„Pardon wird nicht gegeben“

Susanne Kuß legt mit „Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen“ eine gut recherchierte Studie zu den deutschen Kolonialkriegen vor

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Phänomen der so genannten asymmetrischen Kriegführung ist keineswegs neu. Schon vor mehr als hundert Jahren waren die europäischen Großmächte und selbst die Vereinigten Staaten (auf den Philippinnen) in zahllose Konflikte in ihren Kolonien und Protektoraten verwickelt, in denen sie ihre imperialen Ansprüche gegen technisch und numerisch unterlegene Rebellengruppen durchsetzen mussten. Die Grenze zwischen einfachen Polizeiaktionen und längeren Feldzügen war oft fließend. Die Forschung bezeichnet diese Form der Kriegführung immer noch als Kolonialkriege, auch wenn ihre begriffliche Eingrenzung nicht unproblematisch ist.

Auch das Deutsche Reich hatte als sekundäre und späte Kolonialmacht drei größere Konflikte auszutragen, in denen es ausnahmslos zu einer ungewöhnlichen Gewalteskalation vor allem gegen die Zivilbevölkerung kam. Die Freiburger Historikerin Susanne Kuß hat nun in ihrer systematisch angelegten Untersuchung „Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen“ außer der deutschen Beteiligung am „Boxerkrieg“ auch den Herero- und Namakrieg in Südwestafrika sowie die Niederwerfung des Majimaji-Aufstandes in Ostafrika aufgegriffen und nach den komplexen Bedingungen gefragt, unter denen sich der Einsatz militärischer Gewalt in einem ungewohnten Umfeld entgrenzte und sogar – wie im Falle der namibischen Hereros – in einen geplanten und ansatzweise realisierten Genozid ausartete.

Hierbei widerspricht sie vor allem dem zuletzt in der Forschung gern artikulierten Ansatz, der koloniale Genozid sei ein Vorläufer des späteren rassistischen Massenmords im „Dritten Reich“ gewesen. Kuß kann überzeugend nachweisen, dass sich eine „Tradition“ genozidaler Kriegführung über den bald danach einsetzenden Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik bis hin zum „Dritten Reich“ nicht bilden konnte, da allein die geringe Zahl der Kolonialkriegsteilnehmer im Vergleich zu den deutschen Gesamtstreitkräften eine breite Adaption kolonialer Kriegspraktiken ausschloss. Auch wurden die deutschen Kolonialkriege weder in der Reichswehr noch später in der Wehrmacht besonders rezipiert. Allenfalls in den späteren Freikorps spielten einige deutsche Kolonialoffiziere eine prägende Rolle und ihr Verhalten im Baltikum wies dann auch, so die Verfasserin, erkennbare Parallelen zur kolonialen Kriegspraxis auf. Insbesondere das selbständige Handeln der Akteure bis hin zur befehlswidrigen Eigenmächtigkeit schien auf eine frühere koloniale Kriegspraxis zu verweisen.

Gleichwohl aber wäre es falsch, auf deutscher Seite von einer einheitlichen Form der Kolonialkriegsführung zu sprechen. Dazu waren nicht nur die einzelnen Schauplätze zu heterogen, sondern auch die beteiligten Kolonialtruppen. So trafen nach der Niederwerfung des Boxeraufstandes in China reguläre deutsche Truppen im Rahmen eines internationalen Kontingents auf eine größtenteils friedfertige Bevölkerung. Zahlreiche Strafaktionen in den umliegenden Regionen dienten den Deutschen nicht nur zur persönlichen Bereicherung, sondern waren auch ein Ventil, um eine zusammen gewürfelte Truppe aus Freiwilligen und sonstigen in der Heimat entbehrlichen Elementen halbwegs unter Kontrolle zu halten. Eine dauerhafte Okkupation der besetzten Gebiete war jedoch nicht vorgesehen, so dass sich durchaus die Frage aufwerfen lässt, ob man hier tatsächlich von einem Beispiel kolonialer Kriegsführung sprechen kann. Eine typische koloniale Situation war oft auch dadurch geprägt, dass Einheimische gegen Einheimische kämpften. Im britischen Kolonialreich war dies sogar die Regel. Auch während des Majimajikrieges in Ostafrika kämpften überwiegend Schwarzafrikaner (Askari) unter deutscher Führung gegen die Rebellen, wohingegen in der damaligen Kolonie „Deutsch-Südwest“ auf deutscher Seite ausschließlich Europäer gegen Hereros und Nama zum Einsatz kamen.

Kuß wendet sich auch gegen die gelegentlich vertretene These einer besonderen deutschen Prädisposition, so genannte Kriegsnotwendigkeiten über humanitäre Gesichtspunkte zu stellen, wie es das spätere Verhalten deutscher Besatzungstruppen in Belgien oder das berüchtigte Diktum des Reichskanzlers Theodor von Bethmann-Hollweg (Not kenne kein Gebot) nahe legen könnten.

Vielmehr möchte sie die genannten drei Fälle mit Hilfe eines, wie sie schreibt, neuartigen Ansatzes analysieren. Kuß nennt es das Konzept des Kriegsschauplatzes. In Anlehnung an den in der früheren Militärliteratur gebräuchlichen Begriff des Kriegstheaters sieht sie darin einen räumlich begrenzten, sozial und auch imaginär konstruierten Handlungsraum, in dem die Akteure beider Konfliktparteien jeweils spezifische Verhaltensmuster entwickelten.

Diesen interessanten Ansatz verwirklicht sie aber nicht vollständig, denn ihre Untersuchung folgt nach jeweils kurzer Beschreibung der drei Kriegsverläufe weiter dem systematischen Ansatz, in dem alle drei Kriegschauplätze unter den verschiedensten „Themenclustern“ (Motivation, Waffen und Wissen, Raum und Gegner, Krankheit und Verletzung et cetera) zusammengefasst sind. Somit verwischt Kuß aber gerade die für den einzelnen Kriegsschauplatz spezifischen Bedingungen, zumal sie auch nur die deutsche Seite betrachtet.

Wirklich deutlich werden so nur die Gemeinsamkeiten deutscher Kolonialkriegsführung auf allen drei Kriegsschauplätzen. Außer dem in Europa üblichen Rassismus zählte dazu auch die Bereitschaft, den Krieg bedenkenlos gegen die Zivilbevölkerung zu führen, obwohl gerade in der betrachteten Dekade erste Anstrengungen im Niederländischen Den Haag unternommen wurden, der drohenden Entgrenzung des Krieges mittels Schutzbestimmungen entgegenzuwirken.

Im Vergleich zu den arrivierten Kolonialmächten fehlte den Deutschen aber vor allem, so betont Kuß, ein angemessenes Kriegsbild für Konflikte in den überseeischen Gebieten. Da das Reich außer den wenigen lokalen Kräften aus Kostengründen auf eine Kolonialarmee verzichtet hatte, wurden die Aufstände mit Truppen bekämpft, die nicht geschlossenen Verbänden entstammten und zudem mit den Verhältnissen vor Ort selten vertraut waren. So neigte gerade das Führungspersonal dazu, die in den deutschen Einigungskriegen gebildete Idee der Einkreisungs- und Vernichtungsschlacht auch auf kolonialer Ebene anzuwenden. Kuß arbeitet alle diese Gesichtspunkte, sorgfältig durch Quellen belegt, heraus, bietet aber nicht wirklich neue Erklärungen.

Ebenso wenig neu dürften den Strukturplanern der heutigen Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges der Inhalt der späteren Erfahrungsberichte der Kolonialkommandeure sein, in denen vor einem Jahrhundert regelmäßig von gravierenden Ausbildungs- und Ausrüstungsmängeln einer Armee die Rede war, die eigentlich für einen Krieg gegen die europäischen Großmächte konzipiert wurde.

Titelbild

Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Ch. Links Verlag, Berlin 2010.
500 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783861536031

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