Der gerade Weg ist das Labyrinth

Über Olli Jalonens Roman „Vierzehn Knoten bis Greenwich“

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einmal entlang des Nullmeridians um die Erde – Assoziationen zu Jules Vernes Klassiker „In 80 Tagen um die Welt“ oder zu Reiseberichten im Sinne von „Mit dem Fahrrad von Grönland bis Patagonien“ drängen sich geradezu auf. Ist eine Weltumrundung im 21. Jahrhundert wirklich noch Stoff für einen packenden Roman von 450 Seiten? Nach der Lektüre von „Vierzehn Knoten bis Greenwich“ des finnischen Autors Olli Jalonen lässt sich diese Frage eindeutig mit Ja beantworten.

Die wohlhabende Edmond Halley Memorial Society in Greenwich hat zum 350. Geburtstag des berühmten Naturforschers einen Wettbewerb ausgeschrieben. Allein mit Hilfsmitteln, die es bereits zu Halleys Zeiten gab, soll die Erde entlang des Nullmeridians umrundet werden: zu Fuß, mit dem Segelboot oder – zur Überquerung der Polarregionen – per Luftschiff; die Benutzung modernen technischen Geräts wie etwa Mobiltelefonen und GPS-Navigationssystemen ist streng verboten. Im Kontrast dazu wird jede Bewegung der teilnehmenden Teams mit Hilfe von High Tech genau überwacht.

Zu den zwölf Teams gehört ein britisch-finnisches Quartett aus drei Männern und einer Frau: ein Paar und zwei Brüder. Zwei der Reisenden müssen sich sehr eng an das komplizierte und teilweise undurchsichtige Regelwerk halten, während die beiden anderen als Begleitpersonen entschieden mehr Bewegungsfreiheit haben. Sie dürfen jegliches Fortbewegungsmittel benutzen, so dass sie beispielsweise zur Überbrückung sehr anstrengender Passagen mit dem gesamten Gepäck der Reisegruppe in den Zug steigen und an halbwegs vage vereinbarten Orten warten, unter Umständen wochenlang.

Der gerade Weg sei das Labyrinth, heißt es bei Schopenhauer. Am Nullmeridian führt Jalonen vor, was dieser eigentümliche Satz bedeuten kann. Sehr schnell wird die Erdumrundung zur Bühne für das, was sich zwischen den vier Reisenden entwickelt, während die raffiniert konstruierten und sorgfältig recherchierten Bedingungen in den Hintergrund treten. Der Konflikt der beiden Brüder Kari und Petr um ihr Erbe, die Entfremdung des Paares Graham und Isla voneinander, die scheinbar selbstverständliche Unterordnung und der Widerstand gegen Führungsansprüche, die Enge auf dem Boot oder die Erfahrungen mit den eigenen Grenzen und denen der anderen haben eine viel größere Bedeutung als körperliche Strapazen oder Naturgewalten. Es ist ein Navigieren durch innere und äußere Widersprüche, das die gesamte Unternehmung kennzeichnet. Im Äußeren zeigen sie sich als riesiger Müllteppich mitten auf dem Ozean oder als deutsche Luxustouristen in der Südsee.

Obwohl das britisch-finnische Team als letztes das Ziel erreicht, wird es zum Sieger erklärt. „Bedeutungen müssen geschaffen werden, niemand bekommt auch nur eine einzige Bedeutung als fertiges Paket von der Welt überreicht“, begründet die Memorial Society diese Entscheidung. Eine Farce, denn als das Team nach einem Jahr wieder in Greenwich ankommt, ist einer der Teilnehmer tot und von den anderen kann niemand mehr in sein altes Leben zurückkehren. Zuviel hat sich für sie verändert. Der mediale Vermarktungszirkus, den die Veranstalterin nach der Ankunft inszeniert, ist für die Überlebenden eine Zumutung, aber auch dies stehen sie irgendwie durch.

Am Ende fällt dem jüngsten Expeditionsteilnehmer die Aufgabe zu, die letzte Bedingung des Wettbewerbs zu erfüllen und einen vollständigen Reisebericht zu verfassen. Seinem eigenen Bericht, der den größten Raum einnimmt, gesellt er Logbucheinträge und Tagebuchaufzeichnungen der anderen hinzu, so dass einige Teile der Geschichte aus zwei, drei oder vier Perspektiven erzählt werden. Man gewöhnt sich schnell an die Perspektivwechsel, die dem Bericht Authentizität verleihen. Doch sollte man nicht vergessen, dass man den offiziellen Bericht für die Memorial Society in den Händen hält, die nicht alles erfahren muss. Der Autor konturiert den Reiseverlauf in eher groben Strichen, doch scharf genug, dass man stets die Orientierung behält und sich nicht in den Weiten des Ozeans verliert.

Olli Jalonen stellt seine Hauptfiguren immer wieder vor die Frage: Warum das Ganze? Warum sich diesen grotesken Regeln unterwerfen? Warum nicht einfach aussteigen? Jeder und jede hat Gründe, die jedoch nur selten klar erkennbar werden, vieles bleibt sowohl für die Hauptfiguren als auch für die Lesenden diffus. Olli Jalonen wirft mehr Fragen auf als er Antworten anbietet. Die Spiel- und Denkräume, die dadurch entstehen, machen einen besonderen Reiz des Romans aus: Sie weisen über die fesselnde Geschichte hinaus und schaffen eine Verbindung zur ganz alltäglichen Lebenswelt der Leserin und des Lesers.

Mit Leichtigkeit und Vergnügen folgt man Olli Jalonens klarer Sprache. Ihm gelingt die Verbindung von einem ruhigen Erzählfluss mit einem Spannungsbogen, der es schwer macht, das Buch aus der Hand zu legen. Nicht umsonst gehört Olli Jalonen zu den bekanntesten Autoren Finnlands. Seine literarische Entdeckung für die deutschsprachige Leserschaft ist dem Hamburger Mareverlag zu verdanken, der „Vierzehn Knoten bis Greenwich“ in der kongenialen Übersetzung von Stefan Moster in einer sehr schönen Aufmachung herausgebracht hat.

Titelbild

Olli Jalonen: Vierzehn Knoten bis Greenwich. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Stefan Moster.
Mare Verlag, Hamburg 2010.
463 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481244

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