„Ein Rest Geheimnis“

Der Lyriker Norbert Hummelt und der Lektor Klaus Siblewski beleuchten die Entstehung von Gedichten

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach „Wie Romane entstehen“ (zusammen mit Hanns-Josef Ortheil) hat der Verlagslektor Klaus Siblewski nun, gemeinsam mit dem Lyriker Norbert Hummelt, in der Sammlung Luchterhand das Bändchen „Wie Gedichte entstehen“ publiziert. Die Entstehung von Gedichten wird hier gleich doppelt beleuchtet: aus der Sicht des Lyrikers und aus der Sicht des Lektors. Beschrieben wird, wie aus einem Einfall ein Gedicht und aus vielen Gedichten ein Buch wird.

Der Band ist klar strukturiert und benutzerfreundlich konzipiert: Auf ein gemeinsames Vorwort folgen im ersten Teil Norbert Hummelts Ausführungen, im zweiten Teil Klaus Siblewskis Überlegungen zu den Themenkomplexen „Einfall“ – „Gedicht“ und „Gedichtband“. „Wie Gedichte entstehen“ ist der vierte Band der von Hanns-Josef Ortheil herausgegebenen Reihe „Ästhetik des Schreibens“ und definiert damit den poetologischen Ort und Status des vorliegenden Textes.

Gedichte, so Hummelt und Siblewski im Vorwort, stehen am Anfang aller Literatur – ihr Ursprung liegt bekanntlich im Ritus, und bis heute ist ihnen ihr Hervorgehen aus Gesängen und Zauberformeln anzumerken. Die Frage nach der Entstehung von Gedichten, so die Autoren, sei bisher „merkwürdig unterbelichtet“ geblieben (eine nicht ganz zutreffende Beobachtung, man denke nur an die Reihe „Vom Schreiben“ des Marbacher Magazins oder auch an die Frankfurter Poetik-Vorlesungen), was daran liegen könne, dass es zwei sehr unterschiedliche Grundannahmen gebe, die sich kaum miteinander vertragen: Einerseits die so genannte „Genie-Ästhetik“, die das Gedicht als rätselhaften Wurf ansehe, dem man sich nicht mit analytischen Fragen nahen dürfe; andererseits die Vorstellung, dass alle Kunst sich auf (kalkuliert eingesetztes) Handwerk zurückführen lasse. Beide Annahmen greifen aber, so die Autoren, zu kurz, und so fehle es bis heute an einer grundsätzlichen und zugleich praxisnahen Darstellung und Reflexion des Vorgangs der Gedichtentstehung – eine Lücke, die „Wie Gedichte entstehen“ schließen soll.

Seinen Gedanken zur Entstehung von Gedichten stellt Norbert Hummelt einen Vers aus Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“ voran: „Er ging langsam und sinnend seine Straße, / denn er musste ja einen Vers ersinnen“. In „Der Einfall“ beleuchtet der Lyriker Ursprünge, Theorien der Eingebung sowie Wege zum Gedicht. Eines wisse er merkwürdigerweise immer: wann und wo ihm der Einfall zu einem Gedicht gekommen sei. Vielleicht präge es sich deshalb so gut ein, weil ihm Einfälle nie am Schreibtisch kämen, sondern unterwegs.

Es seien, so Hummelt, vor allem einschneidende biografische Ereignisse, die ihn zum lyrischen Schreiben brächten, wie zum Beispiel der Tod seines Vaters: „Manchmal denke ich, dass ich gar nicht auf das Schreiben von Gedichten verfallen wäre, wenn er länger gelebt hätte, aber das ist, wie jede Vermutung über die Gründe des Schreibens, reine Spekulation.“ Ganz sicher aber habe der Tod des Vaters wie auch der Umstand, dass er diesen bis heute vermisse, sein Verständnis dessen geformt, was ein Gedicht können sollte: „Es soll das Abgesunkene und das Vergangene, das weit Entfernte und das Verlorene wieder heranholen und gegenwärtig machen, in den sinnlichen Formen von Bild und Klang.“ Es solle auch das immer nur im Augenblick Gegenwärtige, die Menschen und die Dinge, die Luft und das Licht, Gedanken und Gefühle in Worte verwandeln und sie so im Bewusstsein dauerhaft anwesend halten, „wenn auch hinter der Glasscheibe der Sprache, wenn auch nur für die Dauer des Gedichts“.

Der Einfall, der zum Schreiben eines Gedichts führt, wird von Hummelt als „Gnadengabe“ und „Eingebung“ erlebt. Dieses Unplanbare ist verknüpft mit dem Gefühl des Glücks des Dichtens, das Flüchtiges in eine Form bannt, die alles nicht in ihr Erfasste ausschließt. Je heftiger aber man nach der Muse verlange, um so mehr entziehe sie sich: „um ein gedicht zu machen / habe ich nichts // eine ganze sprache / ein ganzes leben / ein ganzes denken / ein ganzes erinnern // um ein gedicht zu machen / habe ich nichts“ – Ernst Jandl beschreibt hier, welche Ausmaße die Not des Wartens auf den Einfall annehmen kann. Das Gedicht überkommt den Dichter ohne jede Vorwarnung. Ohne den Einfall geht nichts, und bleibt er aus, ist der Lyriker zur Untätigkeit verdammt.

Zugleich: wird ein Gedicht gemacht – „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten; ein Gedicht wird gemacht“ (Gottfried Benn). Das Machen des Gedichts ist der Schritt von der Plötzlichkeit des Einfalls zur Bewusstheit der Konstruktion: „Irgendetwas in Ihnen schleudert ein paar Verse hervor, irgendetwas anderes in Ihnen nimmt diese Verse sofort in die Hand, legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie, sucht nach pathologischen Stellen. Ist das erste vielleicht naiv, ist das zweite etwas ganz anderes: raffiniert und skeptisch“.

In seinen Darlegungen zu den „Theorien der Eingebung“ nimmt Hummelt neben Jandl und Benn auch Bezug auf Platon, Rilke und Hölderlin, auf Poe, T. S. Eliot und John Keats; in diesen ideengeschichtlichen Rekursen erhält seine eigene kleine Poetologie des Gedichts Kontur. Pragmatischere und unmittelbarere Konturen gewinnt die Poetologie in der Beschreibung der autobiografischen „Wege zum Gedicht“, wobei auch Schule und Studium Berücksichtigung finden. Den eigentlichen Anfang seines Schreibens stellt jedoch die Kölner Autorenwerkstatt dar, in der er sein Gedicht „frühling im hyde park“ vortrug. Im Jahr 1986 schließlich war es auch, als er bei einem Literaturwettbewerb in Düsseldorf den Lyriker Thomas Kling kennenlernte, der Gedichte vortrug, wie Hummelt sie noch nie gehört hatte: „Sie waren aus lauter Bruchstücken zusammengesetzt, sie brachen die Wörter und Sätze auf und brachten alle Ebenen des Wörterbuchs bis zum schrillsten Jargon in Bewegung“. Die Erkenntnis, die Hummelt aus der Begegnung mit Kling gewann, war die, dass es nicht ausreiche, den eigenen Weg zu Gedichten zu finden – sie sollten zugleich das lyrische Genre erneuern, „und diese Gedichte mussten durchgesetzt werden gegen jede herrschende Konvention“.

Im zweiten Teil seiner poetischen Betrachtungen beleuchtet Hummelt den „ersten Vers“, das Aufschreiben, Schreibgeräte und Korrekturen, das Schriftbild, das „Ausgraben“, Stil und Lektorat, Zitate und Lektüren sowie die „Vollendung“. Der erste Vers enthalte das Webmuster des ungeknüpften Teppichs, er sei die erste Phrase einer neuen Melodie, der Kern einer kurzen Erzählung, und er sei genau diese drei Dinge auf einmal: „Denn das Gedicht ist immer zugleich sichtbares Gewebe, hörbares Gebilde und Aussage über die Welt. Keiner dieser Aspekte darf vernachlässigt werden, alle drei sind in gleicher Weise unabdingbar und bedeutend“. Immer wieder durchmessen, so Hummelt, Gedichte die Entfernungen zwischen den sinnlich erfahrbaren Dingen und dem einsamen Standpunkt des Bewusstseins neu, bald kämen sie näher an die Dinge heran, bald kreisen sie enger ums Ich. Gedichte hätten immer wieder Anteil an beiden Polen, seien nie ganz solipsistisch und nie ganz real. Bei der Entstehung von Gedichten bleibe immer ein Rest Geheimnis.

Im letzten Teil seiner Reflexionen finden sich Ausführungen zu den Aspekten Debüt, Komposition, Gesamtkunstwerk, Ankommen, Lesungen, Weitermachen, Ende und Anfang sowie ein Epilog. Im Schreiben, resümiert Hummelt, habe man keine Wahl: Es fange an, wenn es anfange, und höre auf, wenn es aufhöre. Je länger er geschrieben habe, desto bestimmter hätten ihn die Motive ausgesucht. Seine Gedichte seien stoffreicher und welthaltiger geworden. Mit einem Mal sei es nur noch das Schreiben gewesen, in dem etwas weiterging, während sich in seinem Leben alles geändert habe: „Mit den neuen Gedichten, die ich jetzt schrieb, war ich mir seltsam dicht auf den Fersen […]. Mir kam es so vor, als wüssten die Gedichte besser als ich, wo ich mich befand, nur wo ich am Ende dieses Schreibens sein würde, ließen sie sich nicht entlocken“.

Einblicke in die Arbeit mit Autoren gibt Klaus Siblewski im zweiten Teil von „Wie Gedichte entstehen“. Das Verhältnis von Autor und Lektor verändere sich, habe seinen ganz eigenen Verlauf, seine Geschichte, wie das Schreiben auch, und nachdem die Arbeiten an einem Gedichtband beendet seien, trete auch die Beziehung zwischen Lyriker und Lektor in eine neue Phase ein.

In seinen Darlegungen beleuchtet Siblewski sowohl innere als auch äußere Schreib-Räume von Autoren, für die Textentstehung notwendige Formen der Distanzierung und des Rückzugs. Viele Autoren müssten erst einmal eine große Entfernung zwischen sich und die Ereignisse legen, „bindungsärmere Räume“ aufsuchen, bevor sie an eine Niederschrift eines neuen Gedichts denken könnten. Unterschiedliche Rückzüge eröffneten dabei jeweils andere innere Schreibräume und begünstigten verschiedene Umgangsformen mit dem poetischen Material. Der primäre Impuls der Autoren sei es zu schreiben – und das bedeute, in ihre poetischen Welten abtauchen zu können. Sie hätten, solange sie schrieben, eine Art von „literarischem Tunnelblick“: „Es ist ihnen nur um das Lösen ihrer konkreten Schreibaufgaben zu tun und um sonst nichts“.

Angemessene Ausdrucksformen zu finden und diese nachzuvollziehen stelle auch den Lektor vor eine Herausforderung. Die Texte führten ihn häufig in „die dunklen Zonen“ der Poesie, dort, wo sie sich der Alltagslogik entzögen und die Lektoren es mit verstellten Bildern und mit Wendungen zu tun bekämen, die sich der Verstehbarkeit verschlössen: „Was nun verstiegen ist oder banal oder auf eine schlechte Weise dunkel und was literarisch vertretbar und gedeckt, darüber müssen sie im Einzelnen nachdenken und zu Entscheidungen finden – auch über den Graben geheimnisvoller Wendungen hinweg“.

Lyriker nähmen, so Siblewski, das Moment der Unkalkulierbarkeit ihrer Produktion besonders stark wahr; sie könnten den Zeitpunkt, die Häufigkeit und die Qualität von Einfällen selbst nicht steuern und nicht einmal in Ansätzen beeinflussen. Sie fühlten sich Kräften ausgesetzt, die ihnen nicht zu Gebote stünden, und die Abhängigkeit von etwas Unberechenbarem spürten sie besonders heftig. „Etwas Dunkles“ spiele beim Schreiben von Gedichten eine Rolle, es würden Gesetzmäßigkeiten berührt, die in den Tiefen der Menschheitsgeschichte lagerten, die zum frühen Bestand der (europäischen) Geschichte gehörten. Wer Gedichte schreibe, genieße das hohe Privileg, sich mit Formen zu befassen, die „in unserer frühen Geschichte ausgebilden (sic!) wurden“. Siblewski glaubt, eine „Urangst“ erkennen zu können, die Lyriker mehr als andere Schriftsteller spürten und die mit der Ungewissheit zu tun habe, wie sie ihr Schreiben weiterführen könnten.

Das Leichtfüßig-Frische, Geschmeidige, das sich in Form und Inhalt, in Stil und Gedanken der Hummelt’schen Reflexionen findet, setzt sich in den Darlegungen Siblewskis leider nicht fort, weshalb die beiden Teile des Buches auseinander zu fallen scheinen. Siblewskis Betrachtungen wirken an einigen Stellen hölzern und statisch, an anderen redundant, belehrend („Enzensberger will damit sagen“) und klischeehaft, das Poetische überhöhend („Etwas Dunkles spielt beim Schreiben von Gedichten eine Rolle“; „fremde Einflüsse und Einflüsterungen“). Auch die von ihm entwickelten, an Haltung sowie Form beziehungsweise Genre orientierten Autoren-Typologien (genialischer, pseudogenialischer, auskunftsverweigernder, schweigender, realistischer, semirealistischer, angepasster Lyriker sowie Epiker, der gelegentlich auch Gedichte schreibt; Lyriker, die in Institutionen arbeiten et cetera) vermögen nicht zu überzeugen und haben nur wenig Erkenntniswert, keine poetologisch relevante Dimension. Auffällig ist außerdem die markante Abwesenheit von Lyrikerinnen in seiner Autorentypologie.

Bezöge man seinen Anspruch: „Wenn sprachtechnische Fehler, inkonsequente Orthographie und unsichere Grammatik […] auftauchen und kein zentrales Merkmal der Komposition sind, diese Verstöße also keinen ästhetisch starken Grund haben, dann sollte der Lektor diese Texte besser aus der Hand legen und sich mit ihnen nicht weiter befassen“ auf seinen eigenen Text, so wäre dies sicher nicht von Vorteil – es finden sich zahlreiche Auffälligkeiten („Ganz zu schweigen davon, dass auch Lob verkraftet sein wollen“; „Sie müssen sich einem Geschehen überlassen, dessen Kräfte außerhalb ihrer Kontrolle liegt“; „Sie richten sich nämlich auf diese Tätigkeit ein“; „Er muss erst einmal eine große Entfernung zwischen sich und den Ereignissen […] legen“; „dann handelt es sich um einen ausgesprochen fiebriger Vorgang“ und so weiter). Hier hätte man sich ein aufmerksameres Lektorat gewünscht. Abstrahiert man von diesen ärgerlichen Mängeln, stellt die Lektüre von „Wie Gedichte entstehen“, vor allem in Gestalt des Hummelt’schen Textes, eine Bereicherung dar.

Titelbild

Norbert Hummelt / Klaus Siblewski: Wie Gedichte entstehen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009.
270 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783630621661

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch