Russland im Jahr 2028 – eine Dystopie

Mit den Geschichten seines neuen Buches „Der Zuckerkreml“ setzt Vladimir Sorokin den „Tag des Opritschniks“ fort und knüpft gleichzeitig an seine früheren Werke an

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Mausoleum mit der Mumie des „roten Aufwieglers“ wurde abgerissen. Auch die „Weißen Wirren“ sind vorbei. Im Kreml herrscht der „Gossudar“. Für seine Sicherheit und die des neuen Russland, das als Wiederauflage des ganz alten daherkommt, sorgt die Garde der Opritschniki. Und um das Land herum baut man die „Große Russische Mauer“. Noch fehlen 62.876.543 Ziegelsteine bis zu ihrer Vollendung. Wenn jeder Schüler nur „einen einzigen Ziegel aus dem Lehm seines Vaterlandes“ formte, wäre sie im Handumdrehen fertig und das glückliche Leben könnte endlich beginnen. Kein Cyberpunk aus dem verhassten Westen würde widerrechtlich mehr russisches Gas absaugen können. All die „gleisnerischen Katholiken und die gewissenlosen Protestanten, die übergeschnappten Buddhisten und die bösartigen Moslems sowie allerlei verderbtes, gottloses Gesindel, Satanisten, […] abgedrehte Fixer, gierige Sodomiten, […] tückische Werwölfe, […] habsüchtige Plutokraten und schadenstiftende Virtuelle, gnadenlose Technotronen, Sadisten, Faschisten, Mega-Onanisten“ – der ganze internationale Abschaum würde endlich aus den Albträumen jedes braven russischen Bürgers verschwinden.

Zum zweiten Mal nach „Der Tag des Opritschniks“ (2006, deutsch 2008) lässt der russische Kultautor Vladimir Sorokin vor den Augen seines Lesers das Russland der Zukunft entstehen. Dieses Mal nicht in Form eines in sich geschlossenen Romans, sondern als Sammlung von 15 lose miteinander verbundenen Erzählungen. Stilistisch breit gefächert, vom surrealistischen (Volks)Märchen über die Theaterszene bis hin zu Brief und polyphoner Sprachinszenierung reichend, Grotekes, Absurdes, Pornografisches einschließend, nimmt er uns mit ins gar nicht mehr so ferne Jahr 2028. Und da darf man sich dann wundern. Oder auch nicht – denn natürlich ist das Ganze nicht so abgehoben von der Gegenwart gemeint, wie es auf den ersten Blick erscheint. Was Sorokin erzählt, hat im Gegenteil durchaus mit dem Russland unserer Tage zu tun. Es übertreibt das Heute zwecks Kenntlichmachung der in ihm verborgenen verhängnisvollen Tendenzen. Und das verstehen jene wohl sehr gut, die praktisch nach jedem neuen Text des Avantgarde-Autors zur Treibjagd auf den 55-Jährigen aufrufen.

Sorokins Werk ist eng verbunden mit der Geschichte der Moskauer Konzeptkunst. In „Norma“, „Marinas dreißigste Liebe“ und „Die Schlange“ – alle erst nach der politischen Wende in Osteuropa in seinem Heimatland erschienen – entwickelte der ehemalige Grafiker, Zeichner und Illustrator in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren ein literarisches Verfahren, das über den verfremdeten und parodierenden Gebrauch offizieller Diskurse zu deren Desavouierung beitrug. Wer dachte, dass sich solche Strategien nach 1990 in einer offen-demokratischen Gesellschaft erledigt hätten, sah sich bald getäuscht.

Also reagierte Sorokin auf das „großrussische“ Denken heutiger Kremlpotentaten auf seine Weise, indem er aktuelle politische Tendenzen mit Reminiszenzen an das Reich Iwans des Schrecklichen (1530 – 1584) künstlerisch verwob. Die Leibgarde des berüchtigten Zaren, die Opritschnina, an Recht und Gesetz nicht gebunden und in der Wahl ihrer Mittel zum Schutz von Imperator und System nicht zimperlich, wird in „Der Tag des Opritschniks“ wiederbelebt. Ganz nach Belieben morden, brandschatzen, vergewaltigen und stehlen die Angehörigen dieses Terrorkommandos. In futuristischen Automobilen rasen sie durchs Land, verständigen sich über „Faustkeile“ genannte Handys miteinander und unterdrücken blutig jegliche Opposition.

In den 15 Texten des „Zuckerkreml“ braucht es diese Schreckensmänner kaum mehr. Allein die Angst vor ihnen ist allgegenwärtig. Sorokin scheint es in seinem neuen Buch aber vor allem darum zu gehen, den Fokus von den Institutionen der Machtausübung abzuziehen und auf diejenigen zu richten, die der Macht ausgeliefert sind. Wie fühlt man sich als Untertan in einem autoritären System, lautet die Frage des Autors. Gibt es nennenswerten Widerstand gegenüber jenen, die in Saus und Braus leben, während die Bürger längst wieder mit Holz heizen, sich bettelnd durchs Land schlagen und im Drogenrausch – Koks kann man in jeder Apotheke kaufen – Vergessen suchen?

Das Ergebnis ist mehr als ernüchternd, denn das Volk hat sich in seine Opferrolle ergeben und schreit nach der Knute. Mit Begeisterung mauert man sich ein. Und nachdem alle eines Tages mitten auf dem Roten Platz ihre Auslandspässe abgegeben haben, erklären sich die Bürger Stück für Stück mit der Abschaffung der noch
verbliebenen Freiheiten einverstanden. Da will es fast einleuchtend erscheinen, dass die einzige Beziehung, die das Land noch nach außen unterhält, jene zu China ist und chinesisches Vokabular allmählich in die russische Umgangssprache Einzug hält.

Die Erzählungen des Bandes „Der Zuckerkreml“ sind satirische Kommentare zur aktuellen Lage in Sorokins Heimatland. Hoffnung auf Besserung, ja Änderung der Verhältnisse sucht man in ihnen vergebens. Es scheint jenes Ritual zu genügen, das dem Buch zu seinem Titel verhalf. Einmal im Jahr nämlich teilen die Mächtigen Kremlmodelle aus Zucker an ihre Untertanen aus. An ihnen lutschen sie dann alle, die uns Sorokin vorstellt – und das scheint zu genügen in dieser Hölle aus Armut und (Selbst-) Erniedrigung, um jeden Gedanken an ein Aufbegehren von vornherein zu unterdrücken.

Titelbild

Vladimir Sorokin: Der Zuckerkreml.
Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
238 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783462042269

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