Am Ariadnefaden
Manfred Engel und Bernd Auerochs haben einen Wegweiser durchs Labyrinth der Kafka-Lektüren herausgegeben
Von Stefan Höppner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMehr als ein Jahrhundert nach Kafkas ersten Veröffentlichungen und mehr als 80 Jahre nach der Herausgabe seiner Romanfragmente ist die Forschung zu seinen Texten ins Unermessliche angewachsen. Allein mit den Büchern und Aufsätzen, die sich mit dem „Proceß“ beschäftigen und den Text nach allen Regeln der Psychoanalyse, der Dekonstruktion oder auch der Gender Studies auseinander nehmen, könnte man Bibliotheken, ach sagen wir es doch ruhig, ganze Dachbodenkanzleien füllen.
Wer einfach eines seiner Bücher zur Hand nimmt, sich aufs Sofa legt und liest, braucht sich darum zwar nicht zu kümmern. Doch jede/r, der oder die sich wissenschaftlich mit Kafkas Arbeiten beschäftigen will, steht vor der undankbaren Aufgabe, sich in diesem Dickicht orientieren zu müssen. Hier können literarische Handbücher helfen, die notwendigen Schneisen zu schlagen. Nun sind Manfred Engel und Bernd Auerochs, die bei Metzler ein neues Kafka-Handbuch herausgegeben haben, nicht die ersten, die auf eine solche Idee kommen – Hartmut Binder und Oliver Jahraus zusammen mit Bettina von Jagow waren längst vor ihnen da. Aber unabhängig davon, welches der Bücher man bevorzugt: Engel und Auerochs überzeugen jedenfalls durch Übersichtlichkeit und Kompaktheit.
Das Buch gliedert sich in vier große Sektionen: 1. Leben und Persönlichkeit; 2. Einflüsse und Kontexte – hier geht es etwa um Kafkas mediale Einflüsse, seine Psychoanalyse-Rezeption oder sein Verhältnis zu den zeitgenössischen Strömungen des Judentums; 3. Dichtungen und Schriften – hier finden sich Artikel zu den einzelnen Texten und Werkgruppen; 4. Strukturen, Schreibweisen, Themen.
Die einzelnen Artikel, die aus der Feder von etwa dreißig namhaften Forschern stammen, sind möglichst konzise und übersichtlich aufgebaut. Speziell im dritten Teil – der nahe liegender Weise mehr als die Hälfte des Buches einnimmt – bewährt es sich, dass die Beiträge einem einheitlichen Schema folgen. Zunächst werden der Entstehungs- und Veröffentlichungsprozess der Texte beschrieben, gefolgt von einer Textbeschreibung, der die wichtigsten thematischen und formalen Aspekte auffächert. Ein Abschnitt zur Forschung stellt einige zentrale Ergebnisse vor, und schließlich liefern die jeweiligen Autoren Aspekte ihrer eigenen Interpretation. Beschlossen werden alle Artikel von einem umfangreichen bibliografischen Nachspann. Alle Artikel sind von hoher Qualität und referieren nicht nur die existierenden Forschungsmeinungen, sondern setzen sich mit ihnen auch kritisch auseinander. Hier werden bewusst keine endgültigen Interpretationen geliefert, sondern die einzelnen Beiträge verstehen sich als Sprungbretter, die dazu einladen, selbst tiefer in die Texte einzutauchen. So gesehen, ist es schade, dass die bibliografischen Hinweise zwar umfangreich ausfallen, aber nicht kommentiert werden. Andererseits ist diese Praxis nur zu verständlich, denn das würde ja wieder der angestrebten Konzision zuwiderlaufen.
Also alles in Butter und nichts zu bemängeln? Beinahe: So ist es schade, dass der Untertitel „Leben – Werk – Wirkung“ etwas verspricht, von dem das Buch nur zwei Drittel einhält. Auf einen eigenen Teil zur Kafka-Rezeption haben die Herausgeber verzichtet, einfach weil Kafka laut Vorwort „ohne Zweifel der heute weltweit meistgelesene Autor deutscher Sprache“ ist (neben Hermann Hesse übrigens). Tatsächlich wäre es unmöglich, die komplette Wirkungsgeschichte von Bertolt Brecht bis Haruki Murakami, von Orson Welles bis Steven Soderbergh, von den Simpsons bis zu den Comic-Künstlern Peter Kuper und Chantal Montellier auch nur in einem doppelt so starken Band adäquat aufzuschlüsseln. Hier hätte man sich gerne einen fünfzig bis hundert Seiten starken Teil gewünscht, der stellvertretend einige Akzente setzt, vielleicht nach Rezeptionsmedien gegliedert. Hierhin hätte vielleicht auch die Genese und Rezeption des Adjektivs „kafkaesk“ gehört, über dessen inflationäre Verwendung sich Robert Crumb und David Z. Mairowitz in ihrer Comic-Biografie Kafkas zu Recht aufregen.
Zudem behandelt der vierte Teil Themen wie etwa erzählthereotische Aspekte, Figurenkonstellationen, Kafkas Künstlerbild und seine Darstellung der modernen Welt. Alle diese Themen sind relevant, wirken als Block jedoch etwas heterogen, als hätte man hier alles Wichtige untergebracht, was nicht in eine der ersten drei Sektionen passte. Außerdem ergeben sich so thematische Überschneidungen zwischen den einzelnen Abschnitten. Wer etwas über die von Kafka verarbeiteten literarischen Quellen im „Verschollenen“ erfahren will, muss auch im zweiten Abschnitt nachschlagen, wer wissen will, was es mit dem Maler Titorelli im „Proceß“ auf sich hat, muss auch den vierten konsultieren, wenn ihm nichts entgehen soll. Das ist natürlich in der linearen Textanordnung des Buches nicht zu vermeiden, aber es wäre wünschenswert (wenn auch sehr aufwändig!) gewesen, die Artikel in der redaktionellen Nachbearbeitung stärker durch Querverweise zu ergänzen.
Trotz dieser Kritik: Auerochs und Engel liegen ein exzellentes Handbuch vor, das eben so knapp wie tiefgehend ist. Geeignet ist es für (beinahe) alle: für Kafka-Neulinge in Forschung und Lehre, die sich einen ersten Überblick verschaffen wollen; für Experten, die sich über den aktuellen Stand der Forschung informieren wollen; und schließlich für alle Studierende, die sich – etwa für eine Abschlussarbeit – ausführlich mit Kafka beschäftigen möchten. Für diese letzte Gruppe ist der Anschaffungspreis mit fünfzig Euro etwas hoch gegriffen – dafür bekommt man schon ganze Kafka-Werkausgaben! Aber dieses Buch sollte ohnehin in keiner germanistischen Bibliothek fehlen.
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