltagsbegebenheiten aus dem Leben der israelischen Mittelschicht trägt das Buch mühelos durch 700 Seiten, wenn man von Ronnys frühreif-pubertären Träumereien absieht, die hier und da etwas lang geraten sind. Und dann geschieht auf den letzten 200 Seiten doch noch etwas Erschütterndes, das alle aus ihrem Trott herausreißt.

Die 21 Kapitel des Buches richten den Fokus in unregelmäßigen Wechseln auf jeweils eine der acht Hauptpersonen, so dass einige Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden. Hedaya lässt ständig das Geschehen in den Gedankenstrom und die Erinnerungen der jeweiligen Person abgleiten. Sie beherrscht diese Technik derart gut und elegant, dass man stets genau weiß, wo man gerade ist. Hedaya verzichtet vollkommen darauf, wörtliche Rede durch Anführungszeichen oder Zeilenwechsel zu markieren, und auch der Ton ändert sich nur wenig von Figur zu Figur. Die Sprache ist so unaufgeregt wie der Alltag in Eden, manchmal etwas zu lässig. Die Häufigkeit der Wörter ‚Sex‘ und ‚ficken‘ wirkt in diesem Kontext irgendwie exotisch und die durchgängig umgangssprachlichen Schreibweisen ‚mal‘ und ‚was‘ anstelle von ‚einmal‘ und ‚etwas‘ wirken nicht locker, sondern störend. Doch das sind kleine Mäkeleien am Rande von Eden, nicht mehr als ein paar Kratzer am Gartentor.

Titelbild

Yael Hedaya: Eden.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Diogenes Verlag, Zürich 2008.
932 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066388

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