Toughe Frauen, jammervolle Männer

Helke Sander und Iris Gusner haben eine „biografische Zwiesprache“ publiziert, die viel über die Gründungszeit der Frauenbewegung verrät

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Iris Gusner und Helke Sander, zwei der ersten deutschen Filmregisseurinnen, die eine Ossi, die andere Wessi, blicken zurück auf ihre ersten 60 Jahre, von der Kriegs- und Nachkriegszeit etwa bis zur Jahrtausendwende. Ehe, Kinder, Scheidung in den späten 1950er- beziehungsweise. frühen 1960er-Jahren, alleinerziehende Mutter, Ausbildung zur Filmregisseurin in den 1960er-Jahren, als es sonst weltweit fast nur Männer in ihrem Metier gab. Danach Arbeit als Regisseurin (und Mutter) gegen beständige und massive Widerstände der Politbonzen und anderer Männer in Ost und West, die das Sagen hatten.

Die beiden Frauen, die da „biografische Zwiesprache“ (so der Untertitel) führen, reden so intelligent, lebhaft und unprätentiös miteinander, dass man einerseits entzückt ist, andererseits immer wütender wird über die Knüppel, die diesen hochmotivierten Regietalenten von nahezu allen Seiten zwischen die Beine geworfen wurden. Was hätten beide uns noch für spannende Filme beschert, die nun von vornherein ungeboren bleiben mussten – Helke Sander bekam für die meisten ihrer Projekte einfach nicht das nötige Geld zusammen – oder die sofort nach der Geburt in der Versenkung verschwanden: dies passierte Iris Gusner immer wieder durch die DDR-Parteibürokratie.

Die Mutter-Kind-Metaphorik liegt nahe bei dem Thema, das beide Frauen im Tiefsten miteinander verbindet, das sie umtreibt und das beide künstlerisch bearbeitet haben. Helke Sander stellt gleich zu Anfang des Buches fest: „Wir haben zu unserer eigenen Überraschung herausgefunden, dass wir weniger durch die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme geprägt wurden, sondern vielmehr dadurch, dass wir Künstlerinnen und Mütter mit alleiniger Verantwortung für die Kinder waren und nahezu gleiche Probleme zu lösen hatten. […] Frauen wie wir waren nirgendwo vorgesehen.“ Das Buch ist ihren Kindern gewidmet.

Die Doppelbilanz, 290 Seiten stark, ist eigentlich doppelt so lang – auf jeder Seite steht etwa so viel wie in anderen Büchern auf zwei Seiten. Ich habe nachgezählt, als ich erstaunt feststellte, dass ich pro Stunde etwa zehn Seiten gelesen hatte. Mehr Sein als Schein gilt hier in jeder Hinsicht, denn das Buch ist auch ungewöhnlich reich an Gedanken, originellen Standpunkten und Einsichten. Ich markierte es durchgehend mit zustimmenden Ausrufungszeichen, machte mir Notizen am Rand, legte es nieder und machte mir selbst Gedanken, denn dazu regt das Buch vor allem an. Es lässt sich aus vielerlei Blickwinkeln lesen.

Zu allererst sicher als filmhistorisches Dokument und Monument über die „Fantasie und Arbeit“, die diese nicht totzukriegenden Filmpionierinnen einsetzten, um wenigstens einige ihrer Projekte zu verwirklichen.

Zweitens als Geschichte der zweiten deutschen Frauenbewegung aus erster Hand und als Anschauungsunterricht darüber, warum die Frauenbewegung im Osten nicht ankam. Helke Sander gehörte 1967 und 1968 zu den Gründerinnen der zweiten deutschen Frauenbewegung. Das alles einmal in allen Einzelheiten nachzulesen, ist außerordentlich erhellend. Es entwickelte sich anscheinend alles mehr oder weniger beiläufig und unabsichtlich. Sander und einige andere Frauen in Berlin wollten einfach, dass die linken Männer der Studentenbewegung nicht nur die Probleme der Arbeiter im Kopf hätten, sondern auch die Probleme der Frauen und vor allem der mit ihren Kindern alleingelassenen Mütter. „Es ging uns darum, die Bedingungen zu definieren, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, in der Frauen Kinder haben können, ohne dafür auf nahezu allen Ebenen bestraft zu werden.“ Als die Männer nicht reagierten, gründeten Sander und andere Frauen die Kinderladen-Initiativen und den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen. Der Rest ist Geschichte.

Helke Sander ist bis heute der Meinung, dass die weitere Entwicklung der deutschen Frauenbewegung darunter gelitten hat, dass die Probleme der Mütter und des partnerschaftlichen Zusammenlebens mit Männern aus dem Blickfeld gerieten und lesbisch-separatistische Strömungen die Oberhand gewannen. So auch der Tenor ihres Films „Mitten im Malestream“ (2005) mit dem Untertitel „Richtungsstreits in der Neuen Frauenbewegung“. Für mich, die ich erst 1975 zur Frauenbewegung stieß, war es gerade dieser Aspekt der Befreiung der Lesben aus dem unerträglichen Versteck, der die Frauenbewegung für mich – bis heute – so anziehend macht. So ist denn hier wie da und immer (noch) das Private auch politisch.

Drittens kann das Buch als ,Memoir‘ gelesen werden – der englische Begriff lässt sich vielleicht übersetzen mit „Gedanken und Erinnerungen“ – Memoir zweier außergewöhnlicher Künstlerinnen, die bewegte Zeiten erlebt und prominent mitgestaltet haben.

Viertens als ein „Buch über das Denkenlernen“, wie Helke Sander es nennt – und als solches habe ich es auch vor allem gelesen. Das Denken von Helke Sander fand ich schon immer wegweisend, originell, scharfsinnig und unerschrocken. Denken gegen den Strich und „out of the box“ – das macht dies Buch für alle so interessant, nicht nur für Filmfans, FeministInnen und feministische Filmfans. Iris Gusner kannte ich bis zur Lektüre nicht, ihr Denkstil ist anders, nicht so ironisch-lakonisch, sie denkt und redet direkter, schlägt keine Haken ins Absurde wie Sander. Beide sind wunderbar nüchtern, sie machen sich nichts vor und lassen sich weder von sozialistischen, noch von kapitalistischen oder patriarchalischen Dogmen benebeln – nicht einmal von feministischen! Beider Credo ist Offenheit, sich selbst in Frage stellen, Widersprüche und Ambivalenzen aushalten: „Es war normal, dass Frauen die Auffassungen ihrer Männer teilten, wenn sie schon gefragt wurden… Das änderte sich jetzt, und es taten sich Abgründe auf. […] Frauen hatten für ihr Aufwachen noch kaum Worte, nur einen bockigen, ziemlich sprachlosen Widerstand.“

„Die Tatsache, dass der Mann das Auto fuhr und die Frau daneben saß, um befördert zu werden, ließ sich damals auf alles übertragen.“

„Das war der eigentliche Kern der beginnenden Frauenbewegung: Als Frauen ernsthaft miteinander zu sprechen, ohne Anleitung, Belehrung oder Kritik durch einen Mann, ohne ihn zu vermissen und sich deswegen auf dem Abstellgleis zu sehen.“

Gusner und Sander zeigen an vielen anschaulichen, oft sehr komisch geschilderten Beispielen, wie sie allmählich das Selberdenken lernten. Da ist zum Beispiel die Sache mit den „Frauenfilmen“: „Wenn zum Beispiel in einem Film über Beschneidung die Ungeheuerlichkeit der Leiden herauspräpariert wurde, dann galt das eher als ‚Jammern‘ von Frauen denn als Information über eine menschliche Katastrophe. […] Es wurde unterschieden zwischen ‚Filmen‘ und ‚Frauenfilmen‘ […]. Das war einfach beleidigend und auch ein Grund, weshalb sich manche Frauen von der Frauenbewegung distanzierten, die sie mit Enge assoziierten. Wenn du dann aus Verzweiflung gegenfragtest, ob ein Kritiker z. B. Wenders die gleiche blöde Frage nach dem Männerfilm gestellt hat, wurde das meist nicht einmal verstanden. Die vielen verfilmten metaphysischen Qualen des einsamen Mannes wurden nie als Jammerfilme, sondern immer als existenziell notwendige Auseinandersetzungen behandelt.“

Es gibt viele urkomische Szenen wie die über eine respektlose Frauengruppe beim Anschauen eines Tarkowski-Films („Überhäufung mit männlicher Innerlichkeit“) oder über die „russische Partisanenhaltung“: „In der Umgehung von Gesetzen ist der Russe einfallsreich und entschlossen.“

Eine Autobiografie zu schreiben, wäre Sander wohl von selbst nicht in den Sinn gekommen, dazu ist sie zu uneitel. Es bedurfte der Einladung von Iris Gusner, um sie zu solcher Arbeit zu bewegen. So haben wir nun erfreulicherweise nicht nur Gusners, sondern auch Helke Sanders Autobiografie, und wer Sanders Bücher, Stories und Essays gelesen hat, weiß, dass sie nicht nur eine bedeutende Regisseurin, sondern auch eine Schriftstellerin erster Güte ist.

Wunderbar sind die Porträts von Personen, die im Leben von Gusner und Sander besonders wichtig waren: Annemarie Rübens, die Großeltern und die Mutter von Gusner, Sanders finnische Schwiegereltern, Joan Littlewood, Michail Iljitsch Romm, Peter Weiss, Doris Lessing, Herr Kaiser, Iris Gusners Deutschlehrer. JedeR bekommt ein Kapitel für sich, es ist eine schöne Mischung aus bekannten und unbekannten Personen, die auf gleicher Ebene behandelt werden. Nichts wohl läge den Autorinnen ferner als bloßes Namedropping.

Mir ist kein vergleichbares Unternehmen bekannt, in dem zwei „public intellectuals“ miteinander „biografische Zwiesprache“ pflegen. Ich denke, wir haben ein kostbares Unikat vor uns, das aber unbedingt Schule machen sollte.

Wäre ein ähnlicher Dialog zwischen einem Ostkünster und einem Westkünstler denkbar? Sagen wir, zwischen dem Tenor Peter Schreier (Ost, Jahrgang 1935) und dem Tenor René Kollo (West, Jahrgang 1937)? Sicher könnten sie miteinander über unterschiedliche Lebensbedingungen in einer sozialistischen Diktatur und im Kapitalismus reden. Aber ihre Karrieren wurden ja nicht ständig in Frage gestellt nur wegen ihres Geschlechts oder weil sie neben dem Beruf auch noch für die Kinder da sein mussten. Notwendigerweise würde die Dimension fehlen, die die Zwiesprache der Regisseurinnen dunkel grundiert, ihr schweres Gewicht verleiht und ihre bewegende Empathie und Solidarität bedingt: die Dimension des Leids und der lebenslangen Überanstrengung beim Schwimmen gegen den mächtigen Male Stream.

Gestaltung und Ausstattung seitens des Verlags sind etwas lieblos und dürftig und werden der Bedeutung der Autorinnen und ihres Textes nicht im entferntesten gerecht. Das fängt an mit dem Umschlag, auf dem ich lieber Porträts der Autorinnen gesehen hätte statt eines Barcodes. Außerdem fehlen: Filmografien, Bibliografie und Register. Natürlich enthält das Buch viele spannende Bemerkungen, manchmal Seitenhiebe zu bekannten ZeitgenossInnen, wie Ulrike Meinhof, Holger Meins, Jan-Carl Raspe, Helma Sanders-Brahms, Alice Schwarzer, Andrej Tarkowski, Wim Wenders, Konrad Wolf – um nur einige zu nennen. Die sind nun in dem umfangreichen Buch nur äußerst schwer wieder aufzufinden. Da hilft nur: Selber lesen, markieren, notieren!

Titelbild

Helke Sander / Iris Gusner: Fantasie und Arbeit. Biografische Zwiesprache.
Schüren Verlag, Marburg 2009.
291 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894726928

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