Der Outsider als Insider

David Remnicks Biografie Barack Obamas erzählt die Geschichte und Vorgeschichte einer einzigartigen politischen Karriere

Von Thomas StachelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Stachel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 4. November 2008 fanden die Wahlen statt, die Barack Obama nach einem fast zwei Jahre währenden und 760 Millionen Dollar verschlingenden Wahlkampf zum vierundvierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten gekürt haben. Seitdem ist geschehen, was nach Wahlen fast immer zu geschehen pflegt: Der neue Amtsinhaber mitsamt seinen Fans und Kritikern ist im Klein-Klein des Alltags angelangt. Trotz des historischen Durchbruchs, den der Einzug einer schwarzen Familie ins Weiße Haus bedeutet und trotz tea party, Irak, Afghanistan, Rezession, Friedensnobelpreis und midterm-Wahlschlappe herrscht in der politischen Kultur der USA wieder weitgehend business as usual. Und doch kann, wer David Remnicks fast tausend Seiten starke Biografie Obamas liest, angesichts der Unwahrscheinlichkeit und der Konsequenz, mit der sich der Aufstieg dieses Mannes ins mächtigste Amt der Welt vollzogen hat, leicht erneut ins Staunen geraten.

Die Unwahrscheinlichkeit beginnt bereits mit dem Namen des Bewerbers. War er „bei seinen Kandidaturen noch nie ein besonderer Pluspunkt“, so wird er nach den Anschlägen des 11. September zu „einer Art grausiger Pointe“: „Jetzt reimte sich sein Name auch noch auf den des berüchtigtsten lebenden Terroristen.“ (Obamas zweiter Vorname, Hussein, machte die Sache nicht einfacher). Ein Hindernis war zunächst auch Obamas Herkunft. Eine Vita, die von Hawaii und Indonesien bis nach Harvard und Chicago reicht, ist politisch nicht einfach zu verkaufen. Und ihrem Inhaber, der größtenteils bei seinen Großeltern aufwuchs, bescherte sie überdies Jahre der Einsamkeit und Frustration. Wenn Remnick beschreibt, wie Obama Ende der 1980er-Jahre als ernster Asket durch das winterliche Chicago stapft, um als community organizer marginalisierten Bevölkerungsschichten zu helfen, dann sucht er dabei auch nach einem Ankerplatz für das eigene Leben.

Über all dies berichtet Obama sehr feinfühlig in seiner Autobiografie, die er bereits als Dreißigjähriger verfasste. Eine der großen Stärken von Remnicks Buch besteht jedoch darin, dass es bei diesen und anderen Selbstaussagen nicht stehenbleibt. Mithilfe eigener Recherchen werden Obamas Ausführungen behutsam analysiert, kritisiert und in einen größeren Rahmen gestellt. Dadurch werden sie gleich um mehrere Dimensionen erweitert. Die weit über hundert Personen, die hierfür interviewt worden sind, werden im Anhang des Buches einzeln aufgeführt. Die Liste liest sich wie ein Who is Who der Polit- und Medienlandschaft Amerikas.

In der Zeit der Wahlkämpfe in Chicago und Illinois wird Obama zu einem effektiven Spendensammler und politischen Ausdauersportler. Die Jahre, die er als State Senator in Springfield verbringt, machen ihn zu dem Pragmatiker und Realisten, als der er heute gefeiert und gescholten wird. Die republikanische Mehrheit blockt fast alles ab, vorwärts geht es kaum, und der Sitzungsalltag ist öde bis zum Umfallen. Der Versuch, auf der Leiter die nächste Stufe zu erklimmen, endet mit einer herben Niederlage: Den Kampf um einen Sitz im Repräsentantenhaus verliert er haushoch gegen einen Veteranen der Black Panther-Bewegung. Der Grundstein für alles Folgende ist indes gelegt: Obama ist durch die endlosen Verhandlungen und Tauschgeschäfte zu einem begnadeten Netzwerker und Vermittler geworden.

Sinnfällig wird Obamas Vermittlungsgabe zum ersten mal im fulminanten Prolog des Buches. In ihm geht es um den jährlichen Gedenkmarsch über eine Brücke in Selma, Alabama, den die schwarze Bürgerrechtsbewegung seit 1965 durchführt. 2007 hält Obama in Selma eine Rede, die für seine politische Zukunft zu einem Meilenstein werden sollte. Remnick schöpft ihren reichen Bedeutungsgehalt gleich in mehreren Wellen ab, denn in ihr zeigt sich Obama als Brückenbauer quer durch die amerikanische Gesellschaft. Im englischen Originaltitel des Buches verdichtet sich all dies zu einem Symbol für Obamas gesamte Lebensgeschichte: „The Bridge: The Life and Rise of Barack Obama“.

Die Überzeugungsarbeit, die es zu leisten galt, war gewaltig. Den Helden der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die Obama verehrt und deren Unterstützung er benötigt, gilt er zunächst als dahergelaufener Spätling. Die Meinung war, er wolle sich der von Kämpfen geprägten afroamerikanischen Tradition einschreiben, ohne wirklich aus ihr zu stammen. Der weißen, überwiegend konservativen Mittelschicht im Herzen des Landes ist Obama dagegen anfangs zu exotisch, um als echter Amerikaner durchzugehen. Auch glauben sie, sie hätten es in seiner Person mit einem Politiker zu tun, dem es vor allem um eine afroamerikanische ‚Agenda‘ gehe. Den Pazifisten und Progressiven innerhalb der demokratischen Partei wiederum ist er zu pragmatisch und kompromissbereit. Und die meisten Republikaner – fast 50% der Wählerschaft – werden ihm ihre Stimme ohnehin nicht geben, weil sie Republikaner sind. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion bei Fans und Kritikern bleibt jedoch das Thema ‚Rasse‘. Wie tief hier manche Wunden gehen, zeigt eine der bedrückendsten Passagen des Buches: Viele Afroamerikaner, die zu Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes Skepsis gegenüber Obamas Kandidatur bekunden, nennen dafür vor allem zwei Gründe: Er hat ohnehin keine Chance. Und: Er wird einem Attentat zum Opfer fallen.

Ein Hindernis ganz anderer Art erwächst Obama aus seiner schärfsten Konkurrentin um die demokratische Nominierung: Hillary Clinton. Der monatelange Kampf, der sich zwischen den beiden entspinnt, gehört zu den spannendsten Erzählungen des ganzen Buches. In ihm und in den sich anschließenden Gefechten mit John McCain tritt in filigraner Weise das politische und kulturelle Geflecht der USA hervor.

Remnicks Buch lässt sich grob in zwei Teile unterteilen: Der erste handelt von Obamas Kindheit, Jugend und Ausbildung. Der zweite umfasst das eigentliche politische Leben Obamas, und dieses heißt vor allem eines: Wahlkampf, Wahlkampf, Wahlkampf. Das durchquerte Terrain reicht dabei von den Clubs der Chicagoer Geldelite über Grillpartys im Hinterland von Illinois bis hin zur triumphalen Rede auf dem demokratischen Parteitag in Boston im Jahr 2004, mit der Obamas raketenhafter Aufstieg beginnt. In den Boston-Passagen hat man als Leser den Eindruck, als würde man Obama den ganzen Tag wie ein Detektiv auf den Fersen kleben. Wie in Echtzeit folgt man ihm bei seinen Vorbereitungen durch die Katakomben der Veranstaltungshalle und begleitet ihn in einem Herzschlagfinale hinaus bis ans Rednerpult. Hier zeigt sich Remnicks jahrzehntelange Erfahrung als Reporter der „Washington Post“ und als Chefredakteur des „New Yorker“. Sein Stil ist beobachtend, sachlich, und obwohl die Darstellung unverkennbar von Sympathie getragen ist, wird man Hofberichterstattung vergeblich suchen.

Im Vergleich zu solchen Kamerafahrten können die stärker historiografischen Teile des Buches gar nicht anders, als bisweilen statisch zu wirken. Die Beschreibung des einzigartigen politischen Biotops Chicago ist ein Glanzstück. Anderes hingegen weist hin und wieder Längen auf. Anstatt es etwa dabei zu belassen, kurz die Bedingungen zu skizzieren, die Obamas kenianischem Vater ein Studium in den USA ermöglichen, erzählt Remnick ausführlich von dem kenianischen Politiker, der das Bildungsprogramm ins Leben gerufen hat, das diesen Austausch organisiert. Auch wenn es um Obamas Mutter geht, ist die Verweildauer an manchen Stellen ein wenig zu lang. Es ist unbestritten, dass Ann Dunham als Bezugsperson ungleich wichtiger für Obama ist als der schon früh verschwundene Vater. Auch sind ihre Neugier und ihr Interesse an fremden Kulturen in vielerlei Hinsicht prägend für die Weltsicht des heutigen Präsidenten. Wenn es aber heißt, dass sie für Recherchen zu ihrer anthropologischen Dissertation erst „die Schmiede des Dorfes Kajar in der zentraljavanischen Region Gunung Kidul von ihren Absichten überzeugen musste“, dann beschleicht einen das Gefühl, als habe Remnick seine Lesereisegruppe hier auf einen Nebenschauplatz gefahren und vergessen, sie rechtzeitig abzuholen.

Ein paar Worte zur Übersetzung: Das englische Original ist ein durch und durch amerikanisches Buch. Es bietet eine Unzahl idiomatischer Redewendungen und kulturspezifischer Informationen. Die deutsche Fassung, von drei Übersetzern in Rekordzeit erstellt, wird der Herausforderung, die in der Übertragung und Erläuterung eines solchen Datenberges liegt, bis auf wenige Ausnahmen gerecht. In den USA ist Remnicks Buch ein Bestseller. Es ist die umfangreichste und am aufwändigsten recherchierte Studie zu Obamas Leben auf dem Markt. Man lehnt sich nicht sehr weit aus dem Fenster, wenn man annimmt, dass sie sich auch in Deutschland als Standardwerk etablieren wird.

Titelbild

David Remnick: Barack Obama. Leben und Aufstieg.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Friedrich Griese, Christina Knüllig und Bernd Rullkötter.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
976 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783827008930

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