Verliebte (alte) Männer und ein liebendes Paar
Paul Strand und Alfred Stieglitz, John Updike und Philip Roth verehren natürliche weibliche Schönheit
Von Dirk Kaesler
Es war dieser Blick! Zwei dunkle Augen sahen mich direkt, ruhig und nachdenklich an:
Unter dem großen Bild, das fast die ganze obere Hälfte der ersten Seite des Feuilletons einnahm, stand: „Paul Strand, Rebecca, New York, um 1923“. Der Bericht über eine aktuelle Ausstellung von Fotografien von Alfred Stieglitz, Edward Steichen und Paul Strand, weckte meinen regelmäßig aufflackernden Neid auf den New-York-Kulturkorrespondenten Peter Hammel um seine Aufgabe, unter dem Namen „Jordan Mejias“ regelmäßig aus dieser in jeder Hinsicht berauschenden Metropole berichten zu dürfen. Er entzündete zugleich meine Neugier auf einen mir unbekannten Fotografen. Die Altmeister Alfred Stieglitz (1864-1946) und Edward Steichen (1879-1973) kannte ich, nicht jedoch Paul Strand.
Wie dem einschlägigen Text der Homepage des New Yorker Metropolitan Museum of Art, in dem die genannte Ausstellung bis zum 10. April gezeigt wird, zu entnehmen ist, handelt es sich um ein Foto, das der amerikanische Fotograf Paul Strand (1890-1976) von seiner damaligen Frau Rebecca Salsbury machte. Ich wusste nichts über diesen Fotografen und machte mich auf die Suche nach mehr Informationen, die ich mit meiner Leserschaft an dieser Stelle teilen möchte. Die amerikanische Ausgabe von Wikipedia gibt erfreulich detaillierte Auskunft über diesen Sohn böhmischer Einwanderer, der aus seinem jugendlichen Hobby des Fotografierens eine allmähliche berufliche Tätigkeit machte, der in den 1920er- und 1930er-Jahren in den USA und Mexiko fotografierte und Filme drehte, der der Sympathie mit Kommunisten verdächtigt wurde – er bestand beispielsweise darauf, dass seine Bücher in der DDR gedruckt wurden, auch wenn sie das für den US-amerikanischen Markt unzugänglich machte – und darum im Jahr 1949 vor dem herrschenden McCarthy-Meinungsterror nach Frankreich floh, wo er im März 1976 starb. Er wird zu den ganz großen Fotografen des 20. Jahrhunderts gezählt, vor allem wegen seiner kompromisslosen Suche nach der Wahrheit hinter den Bildern, was sein Mentor Alfred Stieglitz so formulierte: „Strand hat etwas Neues dem Alten hinzugefügt. Seine Aufnahmen sind brutal, direkt, frei von jeglichem Humbug, frei von Kunstgriffen und unbeeinflusst von jeglichem Ismus.“
Der fotografische Blick auf die Frau: damals und heute
Es war weniger das Kennenlernen eines mir bis dahin unbekannten Fotografen, es war sein Blick auf die Frau auf dem Zeitungsbild, der mich veranlasste, einen Bildband zu erwerben, in dem eine Ausstellung aus dem Jahr 1966 dokumentiert ist, die einen Teil jener Fotoserie zeigte, aus der das Bild in der Zeitung stammt.
Diese Ausstellung, zehn Jahre vor Paul Strands Tod, zeigte einen sehr kleinen Teil jener angeblich mehr als hundert fotografischer Porträts, die Strand von seiner ersten Frau Rebecca in den Jahren 1920 bis 1932 machte. Diese Serie war ästhetisch ganz offensichtlich wiederum von jener sehr viel bekannteren Serie beeinflusst, die sein Mentor Alfred Stieglitz von seiner Ehefrau, der Malerin Georgia O’Keeffe, etwa zur gleichen Zeit gemacht hatte. Erst diese vierzehn Bilder Paul Strands verdeutlichen, von welcher Hingabe, Bewunderung und Liebe sein Blick auf die natürliche Schönheit seiner Frau Rebecca geprägt war. Durch die Weiterentwicklung der fotografischen Technik kam er weg von den Einschränkungen durch die früher sehr langen Belichtungszeiten und konnte daher ab etwa 1922 seine Frau auf einem Bett liegend porträtieren. Das konventionelle Porträt von vorne wurde ersetzt durch den intimen Blick des Verliebten, dessen Hochachtung der vor ihm liegenden oder stehenden, natürlichen weiblichen Schönheit aus jedem Bild spricht.
Legt man diese Bilder von Paul Strand neben jene über 350 Fotografien, die Alfred Stieglitz von Georgia O’Keeffe in den Jahren 1918 bis 1925 machte, und lässt man jene Fotos vor dem inneren Auge Revue passieren, die uns heute allgegenwärtig anspringen, sowohl in Filmen als auch in der Werbung, so fällt es nicht leicht, nicht über den Verlust von ästhetisch-sinnlicher Qualität zu trauern.
Man vergleiche allein die drastische Veränderung des männlichen Blicks auf die Frau, wie sie sich in der bisherigen Arbeit des 1958 in Eisenach geborenen deutschen Fotografen Thomas Karsten in bislang vierzehn Fotobänden niederschlägt: Von den frechen, ehrlichen und zugleich einfühlsamen Abbildern seiner Freundinnen und Freunde zu DDR-Zeiten, wie sie in seinem Band „Thomas – mach ein Bild von uns!“ (1988) gesammelt sind, bis zu seinem letzten Bildband „Heat“ (2009), den man nur noch einfallslos pornografisch nennen kann. Legt man diese Bände von Karsten neben Arbeiten eines seiner ehemaligen Lehrmeister während seiner Leipziger Studienzeit, den 1926 geborenen Günter Rössler, so wird der Druck der zeitgeistgeprägten normierten, bundesrepublikanisch-amerikanischen Vorstellungen von Ästhetik unmittelbar spürbar.
Weg von den deutschen Kleinmeistern, zurück zu den amerikanischen Großmeistern: Es ist nicht unbekannt, dass gerade die Bildserien von Stieglitz und Strand von ihren Frauen auch als Dokumente interpretiert werden können, die zeigen, wie sehr sich auch in den USA die bis dahin viktorianisch geprägte, prüde Mittelschichtgesellschaft der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts in eine verwandelte, in der die Geburtenrate sank und die Scheidungsraten stiegen. Die sexuelle Revolution jener Zeit ging auch an den Beziehungen sowohl zwischen Stieglitz und O’Keeffe als auch zwischen Strand und Salsbury nicht spurlos vorüber: Alfred Stieglitz hatte sich von seiner ersten Frau, Emmeline Obermeyer, 1918 scheiden lassen, heiratete Georgia O’Keefe 1924, von der er sich fünf Jahre später trennte – und lebte danach in einer bis zu seinem Tode anhaltenden Liebesbeziehung mit Dorothy Norman; Paul Strand ließ sich 1932 von Rebecca Salsbury scheiden, war danach mit Virginia Steven und anschließend bis zu seinem Tod mit Hazel Kingsbury verheiratet. Das alles ändert nichts daran, dass alle diese Frauenbilder, die aus diesen leidenschaftlichen und gewiss auch schmerzhaften Beziehungen zwischen einem fotografierenden Mann und Liebhaber und einer fotografierten Frau und Geliebten entstanden, eine Hingabe an die geliebte Person dokumentieren, die heute ihresgleichen sucht.
Der literarische Blick auf die Frau: damals und heute
Bedenkt man neben diesen fotografischen Dokumenten ästhetisch gebändigter Sinnlichkeit und Bewunderung jene literarischen Versuche der Verewigung einer sehr ähnlichen Verehrung weiblicher Schönheit und Anziehungskraft, wie sie uns etwa in den Romanen von John Updike und Philip Roth entgegenschlägt, und vergleicht diese mit der Behandlung von Frauen in aktuellen Texten etwa von Michel Houellebecq oder Rainald Goetz, dann gelingt es mir auch hier nicht, ein schmerzliches Gefühl von kulturellem Verlust zu empfinden.
Natürlich kann man Houellebecqs „Plateforme“ (2001), diese kalte Beschreibung der Erlebnisse des vermutlich semi-autobiografischen Touristen Michel, der durch die Prostituierten-Hochburgen Thailands vagabundiert, um seine schier unstillbare Sex-Gier zu befriedigen, auch lesen als kritische Analyse der Verirrungen männlicher Sehnsucht. Man kann auch, wenn man gutwillig ist, in dem Textchen „Rave“ (1989) von Rainald Goetz, diesem inzwischen nicht mehr ganz so jungen Stirnschlitzer von Klagenfurt, den Versuch sehen, eben jene Szene, in der es nur mehr um Saufen, einfallslosen Sex, Gewalt und um alle Arten von Drogen und Drogenkaputtheit geht, zu kritisieren. Der Ich-Erzähler isst eine Viertel Pille, steht bebend im erotischen Spannungsfeld tanzender Frauen und spürt seinen Körper: im Kopf rauschen die Drogen, das Bauchfell vibriert im Takt der Bässe, und er steht mit offenem Bubenmund vor dem Mysterium Frau: „Die Frau. Unglaublich. Das war mir gar nicht so klar gewesen bisher. Das Frauen-Ding. Was das überhaupt für ein tolles Ding ist. Mir war das neu. Ich kannte das nicht.“
Als älterer Mann fragt man sich doch, was mit diesen jungen Männern geschehen ist, dass sie entweder nur mehr einen sarkastischen Zugang zum anderen Geschlecht wählen oder einen oft so erschreckend verachtenden? Können sie überhaupt die atemlose Hingerissenheit eines David Kepesh für Consuela Castillo nachempfinden, wie sie in Philip Roths Roman „The Dying Animal“ so schamlos ehrlich geschildert wird? Haben die Hinterlassenschaften der sexuellen Revolution der 1970er-Jahre nur noch unromantisch vereinsamte Männer in einer Single-Gesellschaft erzeugt, die sich allenfalls pornografische Bilder von Barbie-Puppen im Netz ansehen, am „besten“ solche von Kindern?
Auch die damaligen Rezensionen der deutschen Übersetzungen dieses Buches des Immer-Noch-Nicht-Nobelpreis-Trägers Roth aus dem Jahr 2003 dokumentierten einen solchen Bruch der Generationen: Der Berliner Journalist Gerrit Bartels (Jahrgang 1965) glaubte in der „taz“ nur noch „schlüpfrige Altmännerfantasien“ in diesem Buch von Roth zu erkennen, wohingegen der Altmeister der deutschen Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki (Jahrgang 1920), in ihm einen „bedeutenden Roman“ sah, dem es gelungen sei, ein Bild der sexuellen Besessenheit zu zeichnen, „konkret und kritisch und zugleich ergreifend“, sowie ein Bild des „Außersichseins der Liebenden“. Mit der vierundzwanzigjährigen kubanischen Studentin, in die sich ein fast vierzig Jahre älterer amerikanisch-jüdischer Professor verliebt, habe Roth außerdem eine der schönsten Frauenfiguren der neueren amerikanischen Literatur geschaffen. Der Roman Roths erzählt Reich-Ranicki zufolge auch „von Sex als Vergeltung für den Tod, von der Polarität von Sex und Intellekt“.
Wer schreibt heute noch in dieser Weise? Welcher heutige Mann schreibt noch so über die Leidenschaft zu Frauen wie der verstorbene John Updike (1932-2009) oder der heute 78jährige Roth? Welcher gegenwärtige Schriftsteller kann mithalten mit jener Schilderung des damals 64 Jahre alten Max Frisch in seiner kleinen Erzählung „Montauk“ aus dem Jahr 1975, wie er hinter der jungen Lynn in Richtung Strand geht und ihre helle Bluse in der Sonne, die blasse Haut einer Rothaarigen und deren roten „Roßschwanz“, den sie mit einer scharfen Bewegung hinter ihre Schultern wirft, fotografisch in sich hineinsaugt?
Der gegenseitige Blick eines Paares
Es sind immer männliche, verliebte Blicke auf ihre Frauen. Wo bleiben die Gegenstücke? Und wo bleiben die wechselseitigen, reziproken Blicke?
Nur von einem einzigen Paar in der Geschichte der Fotografie weiß ich, dass sich über Jahrzehnte gegenseitig liebevoll und schonungslos zugleich fotografiert hat, und dadurch die Entwicklung ihrer gegenseitigen Liebe dokumentiert hat. Was die Männer Stieglitz und Strand von und für ihre Frauen machten, unternahmen der Fotograf Helmut Newton und die Fotografin Alice Springs. Über 50 Jahre lebten sie zusammen, arbeiteten zusammen in Ausstellungen – gemeinsamen und getrennten – und Büchern – gemeinsamen und getrennten. Die veröffentlichten Porträts, die Helmut Newton von seiner Frau June machte, die vor ihrer eigenen Fotografinnenlaufbahn unter dem Künstlernamen „June Brunell“ als Schauspielerin eine Karriere verfolgt hatte, beginnen mit Bildern aus dem Jahr 1947 und enden 1997, nur sieben Jahre vor Newtons Tod. Die veröffentlichten Porträts ihres Mannes, die die Fotografin „Alice Springs“ – um nicht im Schatten des Ruhms ihres berühmt gewordenen Fotografenehemanns zu stehen – machte, beginnen mit Bildern aus dem Jahr 1956 und enden 1999. In dem großartigen Band „us and them“ aus dem Jahr 1998, kann man sie sehen, diese fotografischen Blicke einer Frau auf ihren Mann, einer Frau auf sich selbst, eines Mannes auf seine Frau, eines Mannes auf sich selbst. Und dazu noch Blicke beider auf andere Menschen. Und dann auch noch gemeinsame Blicke auf ihre Gemeinsamkeit zu zweit. Die vielleicht anrührendsten Bilder sind wohl jene, die Helmut Newton von June Newton im Krankenhausbett 1982 machte.
Wer diese Bilder gesehen hat, versteht möglicherweise besser, was jenen Mann wirklich trieb, der bei manchen nur für seine „Big Nudes“ bekannt geblieben ist. Jene grandiose Verleumdung, die Alice Schwarzer im November 1993 an Helmut Newton übte, seine Fotos seien nicht nur sexistisch und rassistisch, sondern auch faschistisch, hat nie die große Zärtlichkeit und die grenzenlose Verehrung weiblicher Schönheit erkennen wollen, die diesen fotografischen Blick des Helmut Neustädter aus Berlin (1920-2004) beherrschte.