Kalkulierte Tabubrüche

Joachim Grimm stellt in seiner Studie „Karl Gutzkows Arrivierungsstrategie unter den Bedingungen der Zensur“ vor

Von Anne-Kristin EikerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne-Kristin Eiker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich versichere Sie, die Dinge haben in Deutschland immer so gestanden, daß man nicht eher berühmt wurde, ehe man nicht eine Zeit lang berüchtigt war“, so schreibt Karl Gutzkow an Karl August Varnhagen von Ense am 7. Oktober 1835. Zentral für die interdisziplinär angelegte Arbeit Joachim Grimms ist dieses Zitat, weil es der Hauptthese des Verfassers Substanz verleiht. Dieser führt in der Einleitung aus, es sei zu untersuchen, „inwiefern Gutzkow in seiner Strategie des Arrivierens das Einschreiten der Obrigkeit […] positiv voraussetzte […] und [die Zensur] zum Mitspieler in seinem komplexen und durchaus gewagten Erfolgskalkül machte.“ In seiner Schlussbetrachtung stellt Grimm dann fest, „dass Gutzkows Karriere als Berufsschriftsteller durch die Zensur nicht entscheidend behindert wurde und er die Zensur geschickt nutzte, um ‚berühmt‘ zu werden.“

Grimm fokussiert bei der Untersuchung von Gutzkows Arrivierungsstrategie die Jahre zwischen 1830 und 1847. Im November 1846 wird Gutzkow Dramaturg am Königlichen Theater in Dresden, womit seine Arrivierungsbemühungen als (vorläufig) geglückt und abgeschlossen betrachtet werden können. Seine „Gesammelten Werke“ (Band 1–12: 1845/46; Band 13: 1852) sind erschienen, womit er laut Carsten Wurm „in den Stand eines Klassikers erhoben“ wurde. Gleichermaßen muss eingeräumt werden, dass mit dieser Anstellung das Ziel der Behörden, Gutzkow gleichsam zu „zähmen“, weitgehend erreicht ist.

Den Untersuchungszeitraum von 18 Jahren unterteilt der Verfasser in drei Phasen: die Zeit vor 1835, die geprägt sei durch die ‚ideelle Opposition‘ und mit der „Vorrede zu Schleiermachers ‚Vertraute[n] Briefe[n] über die Lucinde‘“ (1835) und dem Skandalroman „Wally, die Zweiflerin“ (1835) im „kalkulierten Tabubruch“ gipfelte; das spektakuläre Jahr 1835, das Grimm als „den Höhepunkt und im Wesentlichen auch das Ende der jungdeutschen Phase“ Gutzkows bezeichnet; und schließlich die Jahre zwischen 1835 und 1847, in denen sich der Autor weitgehend vom Journalismus zurückzog und dem Theater zuwendete. Die Qualität der Werke Gutzkows stehe, wie Grimm eingangs ausführt, nicht zur Disposition, „sondern die ideellen und ideologischen Orientierungen, die in dessen Literaturproduktion zwischen 1830 und 1847 zum Ausdruck kamen“.

Zu Aufbau und Inhalt der Arbeit

Nach einem Einleitungskapitel, das einen ausführlichen Forschungsbericht beinhaltet, werden Gutzkows Biografie vor dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in Preußen und im deutschsprachigen Raum dargestellt und im Weiteren sein journalistischer und literarischer Werdegang skizziert.

Es folgt eine Beschreibung des sozialen Netzwerks Gutzkows beziehungsweise dessen Bemühen um ein solches. Wolfgang Menzel, der Gutzkow (bis zu dem Bruch zwischen den beiden) unter seine Fittiche nahm, vermittelte diesem Kontakte zu Dichtern, Verlegern, Redakteuren. Menzel, so Grimm, diente dem jungen Berliner als „Vehikel zum literarischen Aufstieg“. Des Weiteren werden die ‚Gruppe‘ der sogenannten Jungdeutschen und die gruppeninternen Beziehungen ins Visier genommen, genauso wie die Gemeinsamkeiten und Differenzen der verschiedenen ‚Akteure‘.

Im vierten Kapitel stehen Gutzkows politische, gesellschaftliche Überzeugungen und sein Literaturverständnis im Fokus. Der Kernpunkt, die Kunst nicht losgelöst vom Leben zu betrachten, sondern Poesie auf die Realität zu beziehen und damit die „literarische Öffentlichkeit“ als „Vorhof der politischen Öffentlichkeit“ zu begreifen, musste Gutzkow mit den Behörden in Konflikt bringen, war die Zensur inhaltlich doch schichtspezifisch angelegt, das heißt, Rezipienten in „Mündige“ und „Unmündige“ unterteilt. Letztere wollte man nicht mit oppositionellem Gedankengut konfrontiert wissen, weshalb „Elitediskurse“ aus breit rezipierter Literatur herausgehalten werden sollten. Es war, wie oben bereits angedeutet, jedoch Gutzkows Absicht, so Grimm, den viel zitierten „Elfenbeinturm“ zu verlassen und „eine demokratische (Gegen-)Öffentlichkeit zu etablieren“. Sein Ziel war die „Demokratisierung der Wissenschaft und die Popularisierung der Literatur“.

Ein zweiter Komplex der Arbeit beleuchtet die „Grundlagen der Zensur unter besonderer Berücksichtigung Preußens“, um im weiteren Verlauf der Arbeit die diversen Kollisionspunkte zwischen Gutzkow und den Zensurbehörden darstellen zu können.

Grimm führt vor, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegels Staatslehre sowie Franz Adam Löfflers Ausführungen zur Differenz zwischen „Staatspresse“ und der den Staat vermeintlich gefährdenden „Volkspresse“ der „Legitimation der ‚positiven‘ ebenso wie der ‚negativen‘ Pressepolitik Preußens“ dienten. Die Kontrolle öffentlicher Meinungsäußerung folgte dem Prinzip der Unterteilung in gut und böse, wahr und falsch. Alles nicht der staatlich erklärten ‚Wahrheit‘ entsprechende sei zu sanktionieren. Die bereits erwähnte ständische Unterteilung des Publikums in „mündig“ und „unmündig“, die mit der sozialen Herkunft korrespondiert, ist wichtiges Merkmal der (preußischen) Zensur. So wurde etwa streng kontrolliert, was in Leihbibliotheken der breiten Masse zugänglich gemacht wurde, aber auch die von den Behörden geforderte strenge Trennung zwischen Populär- und Gelehrtenliteratur zeugt von diesem ständischen Ansatz, dem Gutzkows „Diskursvermischung“ gegenüberstand. Die Notwendigkeit der Meinungskontrolle wurde begründet mit dem Ziel, Ruhe, Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten. Gutzkow und die Jungdeutschen standen im Verdacht „die gesamte bürgerliche Gesellschaft in ihren Grundlagen zu zerstören“, so Metternich an Preußens Polizeiminister Wilhelm Ludwig Fürst zu Sayn-Wittgenstein. Zu diesen Grundlagen gehört auch die christliche Religion. In Annahme einer festen „Göttlichen Weltordnung“ (Hans-Christof Kraus) wurde „das Christentum als Fundament von Staat und Recht“ und folgerichtig jeglicher ‚Angriff‘ auf dasselbe als Handlung wider die bestehende Ordnung begriffen.

In Preußen entstand in Folge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 ein komplexer Zensurapparat, der in letzter Instanz (Oberzensurkollegium) direkt Außen-, Innen- und Kultusministerium unterstand. Die Zensoren waren idealiter „wissenschaftlich gebildet und aufgeklärt“. Sie beurteilten die ihnen vorgelegten Schriften nach festgesetzten Grundsätzen. Sanktioniert wurden Normverstöße auf vielfältige Art und Weise, angefangen beim Streichen bestimmter Textstellen, Druck- und Debitverbot von Einzelwerken bis hin zum Berufsverbot, Landesverweis oder gar Gefängnisstrafen. In den 1830er-Jahren wurden die Zensurbestimmungen im Deutschen Bund noch einmal verschärft – aus Angst vor einem Übergreifen der politischen Unruhen in Frankreich auf das Bundesgebiet. Als konkreter Anlass diente das ‚Hambacher Fest‘ von 1832. Unter anderem wurde das vergleichsweise liberale badische Pressegesetz aufgehoben, Zensurlücken sollte es nicht mehr geben, wie aus Artikel 28 der „Geheimen Wiener Beschlüsse“ hervorgeht. Nichts durfte mehr erscheinen, ohne vorher der Zensur vorgelegt worden zu sein. Die neue ‚Bundes-Zentraluntersuchungsbehörde‘ in Frankfurt hatte damit einiges zu tun.

In den folgenden Kapiteln illustriert Grimm die verschiedenen Aspekte von Gutzkows Arrivierungsstrategie und konzentriert sich dann auf den Skandalroman „Wally, die Zweiflerin“. Er skizziert dessen Konfliktpotential, die Reaktion seitens der Öffentlichkeit und der Behörden sowie die Konsequenzen, die aus Gutzkows „kalkuliertem Tabubruch“ folgten.

Nach einem kurzen Kapitel, das die Grenzen und das Ende der Spezialzensur erklärt, wendet sich Grimm einem anderen, dritten Komplex zu, den der Titel der Arbeit nicht unmittelbar vermuten ließe. In diesem wird Gutzkows (außerliterarisches) Handeln auf dem Literaturmarkt beschrieben. Dabei geht es um seine „Vorschläge zur Reform des Buchhandels“, um „Gutzkow und seine Verleger“ und um die Honorare, mit denen der bestbezahlte Schriftsteller seiner Zeit für die Tätigkeit als Schriftsteller, Journalist, Redakteur, Herausgeber und Dramaturg entlohnt wurde. Hier wird das Bild des „Geschäftsmanns“ Gutzkow gezeichnet, der es versteht, geschickt zu verhandeln und Verleger gegeneinander auszuspielen.

Die Arrivierungsstrategie: Schreiben unter der Zensur

Die Tatsache, dass der Schriftsteller sowohl für das Publikum als auch für den Zensor schrieb, machte eine besondere Form des „verdeckte[n]“ Schreibens nötig. Waren weder Anpassung noch Exil eine Option, war das „Schmuggeln“ von Ideen die Alternative. Eine Möglichkeit bestand darin, die Handlung zeitlich oder geografisch zu verlagern. Das Geschehen in Gutzkows zweitem Roman „Maha Guru. Geschichte eines Gottes“ (1833) findet etwa in Tibet statt. Tabuthemen wurden metaphorisch umschrieben und falsche Verlagsortsangaben gemacht, es wurde pseudonym und anonym veröffentlicht. Dies waren bei den Jungdeutschen beliebte Strategien des „Ideenschmuggels“, bei Gutzkow zeigten sie allerdings keinen großen Erfolg. Die vielen historischen und philosophischen Anspielungen konnten von den durchschnittlich gebildeten Lesern kaum entschlüsselt werden, wohingegen es sich bei den Zensoren meist um umfassend gebildete Männer handelte, die die Brisanz der ihnen vorgelegten Schriften zu erkennen vermochten.

Auf Grund der großen Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes in Bezug auf die Handhabung der Presse- beziehungsweise Zensurgesetze bestand die Möglichkeit, der strengen Zensur, beispielsweise in Frankfurt, auszuweichen und in liberaleren Ländern zu publizieren. Dies nutzte Gutzkow etwa bei der Veröffentlichung der „Briefe eines Narren an eine Närrin“ (1832). Der Roman erschien bei Hoffmann & Campe in Hamburg, umfasste 21 Bögen und war damit in der Hansestadt nicht der Vorzensur unterworfen. Unzensiert konnte das Werk also erst einmal erscheinen. Sehr offen lässt Gutzkow darin jedoch den Narren von der „Revolutionierung Deutschlands“ sprechen. Da half es nicht, dass eben ein Narr spricht: Das Verbot der Schrift in Preußen ließ nicht lange auf sich warten.

Das Programm der „ideellen Opposition“, welche eine Wirkung nicht durch die Negation des Bestehenden erzielen will, sondern positiv eine Idee, ein Ideal vorstellt, deren Umsetzung im Bereich des Möglichen liegen sollte, sieht Grimm in der „Vorrede“ und in „Wally“ verwirklicht. In beiden Werken gehe es „nicht um Politik, sondern primär um Kirchenkritik, um eine Neuorientierung in zentralen Fragen der Moral und Religion“. Der Liberalismus wird zur „Sache der Religion“, indem Religion und Emanzipation miteinander verbunden werden. Gutzkow forderte größere individuelle Handlungsspielräume, Selbstbestimmung und mehr Freiheiten im Bereich der Ehe- und Sexualmoral, so plädierte er zum Beispiel für die Zivilehe. Einen Wandel der ethischen Normen setzte er dem sozialen und politischen Wandel positiv voraus.

Dass solche philosophischen Überlegungen in Form der Belletristik einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden, bezeichnet Grimm als „Diskursvermischung“. Diese, die Zweckfreiheit der Kunst für obsolet erklärende Strategie war den Zensurbehörden zuwider. Man konnte damit leben, dass in sehr eingeschränkt rezipierter Gelehrtenliteratur gegen Normen verstoßende Überlegungen angestellt wurden. Dass aber das ‚unmündige Volk‘, das vor ‚gefährlichen‘ Einflüssen zu schützen sei, damit konfrontiert wurde, konnte man nicht akzeptieren. Genau das war jedoch Gutzkows Ziel.

Der „kalkulierte Tabubruch“

Damit sind die wesentlichen Arrivierungstechniken benannt, die die Zensur zu umgehen oder ‚auszutricksen‘ suchten. Die erfolgreichste, gleichermaßen aber auch (im negativen Sinne) folgenreichste Strategie war jedoch der „kalkulierte Tabubruch“. Auch dafür dienen Grimm die beiden letztgenannten Werke als Beispiel. Die Wirkung seiner „Vorrede“, in der er vor allem die Kirche bewusst provozierte, sah Gutzkow schon voraus; mit dem „Wally“-Roman setzte er diesen Kurs fort, was natürlich nicht ohne Folgen blieb. Nach Erscheinen des Romans begann eine hitzige öffentliche Auseinandersetzung darüber. Man warf Gutzkow Frivolität, Gottlosigkeit und antinationale Gesinnung vor. Menzel und andere zeigten sich entrüstet, nicht zuletzt aber auch deshalb, vermutet Grimm, weil die Gelegenheit günstig schien, einen missliebigen Konkurrenten unschädlich zu machen.

Die Sache geriet zum Skandal, der das (kurzfristige) Berufsverbot derjenigen, die dem ‚Jungen Deutschland‘ zugerechnet wurden, nach sich zog und im Anschluss daran eine achtjährige Spezialzensur. Der gerade neu gegründete Verlag von Löwenthal, bei dem „Wally, die Zweiflerin“ erschienen war, wurde ebenfalls verboten, und Gutzkow musste für gut zwei Monate ins Gefängnis. Dennoch: Der Roman, in einer Auflage von 700 Stück gedruckt, erfreute sich einer (auf Grund des Verbots) nicht zu deckenden Nachfrage. Konfiszierungsbemühungen seitens der Behörden brachten nicht den gewünschten Erfolg. Man gab Exemplare von Hand zu Hand weiter, und so erreichte Gutzkows Skandalroman einen größeren Leserkreis als alles vorher und nachher von ihm Publizierte. „Wally die Zweiflerin“ hatte ihm zu großer Popularität verholfen.

Der Tabubruch erwies sich also als eine Strategie, die zwar einerseits aufging, andererseits aber dazu führte, dass Gutzkow Anfang 1836 vor einem Scherbenhaufen stand. Isoliert und beruflich ausgebremst, dachte er laut Grimm möglicherweise sogar an Flucht, als er, nachdem ihm das Bürgerrecht der freien Stadt Frankfurt nicht erteilt wurde, in Preußen einen Pass von drei Jahren Gültigkeit beantragte (der ihm jedoch ebenfalls verweigert wurde).

Entspannung

Gutzkow, der sich für ein Leben als Berufsschriftsteller entschieden und seit 1836 auch eine Familie zu versorgen hatte, sah sich nach 1835 mit erheblichen Einschränkungen durch die sogenannte Spezialzensur konfrontiert. Er musste Zugeständnisse machen, um weiter publizieren zu können, diese durften jedoch nicht so angepasst ausfallen, dass er das liberale Lager gegen sich aufbrachte. Die Gratwanderung gelang ihm teilweise: Von 13 literarischen Schriften zwischen 1835 und 1843 (ohne Dramen) durften sechs erscheinen. Seine weitgehend anonyme beziehungsweise pseudonyme journalistische Tätigkeit duldete man hingegen meist stillschweigend. Dennoch verlagerte Gutzkow – auch das Teil der Arrivierungsstrategie – den Schwerpunkt seiner literarischen Tätigkeit spätestens seit den 1840er-Jahren in den Bereich der Dramatik. Grimm bezeichnet dies als „dramatische Wende“. Auch hier gerät Gutzkow zwar vereinzelt in Konflikt mit der (vor allem österreichischen) Zensur, doch – so konstatiert Grimm – gelingt ihm die „erfolgreiche Integration als bürgerlicher Kulturträger und gefeierter Bühnenautor.“

Akribische Auswertung von Quellen

Die Arbeit, die Grimm vorlegt, zeichnet sich durch die akribische Auswertung einer Fülle von Quellen (Zensurakten, Verwaltungsschriften, Konfidentenberichten, Briefen, (auto)biografischen Schriften et cetera.) aus. Von den Werken Gutzkows stehen neben der „Vorrede zu Schleiermachers ‚Vertraute[n] Briefe[n] über die Lucinde‘“ und dem Skandalroman „Wally, die Zweiflerin“ (beides 1835) vor allem journalistische und essayistische Schriften im Vordergrund des Untersuchungsinteresses, etwa zum Literaturmarkt, zum Schriftstellerberuf sowie natürlich Äußerungen zu Gesellschaft und Politik. Neben Briefen rekurriert Grimm immer wieder auf das autorbiografische Werk „Rückblicke auf mein Leben“, das 1875, drei Jahre vor Gutzkows Tod, erschien.

Positiv zu vermerken ist die Menge der hinzugezogenen Sekundärliteratur, das Verzeichnis derselben umfasst allein 30 Seiten und bietet einen reichhaltigen Fundus für jeden, der sich eingehender mit der Zensurthematik oder mit Gutzkow beschäftigen will. Auf circa 270 Textseiten kommen 1109 teils ausführliche Anmerkungen. Sie bezeugen die sehr gelungene Synthetisierung der Forschungsdiskurse, in denen bislang allenfalls isoliert verhandelte Einzelaspekte der von Grimm behandelten Thematik Beachtung fanden. Es entsteht allerdings nicht selten ein gewisses Ungleichgewicht zwischen Fußnotensockel und Text auf einer Druckseite.

Auf eben diese Menge von Primär- und Sekundärmaterial gestützt, dokumentiert der Verfasser die politische, gesellschaftliche und kulturelle Situation im deutschsprachigen Raum, beleuchtet die Zensur in ihrer theoretischen Legitimation und Ausrichtung wie in der praktischen Umsetzung und veranschaulicht die Gegebenheiten auf dem höchst heterogenen Literaturmarkt im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund breitet Grimm, teils chronologisch, teils thematisch organisiert, Gutzkows Werdegang und Arrivierungsstrategie aus, beleuchtet dessen Selbstverständnis als Autor, seinen Weg vom provozierenden, liberalen Idealisten zum am Markt orientierten, Kompromisse schließenden Realisten.

Grimm stellt auch das ‚social network‘ des Autors vor, von Kontakten zu Literaten, über Verleger, Buchhändler und (Zensur-)Beamten. Er zeigt, wie Gutzkow mit Rückschlägen umgeht, aus Fehlern lernt und wie es ihm gelingt, mit unbeirrbarem Ehrgeiz seinen jung gefassten Plan, Berufsschriftsteller zu sein, in die Tat umsetzt. Deutlich wird, dass strategisches Kalkül dabei nicht selten Priorität vor Prinzipientreue hat.

Die Interdisziplinarität der aus der Dissertation des Verfassers hervorgegangenen Arbeit ist bereits bei einem kurzen Blick in das Inhaltsverzeichnis augenfällig. Wenig historisches Hintergrundwissen voraussetzend, fügt Grimm immer wieder ausführliche Überblicksdarstellungen ein, widmet ein umfangreiches Kapitel der ideologischen und politischen Legitimation der Zensur sowie deren Organisation und beleuchtet auf dieser Basis die literarische und journalistische Arrivierungsstrategie Gutzkows.

Bei der Vorgehensweise des Verfassers bleiben Redundanzen jedoch nicht aus. Sie wirken jedoch weniger störend als Verständnis fördernd. Sie erleichtern das Lesen. Ebenfalls rezipientenfreundlich ist das Schlusskapitel, in dem alle wesentlichen Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst und beurteilt werden, auch weil es im Hauptteil nicht immer einfach ist, die Stringenz im Aufbau der Arbeit nachzuvollziehen. Der Komplexität des Themas und den drei Untersuchungsschwerpunkten geschuldet ist die geschilderte Redundanz aber auch eine gewisse Unstrukturiertheit. Viele – nicht explizit gemachte – Rück- und Vorverweise erschweren an einigen Stellen das Finden eines roten Fadens.

Am Ende gibt Grimm einen Ausblick auf Aspekte und Fragestellungen, bei denen eine vertiefende Bearbeitung lohnenswert wäre. So räumt er beispielsweise ein, auf eine Auswertung des (ungedruckten) Nachlasses Gutzkows verzichtet zu haben, äußert jedoch die Vermutung, dass dieser ergiebig sein könnte, zum Beispiel in Bezug auf die Vorgänge der Selbstzensur des Autors.

Ein etwas gründlicheres Lektorat wäre hingegen wünschenswert gewesen. Neben einigen Druckfehlern hätten auch etwas schwerwiegendere Fehler vermieden werden können. So erklärt der Verfasser Martina Lauster in einer Fußnote durch die Formulierung „in: Martina und Roger Jones“ kurzerhand zur Ehefrau Roger Jones’. Außerdem wären auch Unterschiede beim Abdruck ein und desselben Zitats aufgefallen. Varianten weist beispielsweise der oben zitierte Briefausschnitt auf (in einer Version fehlt das zweite „nicht“).

Mit der angefügten, von Wolfgang Rasch erstellten Lebenschronik Gutzkows wollte Grimm möglicherweise kompensieren, dass es zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Arbeit, wie er eingangs moniert, noch keine ausführliche, wissenschaftliche Biografie über Gutzkow gab. (Eine solche publiziert Rasch im März 1011.) Das ist einerseits wiederum sehr leserfreundlich, andererseits aber nicht unbedingt nötig, da die Chronik auf der Homepage des Gutzkow-Editionsprojektes frei zugänglich ist.

Grimms Arbeit verbindet die Eigenschaften und Vorzüge einer einführenden Überblicksdarstellung mit denen einer Spezialmonografie sehr gelungen. Darüber hinaus erlaubt der Aufbau der Arbeit, diese gleichsam als eine Art Nachschlagewerk zu gebrauchen

Titelbild

Joachim Grimm: Karl Gutzkows Arrivierungsstrategie unter den Bedingungen der Zensur (1830 - 1847).
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
332 Seiten, 54,80 EUR.
ISBN-13: 9783631612965

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