Ein transzendentales „Ich“?

Über David Foster Wallaces „Kurze Interviews mit fiesen Männern“

Von Alexander WeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Weil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Prinzip der Interviews ist einfach: Statt einer Frage heisst es „F.“, oder „F.F.“ Was gefragt wird, bleibt unklar. Über die Fragesteller lässt sich aus den Antworten so gut wie nichts entnehmen; hin und wieder, ob sie männlich oder weiblich sind. Manchmal überfällt den Leser das Gefühl, er selbst sei es, der hier Antworten auf seine nie gestellte Fragen erhält, dann wieder scheint die Stimme des Fragestellers durch ein physikalisches Phänomen unterdrückt zu sein; als würde er mit dem Rücken zum Leser sprechen, oder, unverständlich für den Leser, vom anderen Ende einer Telefonverbindung aus.

F.

„Nein, aber ich habe den Eindruck, es läuft immer nach demselben Muster ab. Denn sobald ich dich, wenn ich das mal so sagen darf, habe, ist es, als wäre ich von meiner ganzen Ausrichtung her nicht mehr in der Lage, mehr zu geben als das und mein Engagement längerfristig…wie soll ich sagen…?“

F.

„Genau, das ist das Wort. Obwohl ich sagen muss, dass es mich schon sehr betroffen macht, die Art, wie du das jetzt sagst. […]“

Der Originaltitel des 1999 erschienenen Buches von David Foster Wallace lautet: „Brief Interviews With Hideous Men“; und „hideous“ bedeutet „fies“, „hässlich“, „grässlich“, „abscheulich“, „fratzenhaft“.

Wechselhaft wie die Konnotationen des Wortes sind auch die Figuren dieser, wie es im Untertitel heißt, „Storys“.

In Interview Nr. 40 erzählt ein Einarmiger von seiner Masche, Frauen mit seinem Armstumpf rumzukriegen. Das Wort „Stumpf“ taucht nicht auf, er nennt ihn „Arm“, „kleinen Scheißer“, „Geheimwaffe“; in Interview Nr. 2 beichtet ein selbstherrlicher Erzähler seine Seitensprünge („Ich kann loslassen, aber nicht festhalten.“); in Interview Nr. 42 stilisiert einer seinen Vater zur Ikone des Klomanns („Die edlen Kabinentüren enden ein Fuß über dem Boden – warum nur? Warum das Beharren auf dieser Tradition? Hat ein Stall für Tiere hier Pate gestanden?“).

Die Präzision, mit der Wallace den Realismus seiner Geschichten in die Satire treibt, ist von überbordendem Erfindungsreichtum. Das zugrundeliegende Prinzip, Menschen einem „sprachlosen“ Gegenüber wortreich Rede und Antwort stehen zu lassen, ist an sich schon komisch; in „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ wird aber auch komisch geschwiegen.

In der Erzählung „Der Tod ist nicht das Ende“ sitzt ein Lyriker und Nobelpreisträger an seinem Pool und schweigt. Dem Dichter, „den gleich zwei Generationen als ‚ihre’ Stimme für sich in Anspruch nehmen“, wird nicht der Anflug eines Gedanken untergeschoben und nicht ein einziges Wort in den Mund gelegt, stattdessen sehen wir ihm über vier kurzweilige Seiten beim Zeitungdurchblättern zu.

Irgendjemand in „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ schweigt immer. Man könnte auch sagen: ein großer Lyriker, nicht bei der Arbeit und alleine mit sich, denkt nicht einmal.

„Für immer ganz oben“ beginnt mit den Worten: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Dein dreizehnter. Der dreizehnte ist wichtig, vielleicht der erste Tag an dem du öffentlich in Erscheinung trittst, heraustrittst ins Leben.“

Es folgt ein über vierzehn Seiten beschriebener Sprung vom Sprungbrett eines Freibads. Der Junge, der hier angesprochen wird, antwortet nichts, sagt nichts, denkt nichts, fühlt nichts, existiert als reine Zuschreibung und ist als Zuschreibung doch so überzeichnet real, wie ein dreizehnjähriger Junge auf seinem Weg zum Sprung vom Sprungbrett nur sein kann, wenn eine Erzählerstimme ihm zuruft: „Klettere nach oben und tu es.“

Die titelgebende Serie „Interviews mit fiesen Männern“ macht etwa die Hälfte des Buches aus. Außerdem gibt es einige Kurzgeschichten, wie die beiden soeben genannten Eingangsgeschichten, es gibt die kleine Serie „Ein weiteres Beispiel für die Durchlässigkeit gewisser Grenzen“, sowie einige Miniaturen und ein Pop-Quiz, „Oktett“, mit Fragen wie: „Zwei final schwerst Abhängige kauerten an einer Mauer in einer Seitenstrasse und hatten weder Stoff noch Geld noch einen Ort, wohin sie hätten gehen können.[….]“ „So verbrachten sie gemeinsam die Nacht an der Mauer. Frage: Welcher von beiden hat überlebt?“

Und es gibt zwei Texte, in denen alles Erzählerische beinahe bis zur Unkenntlichkeit durch ihren Jargon entstellt ist. Einer der beiden, „Datum Centurio“ beginnt mit den Worten:

date3n. < 20C-Englisch, von mittelengl., lt.franz.,mittellat.,fem. part.praet. von lat.dare, geben.<“ und endet nach fünf Seiten mit: „(– TECHNOSEXUELLE PARADOXIE,– DOGMEN, PERVERSE RÜCKKEHR DES KATHOLISCHEN)“.

Wie ein Hinweis verrät, handelt es sich um einen Auszug aus „Leckie&Webster´s Lexikon der Geschlechterrollen-Konnotationen“ aus dem Jahr 2096 zum Begriff „date“.

Dem Wortungetüm ist unter anderem zu entnehmen, was „date“ in der Alltagssprache des Jahres 2096 bedeutet: „Sie sind bei weitem zu alt der Typ Mann zu sein, der sein Replicase-Level vor dem Frühstück checkt und High-Baud-Makro“ und so weiter und so fort, während „date“ als: „(a) soziale Kontakte mit einem (oder mehreren) Mitglied(ern) des entgegengesetzten Geschlechts“ nur noch im Hinweis auf eine ältere Ausgabe („Webster´s Bd. VI, 1999, ROM/Print“) aufgeführt ist.

Wallace hatte Literatur und Philosophie studiert und eine preisgekrönte Arbeit zur Modallogik geschrieben. Modallogik unterscheidet nicht nur zwischen „richtigen“ und „falschen“ Aussagen, sondern auch zwischen „möglichen“ und „notwendigen“. Eine Aussage ist möglich, wenn sie in einer möglichen Welt wahr ist und notwendig, wenn sie in allen möglichen Welten wahr ist. Schwarze Schwäne mag es irgendwo geben. Ein Kreis hat in keiner Welt Ecken.

In Interview Nr. 48 meldet sich ein Mann zu Wort, der es darauf angelegt hat, Frauen beim dritten Treffen zu fragen: „Hättest du Lust, dich von mir fesseln zu lassen?“ Der Mann nennt das: „die Einleitung eines kontraktuellen Szenarios“; es geht darum „eine in freier Vereinbarung getroffene Entschließung zur Freizeitgestaltung“ herbeizuführen.

Wallace lässt seine Protagonisten in „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ Szenarien durchspielen. Sie verknüpfen eine Ausgangssituation solange mit ihren Einschätzungen und Meinungen und klopfen sie auf mögliche und wahrscheinliche Entwicklungen hin ab, dass sie sich zu einem Szenario-Trichter weiten, durch den die Stimme des Erzählers spricht.

Umgangssprachliche Wendungen legen nahe, dass es ein hörendes Gegenüber ist, an das sie sich richten. Gedankensprünge und Assoziationen lassen erkennen, dass sie lebhaft und aus dem Stegreif sprechen. Das „Du“, an das sie sich wenden, könnte auch ein „man“ sein, oder ein völlig interesseloses Subjekt, ein transzendentales „Ich“, eine Erfindung von Philosophen, das sich im Dienste des Szenarios jeder Einflussnahme enthält. In jedem Fall ist es ein „Du“, das sich, stumm und gesichtslos, auf der Erzählebene einem wirklichen Dialog entzieht. Während Wallace in seinen übrigen Erzählsammlungen und Romanen Handlungen entwickelt, finden in „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ Handlungen im wesentlichen als Sprechhandlungen statt.

Nachdem er sich im September 2008, sechsundvierzigjährig, das Leben genommen hatte, erschien im Dezember in der „New York Times“ ein Essay von James Ryerson „Consider the Philosopher“ („Bedenkt den Philosophen“), der an die unveröffentlichte Arbeit erinnert, mit der er 1985 in Philosophie promovierte, und für die er den „Gail Kennedy Memorial Prize“ erhalten hatte.

Wallace war auf einen Text des Philosophen Richard Taylor gestoßen („Fatalism“), der den Fatalismus logisch zu begründen versucht. Taylor sagt: „Ein Fatalist betrachtet die Zukunft wie wir die Vergangenheit betrachten.“ Der Logik des Fatalismus zufolge sind Handlungen und Entscheidungen entweder unmöglich oder absolut notwendig.

Wallace widerspricht Taylor mit Hinweisen auf semantische Ungereimtheitenin in dessen Argumentation. So behandle Taylor zwei unterschiedliche Arten von Aussagen als identisch. Der Satz: „Es war der Fall, dass ich meine Pistole nicht abfeuern konnte.“; und der Satz: „Es kann nicht der Fall sein, dass ich meine Pistole abfeuerte.“, mögen auf den ersten Blick gleiches aussagen – es wurde kein Schuss abgegeben –, beinhalten aber unterschiedliche Arten der Unmöglichkeit, die auf subtile Art und Weise in der Sprache wirksam sind.

Der Satz: „Es war der Fall, dass ich meine Pistole nicht abfeuern konnte.“, besage, dass in der Vergangenheit kein Schuss abgefeuert wurde; der Satz: „Es kann nicht der Fall sein, dass ich meine Pistole abfeuerte.“, dass seine Folgen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eingetreten sind, – etwa keine Kugel den Lauf verlassen hat. Wer beide Aussagen darauf reduziere, dass sie sich auf ein Ereignis der Vergangenheit beziehen, verkenne diesen Unterschied.

Wallace, so Ryerson, unterscheide in seiner Arbeit zwischen der Bedeutung von: „Ich konnte dieses oder jenes nicht getan haben“ und: „Ich kann dieses oder jenes nicht getan haben.“ Er bestreite nicht, dass Taylor und die Fatalisten mit ihrer determinierten Zukunft recht haben könnten, halte ihnen aber vor, Metaphysik zu betreiben. Wallace schreibt: „Meine Analyse des Problems scheint folgende Zusammenfassung zu rechtfertigen: Wenn Taylor und die Fatalisten uns zu metaphysischen Schlussfolgerungen veranlassen wollen, müssen sie Metaphysik betreiben und nicht Semantik.“

Wallace’ Möglichkeitssinn bringt in „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ bisweilen groteske Sprachgebilde hervor: fußnotenlastige Qual („Die depressive Person“), neologistische Exzesse („Tri-Stan: I(ch) sol(l) d(i)e Sissee Nar an Ecko verkauft ham“), gestelzte Schematik („Adult World II); dann wieder gelingen ihm Personenporträts von bizarrer Schönheit und Momentaufnahmen von glaskarem, hyperrealem Glanz; wie zum Beispiel der Sprung vom Sprungbrett („Für immer ganz oben“). Der ist ihm zu einer wortmächtigen Reflexion über Raum und Zeit geraten und wurde von Marcus Ingendaay kongenial übersetzt. Das Leben findet immer einen Weg.

Titelbild

David Foster Wallace: Kurze Interviews mit fiesen Männern.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Markus Ingendaay, Clara Drechsler, Bernhard Robben und Christa Schuenke.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
384 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-10: 3499231018
ISBN-13: 9783499231018

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