Nietzsche als Feminist und Christ

Eine Kultgeschichte durchs 20. Jahrhundert: Steven E. Aschheims "Nietzsche und die Deutschen"

Von Roland KroemerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roland Kroemer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nietzsche hat es vorausgesehen. "Ich will keine 'Gläubigen'", schrieb er kurz vor Ausbruch des Wahnsinns, "Ich habe eine schreckliche Angst davor, dass man mich eines Tages heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt." Mittlerweile ist mehr als ein Jahrhundert vergangen, und selbst ein Visionär wie er könnte über das Ausmaß des angestellten Unfugs nur noch staunen!

Steven E. Aschheim hat die zahlreichen, häufig verschlungenen Wege der Nietzsche-Verehrung bis in die Gegenwart verfolgt. Mit beeindruckender Detailkenntnis, die niemals die Sicht auf das Wesentliche versperrt, stellt er die Heiligsprechungen und Mythenbildungen vor, zu deren zweifelhafte Ehre der Philosoph im Laufe der Zeit gekommen ist. Aschheim widersteht der Versuchung, die dargestellten Nietzsche-Bilder zu bewerten: ihm geht es ausdrücklich nur um die Sichtung und Zusammenstellung des umfangreichen Materials. So ist es denn auch weniger ein Buch über Nietzsche selbst als vielmehr eine Kulturgeschichte - oder besser: eine Kultgeschichte - der Deutschen in diesem Jahrhundert. Gerade das macht den Reiz aus.

Vieles ist wohlbekannt: Der Nietzsche der Expressionisten etwa (Götterdämmerung, Aufbruch, Neuer Mensch) oder der Nietzsche der Soldaten im Ersten Weltkrieg (Neben der Bibel war der "Zarathustra" das meistgelesene Buch an der Front). Dem Komplex Nietzsche/Nationalsozialismus widmet Aschheim gar drei Kapitel.

Unterhaltsamer sind die Seiten, auf denen uns ein anderer, ein unbekannter Nietzsche entgegenblickt. Als Feminist zum Beispiel. Zugegeben, keine ganz einfache Vorstellung, denkt man an manch geäußerte Geistesblitze, mit denen er in den Zeiten der political correctness keinen Blumentopf mehr gewinnen würde. (Für den persönlichen Zitatenschatz: "Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!"). Alles halb so schlimm, sagten sich die deutschen Feministinnen am Anfang des Jahrhunderts, mit seinen Sprüchen wollte er uns lediglich aus dem Dornröschenschlaf rütteln. So wird aus dem vermeintlichen Chauvi der Vorkämpfer der Frauenbewegung.

Unterdessen wurde an vielen anderen Nietzsche-Bildern gezimmert: Vegetarier, Nudisten, Tabakgegner, Wandervögel - alle nahmen Nietzsche für sich in Beschlag. Es schien ein geheimer Wettbewerb zu bestehen, eine groteske Form der Aneignung durch eine noch groteskere zu überbieten. Wie kein anderer Denker wurde Nietzsche auch von den gegensätzlichsten politischen Gruppen und Ideologien beansprucht. Sowohl Zionisten wie Antisemiten, sowohl Kommunisten wie Nazis machten ihn zur Galionsfigur. Selbst Theologen scheuten nicht davor zurück, das Denken des "Antichristen", wie sich Nietzsche selbst nannte, für ihre Lehren auszuschlachten. Der Protestant Hans Gallwitz etwa entwickelte in der - ganz und gar nicht unzeitgemäßen - Betrachtung "Nietzsche als Erzieher zum Christentum" einen heroischen, von aller Sklavenmoral befreiten Glauben.

Wie waren derart verschiedene Auslegungen möglich? Zum einen sicherlich durch Nietzsches eigener Wandlung im Laufe seines Lebens. Den Nietzsche hat es nie gegeben. Immer wieder überwand er sein Denken und legte es wie eine zu eng gewordene Haut ab. Entscheidender aber ist sein Stil. Nie hat er seine Philosophie als ganzes System dargelegt, sie setzt sich vielmehr wie ein riesiges Puzzle aus zahllosen Aphorismen und Gedankensplittern zusammen. So war es seinen Anhängern ein leichtes, aus diesem Angebot das Passende zu wählen: "Unter den jeweiligen Vorgaben wurde Nietzsches Werk selektiv so lange gefiltert, bis die erwünschten Elemente in ihm hervortraten und die störenden entfernt oder in ihrer Bedeutung heruntergespielt waren."

Das gleiche gilt freilich auch für den heutigen Nietzsche, der uns Deutschen vor allem vom westlichen Rheinufer als Dekonstruktivist ironisch zuwinkt. Selbst diese postmoderne Lesart ist zeitgebunden und wird eines Tages wie alle vorangegangenen der Vergangenheit angehören. Auf den wahren Nietzsche aber warten wir noch immer, denn wie schrieb er doch selbst: "Erst wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich wiederkehren."

Titelbild

Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
385 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3476017575

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch