Haffners Hölle ist die Welt

Zu Adam Thirlwells seltsamem Roman „Flüchtig“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haffner ist ein älterer Herr. Haffner ist egoistisch. Und er ist offensichtlich nicht lernfähig. Aber vor allem ist er ein unverbesserlicher Erotomane. Mit diesen Attributen versehen ist die Hauptfigur in Adam Thirlwells neuem Roman „Flüchtig“ ein scheinbar interessanter Charakter. Dabei trifft es der englische Titel „The Escape“ eigentlich besser. Bei dem Begriff „Flüchtig“ tauchen Assoziationen in Hinblick auf Vergänglichkeit, Verfall und Auflösung auf, die letztendlich natürlich auch den Begriff der „Flucht“ implizieren. Und vielleicht ist es sogar eine reale Flucht, die dem Leser vor Augen geführt wird. Dass dies keine abenteuerliche Reise sondern eher eine Flucht vor der eigenen Identität ist, wird dem Leser erst nach und nach bewusst. Zuerst einmal wird man mit einem älteren Herren bekannt gemacht, der eher einem Klischee als einer wirklichen Person entspricht: „Haffner war lüstern, egoistisch, eitel – ein ganz gewöhnlicher Mann.“

Aber Thirlwell baut diesen „Entwurf“ seines Protagonisten systematisch weiter aus: „Ich muss zugeben, dass Haffner nicht der übliche Großvater war. Er schätzte Eigenarten wie Feigheit, Obszönität, Charme und lose Moral. Er hatte Schneid.“ Hinzu kommt die detaillierte Beschreibung des sozialen Umfeldes Haffners. Die eigentliche Handlung des Romans beschränkt sich auf einen osteuropäischen Kurort, in dem der Protagonist sich aufhält, um Erbschaftsangelegenheiten zu klären, die ein Haus betreffen, mit dem ihn ein tiefes emotionales Verhältnis verbindet. Seine Bezüge zur eigenen Vergangenheit sind aber nahezu aufgelöst: „Morton war inzwischen auch tot. Wie alle Menschen, die Haffner geliebt hatte, einschließlich seiner Frau.“ Seine Visionen von der Gegenwart schwanken zwischen Realität und Vision: „Haffner hatte in den Farben etwas entdeckt, das er liebte. Er wusste selbst nicht genau, was es war. Doch er wusste, dass er es bewunderte. Diese Welt jenseits der Welt – in der alles rein war.“ Dass diese Art der Weltsicht auch eine merkwürdig verschobene Romantik entbirgt, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Denn der Wunsch nach den realen Dingen beherrscht weiterhin die Welt Haffners: „In welchem Alter werde die Lust den Körper von Raphael Haffner verlassen?“ Und so wie der Protagonist seine eigene Geschichte scheinbar immer wiederholt, so bewegt er sich gleichzeitig von sich selbst weg und verliert sich.

Diese Denkfigur des Verlorenseins, die Thirlwell im letzten Drittel des Romans aufnimmt, rettet den zwischenzeitlich manchmal etwas ins Stolpern gekommenen Roman und transferiert die Geschichte von einem verzweifelten, alternden und scheiternden Individuum zu einem Paradigma der Moderne: „Derweil betrachtete Haffner im Licht der Neonröhre sein altes Gesicht. Er war der Endpunkt der Moderne. Hinter ihm stand ein Eimer, in dem ein Mopp einweichte. Er hätte es wissen müssen, dachte er: So endete es oft – Mit Haffner als Clown.“ Die Zeichen der Auflösung und des Todes verdichten sich zum Ende des Romans. Die Romanfigur hat sich ihr eigenes Schicksal sicherlich anders gedacht, aber da der Lebensentwurf dieses verzweifelten Erotomanen von Hoffnungslosigkeit durchtränkt ist, wird Haffner zu einer Art Flaneur des 21. Jahrhunderts, erlöst in einem Badeort am Ende der Welt: „Hier war er allein. Alle anderen wanderten, schwammen oder lagen neben den Pools. Oder ließen sich von unerwünschten Leiden kurieren. Doch Haffner verlor sich in einem hartnäckigem, wie losgelösten Gefühl des Dahintreibens.“

Dem Autor gelingt in „Flüchtig“ eine an Thomas Manns „Zauberberg“ erinnernde Atmosphäre und er schreibt eine Parabel über die Auflösung und das Verschwinden einer Existenz in den Randgebieten unserer Zivilisation. Selbst die mögliche Rettung des Protagonisten durch Kunst wird negiert: „Lasst mich mein eigener Autor sein! Das war Haffners Schrei. Er wollte seine Geschichten selbst erfinden, während er durch sein Leben zog. Doch das war ihm früher nie gelungen, und es gelang ihm auch jetzt nicht.“

Dass Oszillieren des Buches zwischen dem Protagonisten als Charakter und seiner Stellvertreterfunktion, die Vielschichtigkeit der Erotik und deren Wechselspiel mit Vergänglichkeit und die Auflösung der ganzen Geschichte in dieser seltsamen atmosphärischen Verdichtung eines dem Leser eigentlich unsympathischen Lebens erzwingen die literarische Qualität des Romans – auch wenn dies sich dem Leser erst zum Ende des Romans erschließt. Und letztendlich passiert ja doch nur das, was im Buch steht. Haffner, immer Protagonist und Paradigma, verschwindet: „Je mehr ich über Haffner wusste, desto wirklicher wurde er. So viel stimmte. Aber gleichzeitig verschwand er.“ Fast so, wie damals Hans Castorp.

Titelbild

Adam Thirlwell: Flüchtig. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Henning Ahrens.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
384 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100800503

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