Ich schlief, als wäre ich woanders

Ulrike Almut Sandig erzählt in „Flamingos“ Geschichten, die verwundern, verstören und bis ins Zentrum der Poesie reichen.

Von Fabian ThomasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Thomas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Leben, das rückwärts aufgerollt wird. Ein Zwillingspaar, das im selben Körper geboren wurde. Eine Liebesgeschichte, die in einem versunkenen Dorf endet. Eine Schwester, die immer dünner wird und ein Vater, der langsam versteinert.

Ulrike Almut Sandig hat in ihren Gedichten, versammelt in den Bänden „Zunder“ und „Streumen“, bereits durch eine eigentümliche Beobachtungsgabe auf sich aufmerksam gemacht. Geriet der Ton in „Zunder“ zuweilen in den Grenzbereich zum Sakralen, war „Streumen“ vor allem durch eine einfache Sprachgestaltung gekennzeichnet, die den titelgebenden Ort als poetisches und geografisches Motiv umkreiste. Verknappung und lyrische Verdichtung, also das Spiel mit der Sprache, ist zweifelsohne eine Stärke dieser jungen Dichterin. Das wurde ihr durch zahlreiche Preise und Ehrungen bestätigt. In einem Interview gab sie – damals noch Studentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig – an, froh über ihre Ausdrucksform zu sein: „Wir Lyriker dort haben es noch etwas leichter, wir stehen auch nicht so unter Beobachtung wie die Prosaschreiber.“

Prosaschreiberin ist sie jetzt doch geworden. Aber wie gelingt ihr die Wandlung von der Lyrikerin zur Erzählerin? So viel steht fest: Die Erzählungen, die jetzt unter dem Titel „Flamingos“ erschienen sind, sprudeln vor Fantasie. Machte die Lyrikerin bislang vor allem durch ihre träumerische Lyrik auf sich aufmerksam, neigt die Erzählerin auf epischem Terrain zum Doppelbödigen: fast alle der elf in „Flamingos“ versammelten Geschichten haben einen Hang zur Verstörung und Widerhaken, die eine wiederholte Lektüre nötig machen. Diese Widerhaken sind indes nicht auf Launenhaftigkeit zurückzuführen. Vielmehr sind sie Ausdruck eines strukturellen Grundprinzips: der Kubaner mit den elf Zehen, der seltsame Junge, der sich aus der Dorfwelt auf die Pferdekoppel zurückzieht, die ältere Dame Dorothea Kupic, der ein drittes Auge auf der Stirn wächst – Ulrike Almut Sandigs Welt ist bevölkert von Außenseitern, buchstäblichen „Freaks“, die sich äußerlich von ihrer Umwelt unterscheiden. Dass viele der Figuren zusätzlich Kinder oder Jugendliche sind, ist ebensowenig Zufall: der undefinierte Zustand des Heranwachsenden ist voller Rätsel und bietet so den idealen Raum für die freie Entfaltung zügelloser Fantasie.

Am besten ist Sandig jedoch die letzte Geschichte des Bandes gelungen, die ohne stilprägenden Verzerrungseffekte auskommt, die stellenweise etwas zu stark ins Fantastische hinüberspielen. In „Dreitausend Blauwale“ wird eine Fahrt im Schulbus beschrieben. Die Eintönigkeit der täglich gleichen Strecke ist eine ungenügende Realität, aus der sich das erzählende Ich hinwegträumt: „[…] dann machte ich die Augen zu und dachte an nichts. Ich habe oft an nichts gedacht in diesem Bus. Es gab keinen Grund, an etwas anderes zu denken. Was hätte das auch sein sollen. Nichts. Und dann schlief ich ein, schlief, als wäre ich gar nicht da. Ich schlief, als wäre ich woanders“.

Aus diesem poetischen Kristallisationspunkt stammen Sandigs Geschichten, versammelt in einem kurzen Buch mit einigen gar nicht harmlosen Untiefen.

Titelbild

Ulrike A. Sandig: Flamingos. Geschichten.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2010.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783895611858

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