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In seiner Dissertation unterzieht Hans-Jürgen Voss Thomas Laqueurs Abfolgethese der historischen Geschlechtermodelle einer Revision und dekonstruiert das vermeintlich biologische Geschlecht aus biologisch-medizinischer Perspektive
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAnfang der 1990er-Jahre erschienen in kurzer Abfolge zwei Bücher, die im Bereich der Gender Studies eine Wirkungsmächtigkeit entfalteten wie kaum eines zuvor oder danach. Bei einem dieser beiden Grundlagenwerke handelt es sich natürlich um Judith Butlers bahnbrechende Schrift „Gender Trouble“ von 1991. Das andere, bereits ein Jahr zuvor veröffentlicht, stammt aus der Feder eines Mannes und erlangte einen nicht ganz so großen Bekanntheits- und Wirkungsgrad: Thomas Laqueurs „Making Sex“.
Auf letzteres spielt der Titel eines soeben erschienen Buches von Heinz-Jürgen Voß an: „Making Sex Revisited“. Und er bezeichnet den Inhalt des Werkes exakt, denn der Band bietet nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit der von Laqueur behaupteten strikten Trennung und historischen Abfolge der Annahmen des „Ein-Geschlechter-Modells“ und des diesem – nach Laqueur – folgenden „Zwei-Geschlechter-Modells“, sondern unternimmt ebenso die im Untertitel angekündigte „Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Sicht“. Dabei konzentriert sich Voß auf „naturphilosophische und biologisch-medizinische Geschlechtertheorien“ aus Geschichte und Gegenwart, wobei er sich methodisch am theoretischen Konstruktivismus, der Dekonstruktion, der Diskursanalyse, feministischer Wissenschaftskritik und an Systemorganisationstheorien orientiert.
Gegen Laqueur zeigt Voß, dass die beiden in Frage stehenden Geschlechtermodelle weder je eineindeutig von einander getrennt waren, noch eines das andere strikt chronologisch ablöste, sondern es vielmehr zu einer gegebenen Zeit stets mehrere miteinander konkurrierende Geschlechtertheorien gab – und auch heute noch gibt. Dabei gilt es innerhalb der einschlägigen Wissenschaftsdiskurse keineswegs als ausgemacht, was ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, ja überhaupt auch nur was ‚Geschlecht‘ ist. Doch ungeachtet dieser fundamentalen Ungewissheit ist so ziemlich allen bisherigen Geschlechtertheorien gemein, dass sie das ,männliche‘ Geschlecht gegenüber dem ,weiblichen‘ erhöhen. Denn, was immer die Begriffe ,männlich‘ und ,weiblich‘ auch bezeichnen mögen, dass es ihnen entsprechende Realien gibt, galt und gilt weithin als ausgemacht. Und genau diese „stete Voraussetzung ‚weiblichen‘ und ‚männlichen‘ Geschlechts“ erschwert es dem Autor zufolge, „selbst solche Geschlechtertheorien zu überwinden, die sich als unhaltbar herausgestellt haben.“
Gegen herkömmliche Geschlechtertheorien schlägt Voß eine „Theorie der Geschlechterentwicklung“ vor. Da Entwicklung bedeute, „dass kein Merkmal bereits vorgeprägt ist, sondern zu jeder Zeit der Entwicklung verschiedene Einflüsse wirken und an der Entwicklung teilhaben können“, ermögliche sein Vorschlag eine Betrachtung, die es erlaube, „die sich tatsächlich variabel und individuell darstellenden Merkmale von Menschen zu klären“.
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