Europas globale Dominanz als Fußnote der Weltgeschichte?

John Darwins „Globalgeschichte großer Reiche“ von 1400 bis 2000 greift zu kurz

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

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Die erdrückende Hegemonie des Westens über den Rest der Welt war im Verlauf der vergangenen 600 Jahre nur eine Episode, ja bloß eine Fußnote der Weltgeschichte, so behauptet es zumindest der britische Historiker John Darwin. Hätte doch noch zu Beginn der europäischen Industrialisierung um 1800 kein Europäer die Prognose gewagt, dass es nur knapp ein Jahrhundert später kaum noch einen erreichbaren Flecken auf der Erde geben würde, den die westlichen Kolonialmächte nicht für sich beanspruchten. Nach den Worten Napoleons sei Europa damals nur ein „Maulwurfshügel“ gewesen. Allein im Osten, wo sechshundert Millionen Menschen lebten, können große Reiche gegründet werden, so der ehrgeizige Korse, der kurz darauf zu seiner verunglückten Expedition nach Ägypten aufbrach.

Der Professor am Oxforder Nuffield College und Experte für die Geschichte des britischen Empires hat nun in seiner eindrucksvollen Gesamtschau eine Geschichte der drei großen Kulturkreise Eurasiens vorgelegt, die keineswegs von einer einseitigen Überlegenheit des Westens geprägt war und in welcher der spätere weltweite Siegeszug der europäischen Kultur durchaus nicht von Anfang an vorherbestimmt schien.

Tatsächlich war es China wie auch der islamischen Welt noch bis zur Epoche der französischen Revolution gelungen, ihren Machtbereich entweder zu konsolidieren oder sogar deutlich auszudehnen. So eroberten Chinas Mandschukaiser erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts bedeutende Teile Innerasiens, um so die Jahrhunderte lange Bedrohung des Reiches durch die Steppenvölker endgültig auszuschalten. Noch am Ende des Jahrhunderts war China, so betont Darwin, eine in sich ruhende und wirtschaftlich vollkommen autarke Macht, deren Herrscher es nicht einmal für nötig erachteten, mit den europäischen Seemächten diplomatischen Verkehr zu unterhalten.

Ungünstiger sah es dagegen bereits für den islamischen Machtbereich aus. Während das ehemals mächtige Mogulreich in Nordindien schon vor dem Zerfall stand, konnten sich die Armeen des Sultans zwar noch auf dem Balkan behaupten, doch die Ukraine und die Krim waren inzwischen an das aufstrebende Zarenreich verloren gegangen.

Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts geriet das jahrhundertealte politische und ökonomische Gleichgewicht der drei großen Kulturkreise Eurasien nach Einschätzung Darwins aus den Fugen. Er nennt diese Phase zwischen 1750 und 1840 die eurasische Revolution, eine entscheidende Epoche, in der sich die Grundlagen der weltweiten europäischen Vorherrschaft bildeten. Während Frankreich im Siebenjährigen Krieg und später noch einmal auf dem Wiener Kongress von 1814/15 seine hegemoniale Stellung in Europa verlor, erhielten die Flügelmächte Großbritannien und Russland den Freiraum, ihre Expansion in Asien und im Kaukasus energisch voranzutreiben. Somit geriet die islamische Welt von Osten (Bengalen) wie auch von Norden (Kaukasus und Turkmenistan) unter den wachsenden Druck der Europäer, deren Kolonialreiche sich bis dahin nur auf schmale Küstenstreifen und Handelsniederlassungen beschränkt hatten. Die riesigen spanischen Vizekönigreiche in Süd- und Mittelamerika betrachtet Darwin dagegen nur als Sonderfall, eine bloße Erweiterung Europas, die auf das machtpolitische Gefüge der eurasischen Rivalen kaum Einfluss hatte.

Das immer noch gängige Bild eines vorgezeichneten Marsches des frühmodernen Europas zu weltweiter Vorherrschaft ist nach seiner Ansicht somit nur „das trügerische Produkt einer Rückschau, der die späteren Entwicklungen bereits bekannt sind.“

Im Gegenteil führte der aus Übersee kommende Fluss von Edelmetallen zunächst sogar zu einem Aufschwung und Übergewicht der asiatischen Wirtschaftsräume, da die europäischen Seemächte das Gold und Silber aus der Neuen Welt in Ermangelung anderer Wirtschaftsgüter zur Bezahlung von Luxusartikeln wie Porzellan, Tee oder Textilien aus Indien oder China einsetzten. Erst mit der industriellen Revolution und den dramatisch sinkenden Stückkosten einer maschinellen Produktion kehrten sich die internationalen Warenströme um und Europa wurde plötzlich zum großen Exporteur von Konsumgütern. Seine technische, wirtschaftliche und militärische Überlegenheit sowie die vergleichsweise stabile politische Lage des Kontinents – die Großmächte führten zwischen 1815 und 1914 nur wenige und kurze Kriege – begünstigte in den folgenden Jahrzehnten eine rasche und sich zuletzt sogar überstürzende Inbesitznahme der afrikanischen und asiatischen Welt.

Die direkte oder informelle Beherrschung der außereuropäischen Welt stand jedoch auf tönernen Füßen. Zu einer wirklichen Durchdringung der kontrollierten Gebiete fehlten den Europäern wie auch den später auf der Bühne des Imperialismus erschienenen Amerikanern die Mittel und vor allem der politische Wille. Die Semiglobalisierung des späten 19. Jahrhunderts bewirkte durchaus keine Vereinheitlichung der Lebensformen. Darwin spricht sogar von unheilbaren genetischen Defekten des europäischen Imperialismus, die nach seiner Ansicht auch den raschen Zusammenbruch der kolonialen Herrschaft nach 1945 verursachten. Die amerikanische Dominanz seit 1945 betrachtet er schon fast als einen Epilog der Vorherrschaft des Westens, die sich innerhalb von nur zwei Dekaden nach seinem spektakulären und unblutigen Sieg im Kalten Krieg endgültig verflüchtigt zu haben scheint.

Fraglos ist es Darwin gelungen, mit seiner materialreichen Studie konsequent eine außereuropäische Perspektive einzubeziehen und auf der Grundlage vieler bedenkenswerter Details schlüssig aufzuzeigen, dass vor allem die asiatischen Kulturen es durchweg verstanden hatten, gegenüber den Europäern und Amerikanern ihre Identität und sogar einen erstaunlichen politischen Spielraum zu bewahren. Der Weg des industriellen Fortschritts, den die aufstrebenden Mächte Asiens inzwischen beschritten haben, dürfte daher auch zu einer anderen Form der Moderne führen, die kaum noch nach europäischem Muster geprägt sein wird.

Der Verfasser gibt sich auch nur wenig Mühe, seine Befriedigung über diese Entwicklung zu verbergen, wenn er verächtlich von der „prometheischen Inspiration Europas“ spricht, die Asien niemals nötig gehabt habe. Solche unsachlichen Herabspielungen europäischer Errungenschaften sind jedoch nicht die einzige Schwäche im Werk des Briten, der sich zu sehr auf politisch-ökonomische Argumentationen stützt und dabei oft genug sehr abstrakt bleibt. So heißt es etwa über die indische Wirtschaft des 18. Jahrhunderts: „Gleichzeitig veränderte der Wirtschaftsaufschwung an den indischen Küsten auch dort sehr schnell die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sowie die Beziehungen zwischen Binnenland einerseits und der Außenwelt andererseits.“ Derartig nichts sagende Formulierungen sind leider nicht die Ausnahme und fordern dem Leser einen langen Atem ab.

Es greift nun deutlich zu kurz, wenn Darwin die europäischen Entdeckungsfahrten nur auf Abenteuerlust und Gier nach den Schätzen Asiens reduziert und zudem die militärische Revolution der frühen Neuzeit als Marginalie abtut. Wie dann die gewaltsamen Umstürze und erzwungenen Öffnungen der asiatischen Märkte, auf denen sich Europas Vorherrschaft schließlich gründete, überhaupt möglich gewesen sein sollen, wenn es weder einen wirtschaftlichen noch wissenschaftlichen Vorsprung beanspruchen konnte, beantwortet der Verfasser allerdings nicht. Die Dimensionen einer europäischen Wissensgesellschaft, die sich spätestens seit dem Spätmittelalter entwickelt hatte und die sich keineswegs nur auf intellektuelle Transfers aus dem islamisch-arabischen Kulturkreis stützte, unterschätzt Darwin vollkommen. Die industrielle Revolution, die innerhalb kürzester Frist alle kulturellen, bautechnischen und ökonomischen Entwicklungen Asiens weit in den Schatten stellte, betritt in seiner Darstellung wie ein „deus ex machina“ die weltpolitische Bühne. Die Genese des europäischen Bank- und Börsenwesens sowie die Akkumulation und Investition gewaltiger Kapitalien kommen – seltsam genug bei Darwins durchweg ökonomischer Sicht – so gut wie gar nicht vor. Nichts findet man in seinem Werk vom einzigartigen europäischen Individualismus, der elementarsten Voraussetzung innovativer Gesellschaften, denen die selbstgenügsamen Kulturen des Islams und Chinas kaum etwas entgegen zu setzen hatten. Jahrzehntelang waren allein die Europäer weltweit in der Lage, industrielle Großprojekte wie den Bau von Eisenbahnlinien und gigantischen Industriekomplexen zu bewerkstelligen, was eindeutig über die immer wieder von Darwin gelobten asiatischen Handelsnetzwerke hinausging.

Die kurzlebige Dominanz des Westens war für ihn im Grunde nur ein Werk zufälliger Umstände. Für eine ambitionierte Globalgeschichte ist dieser Befund jedoch eindeutig zu dürftig.

Titelbild

Charles Darwin: Der imperiale Traum. die Globalgeschichte großer Reiche 1400 - 2000.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
544 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783593391427

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