Per Anhalter in den Wahnsinn

Ingomar von Kieseritzkys blendender Roman "Kleiner Reiseführer ins Nichts"

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alfred Kacz, ein gescheiterter Wissenschaftler, wohnt in einer kleinen Pension im südenglischen Brighton und verbringt sein Leben mit übermäßigem Alkoholkonsum und pseudo-intellektueller Arbeit. Er verfasst nutzlose Studien mit Titeln wie "Die seelischen Kosten der Arbeit", "Körner-Diät und Exkursionswille" oder "Über die Geschichte des Pantoffelsarkophags", die allesamt nicht über ein rudimentäres Stadium hinauskommen. Kacz' Liebesleben ist ebenso rudimentär: seine Liebe zu zwei Schwestern aus der Pension wird nicht erwidert. Als Kacz ein Brief seines Vaters Viktor erreicht, der in Berlin ein Bestattungsunternehmen mit Namen "Ambrosia" unterhält und ihm eröffnet, dass er im Sterben liege, reist Kacz zu ihm, um seinen Erzeuger möglichst schnell und unkompliziert zu beerben. In Berlin allerdings erwartet Kacz ein Tollhaus: sein Vater - quietschfidel wie nie zuvor - leidet angeblich an der geheimnisvollen Geisteskrankheit "Morbus Pick", die seine Wahrnehmung zerstört und ihm einen Geist namens "Holden" erscheinen lässt; das Personal des Hauses ist absolut durchgeknallt und bestenfalls grenzdebil. Als Kacz von seinem Vater zweifelhafte Aufträge bekommt - er soll Botschaften interpretieren wie "Herr Kacz sen. muss in Florida die Bekanntschaft einer Seekuh namens Aphrodite machen, sonst passiert etwas Schlimmes in Haus oder Garten" -, sieht sich der heimgekehrte Sohn mehr und mehr in ein Netz des Wahnsinns verstrickt. "Die armen Rationalisten" in seinem Innern, die Kacz schon in England mit Argwohn betrachtet hatte, verlassen den Alkoholiker vollends, bis der Weg endgültig in die Psychiatrie führt.

Ingomar von Kieseritzkys Roman "Kleiner Reiseführer ins Nichts" ist ein furioses Kuriositäten-Kabinett, wie es amüsanter nicht sein könnte. Kacz' Kosmos ist skurril und absurd: da tragen Aktenvernichter bedeutungsschwangere Namen wie "Butcher" und sagen Kacz' Zukunft vorher; sein Vater erfindet eine Geisteserkrankung samt einem vor sich hin orakelnden Geist, der des öfteren geräuschvoll furzt, und zwischenmenschliche Bekanntschaften werden durch "Patentwindeln für Inkontinente" begünstigt. Kacz' Weg zum Wissen führt über den Alkohol - er kann sich nur in angetrunkenem Zustand seinen Studien widmen -, sein Weg zum Alkohol führt über das Wissen: im "Bestattungsinstitut Ambrosia" sind hochprozentige Alkoholika zumeist hinter Büchern versteckt.

Besonders amüsant sind die Protagonisten im Bestattungsinstitut, allesamt - eigentlich müßig zu erwähnen - alkoholabhängig. Kieseritzky hat sie liebevoll und mit viel Sinn für Details gezeichnet, und so sind die Charaktere in ihrem individuellen Wahnsinn in sich stimmig: der liebestolle Vater Viktor Kacz, der sich von seinen Pflegerinnen Allegra und Margot baden und an delikaten Stellen massieren lässt, der schwule Doktor Fossler, der Alfred Kacz zeitweilig zu nahe tritt, oder aber der russische Doktor Gussjew, der seltsame Abhandlungen verfasst und schon bei kleinsten Anlässen heftigst gerührt ist.

"Kleiner Reiseführer ins Nichts" ist ein wortgewaltiges Buch mit bisweilen genialem Sprachwitz, der an berühmte Genrevertreter wie Monty Python, Terry Pratchett oder Douglas Adams erinnert. Kieseritzky hat ein untrügliches Gespür für komische Situationen und absurde Momente und überbietet sich selbst in seinem Ideenreichtum von Seite zu Seite. Darüber hinaus hat er eine vergnügliche Satire auf vergeistigte Intellektuellen-Kreise vorgelegt. So versucht Alfred Kacz an einer Stelle, eine Linguistin mit "gletscherblauen, grünen und winternachtsblauen Augen" zu verführen: "Alfred, sagte sie missbilligend, zerstören Sie doch nicht diese gute Stimmung; kümmern wir uns doch lieber um die Bedeutung partieller Synonyme. Kennen Sie die Arbeiten Wiegands und anderer über Heteronyme? Sie duftete nach diesem Satz besonders unerträglich süß, und ich presste ihre Hand."

Deutlich wird vor allem eines: "Kleiner Reiseführer ins Nichts" ist eine Hommage an die Intellektualität, die zugleich den Wissenschaftsbetrieb entlarvt. Kieseritzky führt dem Leser mit einem Augenzwinkern die Verbindung von Wissen und Weltfremdheit, von Genie und dem dicht darauf folgenden Wahnsinn vor Augen.

Prädikat? Sehr empfehlenswert - ein Muss für Douglas-Adams-Fans und eine wohltuende Abwechslung im oft allzu ernsten Literaturbetrieb. Wie lautet sinnigerweise der Schlusssatz des Buches: "Man darf nicht Phantome jagen, die keinerlei Bedeutung haben" - nach der Lektüre dieses "Reiseführers" ein nicht gerade leichtes Unterfangen.

Titelbild

Ingomar von Kieseritzky: Kleiner Reiseführer ins Nichts.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
357 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3608934596

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