Kaer Makesi und Makesi Weibo

Konjunkturzyklen der Rezeption von Karl Marx und Max Weber in China und Deutschland

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Es war der umfangreiche Beitrag des Pekinger Kulturkorrespondenten der „F.A.Z.“, Mark Siemons, der mein Interesse fesselte. Unter der Überschrift „Der wandlungsfähige Herr Ma in Peking“ berichtete Siemons davon, dass das Gedankengut des Karl Marx in der heutigen real-kapitalistischen Volksrepublik China derzeit in einem großangelegten „Marx-Projekt“ – in China kurz Ma Gongcheng, „Ma-Projekt“, genannt – aktualisiert wird. In den vergangenen fünf Jahren wurden bislang zweihundert Millionen Yuan (gut zehn Millionen Euro) und fünfhundert Forscher von hundert Universitäten aufgeboten, um den Marxismus im Licht der heutigen chinesischen Praxis zu erneuern.

Außerdem sollen zeitgemäße Lehrbücher erarbeitet werden sowie eine neue Übersetzung von Marx und Friedrich Engels aus dem Deutschen, nachdem sich die bisherige, 1987 vollendete chinesische Gesamtausgabe auf russische Übersetzungen stützte. Ein von Siemons befragter chinesischer Philosophieprofessor meinte, dass es eine derart umfassende Marx-Forschung in der bisherigen Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas noch nicht gegeben habe. Der derzeitige Direktor des Marxismus-Instituts an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, Professor Cheng Enfu, wurde im Bericht zitiert, der ebenfalls „gewaltige Aufschwünge“ der Marx-Forschung vermeldete. Seitdem sein Institut im Jahr 2005 umbenannt wurde – zuvor hieß es „Institut für Marxismus, Leninismus und Mao-Tse-Tung-Ideen“ – vergrößerte sich der Mitarbeiterstamm von ursprünglich fünfzig auf hundert und heute hundertdreißig, davon hundertzwanzig Wissenschaftler. Keine andere marxistische Einrichtung der Volksrepublik China habe derart große Forschungskapazitäten. Während früher vor allem Texte chinesischer Marx-Interpreten studiert worden seien, gehe es aktuell mehr um Marx selbst und seine ausländischen Interpretationen. Neben der eigenen sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeit sei das Institut auch mit der Durchsetzung des „Ma-Projektes“ innerhalb der Akademie befasst. So sei es allmählich gelungen, dass nun in allen Abteilungen des Instituts wieder Marx studiert werde. Beispielsweise auch am Soziologischen Institut, „wo man sonst immer nur Max Weber lese“.

Nun verstehen Sie, warum mich dieser Bericht fesselte. Die chinesischen Soziologen lesen nun weniger Max Weber und dafür wieder mehr Karl Marx! Damit drehen sich erneut die Beziehungen der Werke dieser beiden Meister-Denker aus Deutschland um und ein neuer Konjunktur-Zyklus scheint begonnen zu haben. Die Wissenschaft folgt den Touristenströmen.

Ein chinesischer Wallfahrtsort in Deutschland

Schon seit einigen Jahren wurde immer wieder darüber berichtet, dass das Geburtshaus von Marx in Trier zum Anziehungspunkt für immer zahlreicher nach Deutschland pilgernde Chinesen geworden ist. In Trier hat man inzwischen gelernt, den Gästen aus Asien entgegenzukommen, auch wenn diese manchmal ein wenig flüchtig sind. So wurde in der „Neuen Zürcher Zeitung“ berichtet, dass Rolf Grimm, Besitzer eines alten Trierer Korbwaren-Fachgeschäftes in der Brückenstraße, seinen Augen nicht trauen wollte, als er in einem chinesischen Hochglanzmagazin sein Geschäftshaus auf einer Seite zusammen mit dem Berliner Dom, dem Rheintal und dem bayrischen Schloss Neuschwanstein abgebildet sah. Dass es sich hier um die Höhepunkte einer chinesischen Deutschlandreise handeln musste, war naheliegend. Wie er später erfuhr, lautete die Bildlegende zu der Foto: „Dies ist das Geburtshaus von Karl Marx in Trier.“

Die Verwechslung, die einem chinesischen Fotografen bei seiner hastigen Durchreise unterlaufen war, wollte Grimm nicht auf sich beruhen lassen. Ihm war klar: „Da machst du was draus!“ Er berichtete die Anekdote seiner Stadtzeitung, dem „Trierischen Volksfreund“, der das Thema aufgriff, worauf auch das Fernsehen nicht lange auf sich warten ließ. In Zeiten, die Einzelhändlern wenig Kunden und triste Bilanzen bescheren, wurde Grimm für eine Weile von der Aufmerksamkeit der Medien verwöhnt: „Für mein Geschäft und mich war das eine wunderschöne Werbung!“

Das wahre Geburtshaus ist ein stattliches Patrizierhaus, weiß gestrichen, mit grünen Fensterläden. Es liegt um die Ecke des Grimm’schen Korbwarenladens, nämlich in der Brückenstrasse 10. Am 5. Mai 1818 wurde Marx in diesem Haus geboren, das von 1928 bis 1933 der SPD gehörte und seit 1968 von der Friedrich-Ebert-Stiftung als Museum betrieben wird. Der in China berühmteste Deutsche ist der Grund, der Trier zu einem der wichtigsten Reiseziele chinesischer Touristen werden lässt, der Besuch seines Geburtshauses kommt für viele einer Pilgerfahrt gleich. 28.500 Chinesen übernachteten im Jahr 2004 in Trier, mit steigender Tendenz. Die wichtigsten Kulturdenkmäler der Stadt sollen chinesisch beschriftet werden, ebenso die Straßennamen. Ein chinesischer Touristen- und Einkaufsführer ist in Vorbereitung.

MEGA und MWG

Es scheint dem Beobachter, als ob zwei deutsche Meisterdenker – Marx und Weber – wie in einem Staffellauf miteinander ringen: Mal ist der eine vorn, dann wieder der andere. Nicht nur in China, sondern auch in Deutschland. Und beide ziehen einander nach, sogar ihre Gesammelten Werke scheinen in der Art kommunizierender Röhren miteinander verbunden zu sein. Beide sind blau, dick und sehr teuer. Wenn sie nebeneinander stehen, kann man sie leicht verwechseln. Die einen tragen den Namen MEGA, die anderen MWG. Die einen erscheinen im Berliner Akademie Verlag, die anderen im Tübinger Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Ihre getrennten Produktionsstätten haben seit kurzem ein gemeinsames Dach: Die „Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften“ führt sie unter den „Vorhabennummern“ II.B.16-1-3 und II.B.26-1/-2.

Die Rede ist von den Bänden der „Marx-Engels-Gesamtausgabe“ und der „Max Weber Gesamtausgabe“. Die Rede ist von einem nicht nur wissenschaftspolitisch spannenden Kapitel deutsch-deutscher Geschichte. Beide Gesamtausgaben spiegeln die mäandernde Geschichte des 20. Jahrhunderts wider. Beide monumentalisieren die Gedankenprodukte zweier Denker. Nicht zuletzt durch seine politische Instrumentalisierung überschattete Marx für lange Zeit die Bedeutung des Jüngeren. Spätestens seit dem Fall der Mauer hat Weber international reputationsmäßig stark aufgeholt, während das Werk des Älteren nur dadurch gerettet werden konnte, dass es historisiert und entideologisiert wird.

Zur Geschichte der MEGA

Das ursprüngliche Projekt einer historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe geht auf David Borisovic Rjazanov zurück. Dieser russische Gelehrte begann in den 1920er-Jahren in Moskau mit der Edition einer auf 42 Bände angelegten Ausgabe, von der zwischen 1927 und 1941 jedoch nur zwölf Bände erschienen sind. Der eskalierende stalinistische Terror der „Säuberungen“, dem neben Rjazanov, der im Jahr 1931 verhaftet und sieben Jahre später erschossen wurde, mehrere russische Editoren zum Opfer fielen, setzten diesem Unternehmen ein erstes Ende. Erst nach Stalins Tod konnte das Projekt in Moskau und Berlin wieder aufgegriffen werden. Es dauerte jedoch bis in die 1960er-Jahre, bis das Konzept für eine „zweite“ MEGA, die den literarischen Nachlass von Marx und Engels vollständig und originalgetreu darbietet, gegen den Widerstand hoher Parteiinstanzen, denen eine historisch-kritische Gesamtausgabe suspekt war, durchgesetzt werden konnte.

Das Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG), mit Sitz in Amsterdam, unterstützte das Projekt, da der Charakter der Edition als historisch-kritische Gesamtausgabe garantiert wurde. Zwei Drittel der für eine solche Gesamtausgabe unentbehrlichen Originalhandschriften befinden sich seit den 1930er-Jahren im Besitz des IISG, ein weiteres Drittel war nach Moskau gelangt und wird heute im Staatlichen Archiv für Sozial- und Politikgeschichte Russlands aufbewahrt.

Von den bis 1990 erschienenen 36 Bänden wurde jeweils ein Drittel am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Moskau, am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Ost-Berlin, sowie an der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) und einigen Universitäten und Hochschulen der DDR (Berlin, Erfurt-Mühlhausen, Halle-Wittenberg, Jena und Leipzig) bearbeitet. Da die Edition bald eine Angelegenheit der KPdSU und der SED geworden war, erfolgten Einführung und Kommentierung der Texte nach den ideologischen Grundsätzen des Marxismus-Leninismus.

Als am 3. Oktober 1990 die Teilung Deutschlands durch den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten BRD und DDR beendet wurde, stellte sich die Frage nach dem weiteren Schicksal der MEGA erneut und grundsätzlicher. Zwar gab es bereits vorher einen breiten internationalen Konsens darüber, dass das Unternehmen weitergeführt werden solle. Dennoch nutzten einige selbsternannte Wortführer des westdeutschen Wissenschaftssystems den historischen Moment, um die Weiterführung des zwischenzeitlich einigermaßen hypertrophierten Unternehmens mit seinen angeblich bis zu 200 Forschenden, die an dem Unternehmen MEGA beschäftigt gewesen sollen, grundsätzlich in Frage zu stellen. Antimarxistische Wortführer wie der Bayreuther Politikwissenschaftler Konrad Löw sahen in Marx und Engels die „Väter des Terrors“, so dass jede Weiterführung der MEGA geradezu als Beihilfe zum Verbrechen gewertet werden musste.

Auch wer nicht so weit gehen wollte, konnte der Meinung sein, dass die MEGA auf dem politischen Schlachtfeld der untergegangenen DDR unvollendet als Ruine stehen bleiben könne. Eine Entscheidung stand an, die insgesamt größer war als die Frage nach einer historisch-kritischen Marx-Engels-Ausgabe.

Nach der Evaluierung durch den Wissenschaftsrat der BRD wurden alle Institute der AdW mit ihren insgesamt 25.000 Mitarbeitern zum 31. Dezember 1991 aufgelöst, darunter auch das Editionsunternehmen der MEGA. Am 1. August 1992 konstituierte sich die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften – vormals Preußische Akademie der Wissenschaften – neu. Wie sollte es nun weitergehen mit dem erneut unterbrochenen Unternehmen? Sollte es überhaupt fortgesetzt werden?

Zur Geschichte der MWG

Während in der DDR seit den 1960er-Jahren mit großem personellem und politischem Einsatz an der MEGA gearbeitet worden war, ergriff zu Beginn der 1970er-Jahre auf der anderen Seite der „Zonengrenze“ eine kleine Zahl westdeutscher Intellektueller die Initiative zu einem Vorhaben, in dem man unschwer ein Parallelunternehmen zu den Entwicklungen jenseits der innerdeutschen Grenze erkennen konnte. Dem ideologischen Tanker der Ostberliner MEGA sollte eine durchaus auch politisch gemeinte Antwort des Westens in Gestalt eines stolzen Segelschulschiffes erteilt werden. Es ging um die Werke Max Webers.

Nach ersten Vorbesprechungen im Herbst 1974 konstituierte sich im Juni 1975 ein „Beauftragter Editorenkreis“ einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Schriften, Briefe und Vorlesungen dieses anderen deutschen Sozialwissenschaftlers. Ihm gehörten ursprünglich die Soziologen Horst Baier (Konstanz), M. Rainer Lepsius (Heidelberg) und Wolfgang Schluchter (Heidelberg), der Philosoph Hermann Lübbe (Zürich), der Historiker Wolfgang J. Mommsen (Düsseldorf) und der Privatgelehrte Johannes Winckelmann (München) an. Nach dem Rückzug von Lübbe und dem Tod von Winckelmann (November 1985) verantworteten die Universitätsprofessoren Baier, Lepsius, Mommsen und Schluchter die „Max Weber Gesamtausgabe“ (MWG). Nach dem Tod von Mommsen (August 2004) wurden sowohl dessen Düsseldorfer Lehrstuhlnachfolger, Gerd Krumeich, als auch Gangolf Hübinger, Professor für Kulturgeschichte der Neuzeit an der Viadrina in Frankfurt an der Oder, in den Herausgeberkreis kooptiert.

Mit Hilfe beträchtlicher Forschungsmittel, deren Gesamtvolumen nicht leicht zu beziffern sein dürfte – auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) kann auf Anfrage keine Angaben machen, wie viel Geld inzwischen in dieses Vorhaben insgesamt geflossen ist – und eines beachtlichen Aufwands an personellen und materiellen Anstrengungen an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München und den Arbeitsstellen der Herausgeber, sind bis heute insgesamt 30 Bände erschienen, darunter fünf mit zwei Halbbänden. Ohne Übertreibung kann sicherlich gesagt werden, dass dieses editionsgeschichtliche Ereignis von „autoritativer, geradezu legislatorischer Bedeutung“ (Wilhelm Hennis) für die internationale Weber-Forschung geworden ist.

In wieweit auch politische und ideologische Gründe mitgespielt haben, dass eine stattliche Anzahl von Geldquellen für das Unternehmen MWG sprudelten, kann nicht wirklich bewiesen werden. Tatsache ist jedoch, dass das Unternehmen, das vor über 30 Jahren mit der Konstitution des Kreises der Hauptherausgeber begonnen wurde, durch zahlreiche Institutionen unterstützt und finanziert wurde und (teilweise) weiterhin wird: die DFG, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, den Freistaat Bayern, die (ehemalige) Werner-Reimers-Stiftung und der Verlag Mohr-Siebeck. Die „betreuende Akademie“ ist die Bayerische Akademie der Wissenschaften, dort werden die sehr allmählich entstehenden Bände von einer Generalredaktion koordiniert, die seit kurzem geleitet wird von der Politikwissenschaftlerin Edith Hanke. Die eigentliche Editionsarbeit wird dezentral an den Arbeitsstellen der Hauptherausgeber in Düsseldorf, Frankfurt/Oder, Heidelberg und Konstanz geleistet, zudem an den Dienstorten der zahlreichen Bandherausgeber.

Zumindest die aktuelle Selbstbeschreibung macht deutlich, dass ein politischer Akzent mit diesem Unternehmen von Anfang an verbunden war: „Die Edition der Werke Max Webers (1864-1920) ist weltweit die erste und am weitesten fortgeschrittene historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke eines nichtmarxistischen Soziologen und Kulturwissenschaftlers.“

Nicht zuletzt an den bisherigen Reaktionen auf dieses Editionsunternehmen lässt sich ein Aspekt als besonders augenfällig illustrieren: Weber ist ein „umkämpfter“ Klassiker geblieben, insbesondere innerhalb der Soziologie und ihren Nachbardisziplinen, der Geschichtswissenschaft, der Philosophie und der Politischen Wissenschaft. Neben die Auseinandersetzung zwischen den Disziplinen um die „richtige“ Nutzung des Werks und der Methoden Webers tritt noch der Streit innerhalb und zwischen den verschiedenen nationalen soziologischen Interpretationsgemeinschaften. Es geht bei diesem, oft leidenschaftlichen Ringen zumeist um die eher versteckte Frage, in wessen Händen das Erbe Webers „am besten“ verwaltet wird. Dabei wird sowohl um die Frage nach einer Zugehörigkeit Webers zu innerdisziplinären „Schulen“ gestritten, wie auch um Einzelfragen, wie beispielsweise jene, ob er nun ein tragisch-pessimistischer „Nietzscheaner“ oder ein „Liberaler“ war, der im englischen Vorbild ein Modell für die freiheitliche Entfaltung des bürgerlichen Menschen gesehen hatte.

Wie schon im April 1964, anlässlich des 100. Geburtsjahrs von Weber, in Heidelberg, und nochmals im Juni des gleichen Jahres in München bei der ebenfalls wissenschaftshistorisch bedeutsamen Gedächtnisfeier der Ludwig-Maximilians-Universität, sind solche Diskussionen bis heute zumeist auch der Kampf um die beanspruchte Galionsfigur für diverse kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen geblieben. Gerungen wird in diesem „Streit der Fakultäten“ vor allem zwischen Soziologen, Politikwissenschaftlern, Ökonomen, Historikern, Philosophen um die Frage: Wem „gehört“ Weber, dieser internationale Heilige der deutschen Gelehrsamkeit?

Dessen Werk wirkt seit seinem Tod im Juni 1920 als unerschöpflicher Ideenspender, als inhaltlicher Bezugspunkt und als omnipräsente, sozialwissenschaftlich-intellektuelle Herausforderung für immer neue Generationen von Wissenschaftlern, von den Erstsemestern bis zu prominenten Emeriti. Webers Arbeiten werden nicht nur ständig zitiert, sie werden von jeder wissenschaftlichen Generation immer wieder aufs Neue gelesen. Das „Faszinosum Weber“ bewegt Intellektuelle auf der ganzen Welt.

Neben dieser eigentlichen und bleibenden Bedeutung des Weber’schen Werks bekam es jedoch zusätzlich eine eminent politische Symbolwirkung zugeschrieben. Nach der Selbstauflösung der DDR und damit des Projekts einer marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft in Deutschland brach auch das Bild von Weber als dem Prototyp des „bürgerlichen Soziologen“ und damit eines geradezu berufsmäßigen Anti-Marxisten in sich zusammen. Die jahrzehntelang weitergegebene Metapher vom bedeutendsten Gesellschaftswissenschaftler, den die deutsche Bourgeoisie hervorgebracht hat, der jedoch als „Anti-Marx“ allenfalls als „negatives Genie“ (Jürgen Kuczynski) stigmatisiert worden war, hatte bereits im Jahr 1989 seinen bestimmenden Wert verloren.

Unter dem Motto der notwendigen „Aneignung unseres gesamten geisteswissenschaftlichen Erbes“ (Helmut Steiner) hatte auch die marxistisch-leninistische Soziologie in der DDR begonnen, sich sehr behutsam mit Person und Werk Webers nicht nur als feindlicher Gegenposition zu befassen. Sowohl ein Kolloquium anlässlich seines 125. Geburtstages in Erfurt, seinem Geburtsort, als auch eine Sammlung von Weber-Diskussionen in der damals einflussreichen Ostberliner „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ sowie die erstmalige Taschenbuch-Publikation von zentralen Texten im Leipziger Reclam Verlag kurz vor dem Fall der Mauer im Jahr 1989 waren Belege für ein Umdenken, demzufolge das Werk Webers „wichtige Anregungen und Denkanstöße [enthält], die kritisch aufzunehmen sich für einen Marxisten lohnt“ (Wolfgang Küttler). Mit dem de-facto-Verschwinden der marxistisch-leninistischen Soziologie in Deutschland jedoch verlor sich auch dieser gerade erst entstandene, möglicherweise alternative Strang einer deutschen Weber-Rezeption.

MEGA und MWG seit der Aufhebung der Teilung Deutschlands

In welchem historischen und aktuellen Verhältnis stehen nun die beiden Großunternehmen der MEGA und der MWG seit der Aufhebung der Teilung Deutschlands zueinander? Ob es nun stimmt oder nicht, als Anekdote ist die möglicherweise entscheidende Weichenstellung für den Fortgang der MEGA so oft wiederholt worden, dass sie auch hier angeführt sei. Angeblich landete die Entscheidung auf dem Schreibtisch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, in dessen Regierungszeit immerhin auch schon eine Gedenkmünze und eine Briefmarke zum 100. Todestag von Marx im Jahr 1983 veröffentlicht worden waren. Nicht so sehr der promovierte Historiker Kohl soll es gewesen sein, der mit grünem Füller an den Rand schrieb „Weiterführen, aber auf kleiner Flamme!“, sondern der Pfälzer Kohl aus Ludwigshafen am Rhein. Marx, so der immer wieder kolportierte Beweggrund, sei immerhin auch „aus der Pfalz“ gekommen. Der kam zwar aus Trier, und das liegt nicht in der historischen Pfalz, sondern in jenem Teil des Rheinlands, das damals zu Preußen gehörte, aber sei’s drum.

Ob es nun tatsächlich die persönliche Intervention des pfälzischen Bundeskanzlers war oder nicht, bereits Ende des Jahres 1989 ergriffen das IISG und das Karl-Marx-Haus Trier der Friedrich-Ebert-Stiftung im Einvernehmen mit den beiden bisherigen Herausgeberinstituten, also dem „Institut für Marxismus-Leninismus“ (IML) beim Zentralkomitee der KPdSU und dem IML beim Zentralkomitee der SED, die Initiative zur Gründung einer Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES), die im Oktober 1990 in Amsterdam realisiert wurde. Im Februar 1992 schloss die Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften einen Kooperationsvertrag mit der IMES. Auf Empfehlung des Wissenschaftsrates und der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung wurde die MEGA, nicht zuletzt mit Hinweis auf die MWG, nach positiver Begutachtung durch eine internationale Kommission unter dem Vorsitz des Münchener Philosophen Dieter Henrich als Vorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in das Akademienprogramm des Bundes und der Länder aufgenommen.

Ziel des immer noch beachtlichen Unternehmens ist die vollständige, historisch-kritische Ausgabe der Veröffentlichungen, der Handschriften und des Briefwechsels von Karl Marx und Friedrich Engels. Koordiniert wird das internationale Unternehmen MEGA von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aus, der ursprünglich geplante Umfang von 164 Bänden wurde reduziert auf 114 Bände, von denen bereits 57 erschienen sind. Diese Ausgabe dürfte nun auch die Grundlage des „Ma-Projekts“ der Volksrepublik Chinas sein.

In der „F.A.Z.“ kommentierte Ulrich Raulff die politisch vorgegebenen Prämissen: „Entpolitisierung, Internationalisierung und Akademisierung lauteten die drei Wünsche, die sich mit dem Fortgang der Arbeit an der MEGA verbanden. Mit dem Weggang vom Dietz Verlag dürfte der erste erfüllt sein: Der Philologie wurde der letzte Giftzahn des Parteigängertums gezogen. Die Erfüllung des dritten garantiert die Unterbringung beim Akademie Verlag. Dort rangieren die blauen Bände nun zwischen den Großausgaben von Aristoteles, Leibniz, Wieland, Forster und Aby Warburg – Klassiker unter sich.“

An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bearbeiten derzeit acht Wissenschaftler gegenwärtig 17 Bände und besorgen Endredaktion und Satzvorbereitung aller in internationaler Forschungskooperation edierten Bände. Das Unternehmen steht unter der Patronage des HU-Politikwissenschaftlers Herfried Münkler, ihm zugeordnet sind Forscher aus aller Welt. Die seit 1998 im Akademie Verlag erschienenen elf neuen Bände fanden über die Fachwelt hinaus in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit außerordentliche Resonanz. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ bezeichnete Hans Martin Lohmann die Fortsetzung des Editionsunternehmens als einen überfälligen Akt historischer Gerechtigkeit: „Die MEGA ist im wahrsten Wortsinne ein Säkularunternehmen, und ihr Anfang, ihr Scheitern und ihr Wiederauferstehen spiegeln geradezu paradigmatisch die geschichtlichen Tragödien des 20. Jahrhunderts wider. Wenn sie, wie der Editionsfahrplan vorsieht, um das Jahr 2025 abgeschlossen sein wird, werden es ziemlich exakt hundert Jahre gewesen sein, die nötig waren, um das Werk von Marx und Engels der lesenden Öffentlichkeit originalgetreu, das heißt unzensiert, zu erschließen.“

Die Notwendigkeit des Wegfalls der „Zensur“, das heißt die „Entpolitisierung“ der Edition zielte insbesondere auf deren Kommentierung. An die Stelle des früheren, politisch motivierten teleologischen Deutungs- und Editionsimperativs ist nunmehr das Prinzip der konsequenten Historisierung des Werkes getreten. Dies meint eine Kontextualisierung, die das Marx’sche Denken im Zusammenhang seiner Zeit und ihres Problem- und Fragehorizontes einordnet. Dabei wird deutlich, dass Marx, unabhängig von der geschichtsprägenden Kraft seines Denkens, einen legitimen Ort in der Wissenschaftsgeschichte mehrerer Disziplinen besitzt: Über die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hinaus wird durch die MEGA der enzyklopädische Ansatz eines Werkes sichtbar, das sich über Philosophie und Soziologie bis hin zur Kulturgeschichte erstreckt. Der Leiter des Berliner MEGA-Unternehmens, der Leipziger Marx-Forscher Manfred Neuhaus kommentiert: „Durch die gelungene Rekonstitution des MEGA-Projekts als Akademienvorhaben hat Marx nach dem Epochenjahr 1989 seinen Platz im Kreis der großen klassischen Denker gefunden.“

Die MWG hingegen musste nie um ihre Fortsetzung bangen, auch wenn immer wieder kritische Stimmen über die vermeintlich zu opulente und zu langsame Produktion der angekündigten 46 Bände laut wurden. Angesichts der Tatsache, dass so gut wie alles relevante an Weber-Texten bereits mehrfach gedruckt vorliegt und es de facto kaum Originalmanuskripte gibt, wurde immer wieder die Frage gestellt, wieso ein dermaßen aufwendiger Nachdruck vielfach publizierter Texte betrieben wird. So fragte beim Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1984 der Freiburger Weber-Forscher Wilhelm Hennis in der „F.A.Z.“: „wieso die Reproduktion alles dessen, was von Weber zum Druck gebracht wurde […] mit solch perfektionistischem Aufwand betrieben wird“.

Schon damals wurde angemahnt, dass die enorme Kraftanstrengung sich sehr viel mehr auf das bislang noch nicht Bekannte und Veröffentlichte richten sollte, so vor allem auf den gesamten Briefbestand Webers, von dem bislang fünf Bände vorgelegt wurden, die den Zeitraum 1906 bis 1917 umfassen.

Betrachtet man die bisherige Geschichte der MEGA und der MWG aus gebührender Distanz, so zeigt sich ein geradezu ironisches Muster: Zuerst verhalf die Existenz der MEGA zur Inangriffnahme der MWG als einer westdeutschen und insgesamt westlichen Reaktion auf das ostdeutsche und östliche Unternehmen der MEGA. Dann half die Existenz der MWG bei der Weiterführung der (stark abgespeckten) MEGA. Und heute nun stehen die Band-Kolonnen friedlich nebeneinander. Ob damit jedoch mehr als prächtige und opulente Sarkophage in Form blauer Regalwände erzeugt werden, wird sich erst in Jahrzehnten erweisen. Allein die prohibitiven Preise der einzelnen Bände, bei denen selbst Universitätsbibliotheken in die Knie gehen, machen eine nennenswerte Verbreitung eher unwahrscheinlich; auch schon angesichts der Tatsache, dass beide Werke inzwischen nicht nur in vielfältigen Versionen im Web publiziert, sondern auch benutzerfreundlich auf diversen CDs vorrätig sind. Für die spezialisierte internationale wissenschaftliche Forschung zu Marx und Weber jedoch sind beide Unternehmen unverzichtbar.

Eine neue Konjunktur beginnt

Und wie man sieht, auch in der Volksrepublik China beginnt der Kreislauf aufs Neue: Erst war es Marx – der auf chinesisch Kaer Makesi transkibiert wird –, dessen Heilige Schriften ehrfürchtig gelesen und interpretiert wurden, dann setzten sich plötzlich Hunderte von chinesischen Sozialwissenschaftlern mit den Schriften Webers – auf chinesisch: Makesi Weibo – auseinander, und nun geht es wieder um Marx. Es ist, als wenn sie einander nicht loslassen können. Die Fremdenverkehrsämter in Trier und Heidelberg werden sich noch lange freuen dürfen.

Und die Marx- und Weber-Forscher ebenfalls. Ich selbst habe davon auch schon profitiert. Die erste deutsche Version meines Lehrbuchs über Max Weber erschien im Jahr 1979, bereits zwei Jahre später wurde eine japanische Übersetzung veröffentlicht. Wie ich erst viel später erfuhr, ist der japanische Kollege, Hiromichi Morioka, der das Buch übersetzt hatte, ein namhafter Marxist, der seine Übersetzung auch dazu nutzte, einige Kerngedanken seiner materialistischen Geschichtsinterpretation auf diesem Wege zu transportieren. Und was in der im Jahr 2000 erschienenen chinesischen Übersetzung der aktuellen Version meines Buches durch den Pekinger Kollegen Feng Guo steht, die in die Reihe „Repräsentative Deutsche Rechtsliteratur der Gegenwart, Reihe des Rechtskulturellen Hintergrunds“ der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften aufgenommen wurde, weiß ich auch nicht. Vielleicht ist auch dort mehr Marx als Weber drin?