Die Kleine in der großen Welt

Karl-Markus Gauß erzählt in seinem Reise-Bericht „Im Wald der Metropolen“ von der Geografie und Geschichte Europas

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der aus Indien stammende Historiker der Universität Chicago, Dipesh Chakrabarty, beschreibt in „Provincializing Europe“ diesen Kontinent als Provinz. Er weist darauf hin, dass in einer globalisierten Welt auch die Historie Europas als eine unter anderen Geschichten von Provinzen zu behandeln ist. Der in Salzburg lebende Karl-Markus Gauß wiederum weist als Essayist („Das europäische Alphabet“) und Verfasser von Reisebüchern („Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone“, „Die Hundeesser von Svinia“) immer wieder auf die Bedeutung der Provinz für Europa hin. Wie Chakrabarty sieht Gauß das Nebeneinander verschiedener grundsätzlich gleichberechtigter Erzählungen. Bei Gauß meint Provinzialisierung vor allem, dass das Ganze Europas nicht verstanden werden kann, ohne die Eigenart und damit die Geschichte ihrer Provinzen zu beachten.

Die 13 Kapitel von „Im Wald der Metropolen“, die jeweils durch Zwischentitel gegliedert sind, sind verknüpft durch europäische Geographie und Geschichte und den Erzähler, der selbstkritisch und ironisch sein „persönliches und imaginäres Europa“ ersinnt. Wir Leser reisen mit ihm kreuz und quer durch den Erdteil von Burgund nach Transsilvanien, von Thüringen auf eine griechische Insel, nach Slowenien, Italien, Kroatien, in Großstädte wie Belgrad, Istanbul oder Wien und in Orte wie das gut 250 Einwohner zählende slowenische Dragatuš. Hier hat der Schriftsteller Oton Zupancic seine Kindheit verbracht, „der sich in Dragatus nach dem Glanz, dem nächtlichen Lärm, den Aufbrüchen von Wien und Paris gesehnt hatte und der in den Metropolen von den Rändern träumte“.

Ein Widerspruch, auf den Karl-Markus Gauß immer wieder verweist, etwa unter Hinweis auf die Schriften Alfred Margul-Sperbers, dessen erste Gedichtbände „bald expressiv den ,Zauber der Industrien‘, den ,Riesenleib‘ der Großstadt, bald elegisch das Rauschen des Waldes, das nächtliche Dorf“ beschwören. Er ist einer jener Europäer, der „sich zwischen der Metropole, der großen Welt und der Provinz, der kleinen Welt am Rande nicht entscheiden mochte“. Die Lektüre von „Im Wald der Metropolen“ öffnet den Blick für solche Dichotomien. Europa ist nicht nur ein Projekt der großen Metropolen, sondern wurde (und wird) auch von den Rändern her mitgestaltet.

Gauß kennt ein enorme Zahl von Schriftstellern und Gelehrten, die heutzutage in keinen deutschsprachigen Schulbüchern verzeichnet sind. Er versteht es dabei vortrefflich, ohne jemals Langeweile aufkommen zu lassen, Biografien in Erinnerung zu rufen. Er ist ein Erzähler, dem es gelingt, auch wenn die Rede vom 16. Jahrhundert ist, glaubhaft zu machen, dass er von heute, von Europa und sich selbst spricht. Dabei weiß der zuletzt mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay ausgezeichnete Salzburger um die Gefahren jeder Reise und notiert zu dem Altertumsforscher und Schriftsteller Jan Kollár: „Zu ihm gäbe es viel zu erzählen, aber auch ein Buch der Abirrungen darf nicht jeden Seitenweg bis zum Ende gehen, zumal es dieses Ende nicht gibt, da es mich auf den Seitenwegen tatsächlich immer weiter und weiter führen würde.“

Freilich ist es nicht so, dass dieses Buch der „Abirrungen“ und „Seitenwege“ nicht auch ein Zentrum hätte. Dieses geht in all den Reisebewegungen nie verloren. Es ist ein entschieden der Tradition des europäischen Humanismus folgender Ansatz, der versucht die Freiheit und Würde des Andersdenkenden zu achten. Der Erzähler, der in der Kirche in Sélestat in Atemnot gerät und befürchtet, dass ihn die Atemnot „zum beschämenden Abschluss eines wackeren Atheistenlebens womöglich doch auf die Knie“ und zu einem „Blick flehend auf das Kreuz über den Altar zwingen werde“, ist kein Fundamentalist, sondern benennt als „verkehrte Welt“ eine, „in der es den Ungläubigen übertragen ist, an den Wert zu erinnern, den das Christentum für die Aufklärung hatte“.

Es regnet viel während dieser Reisen. Selten nur scheint die Sonne, und dann manchmal nur um all das Unrecht, wozu Menschen fähig sind, umso deutlicher zu machen. „Unter stechender Sonne“ wird das Konzentrationslager Jasenovac aufgespürt, jenes Lager, in dem der faschistische Staat der kroatischen Ustascha Juden, orthodoxe Geistliche, Muslime, Serben, Roma, Kommunisten aller Nationalitäten sowie Kroaten ermordet hatte.

Gauß verliert sich nicht in der fernen Geschichte, erinnert an die Vergangenheit der Balkankriege und macht verständlich, dass diese Geschichte nicht vergangen ist. „Im Wald der Metropolen“ ist ein ungewöhnliches Buch, das auf Vergessenes, Randständiges verweist und dabei deutlich macht, dass es ein Gewinn ist, wenn wir bereit sind, noch einmal zu überprüfen, was im kollektiven Gedächtnis Europas erhalten bleiben soll.

Titelbild

Karl-Markus Gauß: Im Wald der Metropolen.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010.
303 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055056

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