Die Katastrophe der Konquista

Carlos Fuentes‘ Anthologie umfasst mal eben so ein ganzes Jahrtausend der mexikanischen Geschichte

Von Simon LeitnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Leitner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine kleine, aber dennoch nicht unwichtige Feststellung gleich vorweg: Zu sagen, „Die fünf Sonnen Mexikos“ sei das „neueste“ Werk des womöglich (noch immer) bekanntesten mexikanischen Schriftstellers unserer Zeit, wäre insofern irreführend und schlichtweg falsch, als dass es sich dabei eben nicht um einen neuen Roman, Erzähl-, Essay- oder sonstigen Band von Carlos Fuentes, sondern „lediglich“ um eine von ihm selbst zusammengestellte Auswahl seiner eigenen Texte handelt – deren Publikation in deutscher Sprache noch dazu sage und schreibe ein ganzes Jahrzehnt hinter der Originalausgabe, die schon um die Jahrtausendwende erschienen ist, hinterherhinkt. Von den Gründen der zeitlichen Distanz dieser Veröffentlichungen einmal abgesehen, stellt sich wie bei allen vergleichbaren Anthologien – sowie übrigens auch bei deren musikalischen Verwandten, den unzähligen „Best of’s“ und „Greatest Hits“ diverser Interpreten – auch bei Fuentes‘ Sammlung zunächst unweigerlich die Frage nach der Notwendigkeit und Relevanz einer solchen Zusammenstellung.

Lässt man die Texte selbst erst mal außen vor und konzentriert sich stattdessen vorerst nur auf Rang und Namen des Autors, der diese verfasst und anschließend auch ausgewählt hat, könnte manch einer schon Fuentes‘ Reputation alleine als ausreichendes Argument zur Rechtfertigung einer Anthologie ins Feld führen – hat man es hier doch mit einem „großen“, einem gemeinhin als „wichtig“ erachteten Schriftsteller zu tun, der zudem nun schon seit geraumer Zeit jenem unglücklichen Kreis der so genannten ewigen Nobelpreiskandidaten angehört, denen Jahr für Jahr der Gewinn des prestigeträchtigsten Literaturpreises weniger eingeräumt als vielmehr gewünscht wird. (Müßig zu erwähnen, dass die Chancen des Mexikaners auf den Nobelpreis seit dessen letztjähriger Vergabe an den Peruaner Mario Vargas Llosa freilich nicht unbedingt gestiegen sind.) Fuentes ist aber nicht nur ein großer, sondern auch ein großartiger Autor, und davon zeugt nicht zuletzt auch „Die fünf Sonnen Mexikos“, in gewisser Weise zweierlei Destillat: einerseits von Carlos Fuentes‘ umfangreichem Werk und andererseits von einem Jahrtausend mexikanischer Geschichte.

Insgesamt 25 Texte und Textpassagen (inklusive den diese umrahmenden Pro- und Epilog), darunter Erzählungen, Essays, Zeitungsartikel und mehr oder weniger lange Kapitel aus Romanen, haben den Weg in die Anthologie gefunden, und Fuentes macht schon in der Einleitung klar, welchen Zweck er mit dieser verfolgt: „Dieses Buch hat es sich zum Ziel gemacht, am Anfang eines neuen Jahrtausends an die außerordentlichen Ereignisse des vergangenen Jahrtausends in Mexiko zu erinnern. Erzählende Texte, Essay, Theater – die Stimmen, die hier zu hören sind, sprechen auf unterschiedliche Weise, doch sie alle folgen einem zentralen Thema meines Werks: Wann, wo und wie sich das Individuum und die Geschichte begegnen. Wann, wo und wie sich die Wege des Privaten und des Kollektiven kreuzen.“

Dies wird vor allem in den ersten Texten der Anthologie deutlich, in denen Fuentes das Aztekenreich wiederauferstehen und anschließend erneut von Hernán Cortés erobern und untergehen lässt. Der Sieg der spanischen Konquistadoren über die Azteken wird aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert, der Übersetzer von Cortés kommt dabei ebenso (buchstäblich) zu Wort wie dessen (Cortés‘) legendenumwobene Geliebte Malinche und deren beider Sohn Martín, der „erste Mestize“, der in „Die beiden Martíns“ in einem Dialog mit seinem gleichnamigen Halbbruder das späte Schicksal ihres Vaters kommentiert. Hier offenbart sich Fuentes‘ Anspruch ebenso wie seine große Stärke: bestimmte historische Begebenheiten mit dichterischen Mitteln nicht nur zu zeigen, sondern regelrecht damit zu verknüpfen, sie gewissermaßen künstlerisch aufzuladen; oder, wie Fuentes selbst sagt: „[W]enn Worte, Phantasie und Lüge zusammenkommen, entsteht die Wahrheit“.

Die folgenden Texte in der Anthologie handeln unter anderem. von Mexikos Unabhängigkeitsbestrebungen, den Jahren der Diktatur und den Wirren der Revolutionskriege, vor allem von politischen Begebenheiten und Phänomenen also, und auch dies ist typisch für Fuentes, der nie nur Schriftsteller, sondern – als solcher – auch immer Politiker respektive Aufklärer war und sich stets mit aktuellen Geschehnissen und den Zuständen in Mexiko auseinandergesetzt hat (was in vielen, zum Teil unsäglichen Interviews mit ihm, wo kaum über seine literarische Tätigkeit und stattdessen viel mehr über politische Themen geredet wird, offen zu Tage tritt).

Er scheut sich nicht, sozialpolitische Missstände und Ungerechtigkeiten nicht nur aufzuzeigen und zu dokumentieren, sondern auch anzuprangern, sowohl in seinen literarischen, seinen Prosatexten als auch in Zeitungsartikeln und Essays, wenngleich natürlich mit anderen Mitteln.

Gerade jene Texte, wie „Der Tod des Rubén Jaramillo“, der erstmals in einer Zeitschrift erschienene Nachruf auf den gleichnamigen Bauernführer und Revolutionär, der von Polizisten brutal ermordet wurde, und „Tlatelolco: 1968“, ein Kapitel aus Fuentes‘ Roman „Die Jahre mit Laura Díaz“ über das Massaker auf dem Plaza de las Tres Culturas in Tlatelolco im Oktober 1968, erklären und rechtfertigen zudem den Untertitel der Originalausgabe, „Memoria de un milenio“, übersetzt also etwa: „Erinnerung, An- oder Gedenken an ein Jahrtausend“. Carlos Fuentes ist unbestritten das Gewissen Mexikos, er erinnert unablässig, –sich und alle anderen.

Speziell unter diesem Gesichtspunkt aber mag (negativ) auffallen, dass diverse Vorfälle aus Mexikos jüngerer Geschichte, wie etwa die immer wieder eskalierenden Drogenkriege oder auch die unzähligen und ungeklärten Frauenmorde in Ciudad Juárez, die beispielsweise Roberto Bolaño in seinem Opus magnum „2666“ beschrieben hat, keine Erwähnung finden. Dieser (kaum ins Gewicht fallende) Mangel kann allerdings mit der schon angesprochenen zehnjährigen Verspätung der deutschen Ausgabe der Anthologie erklärt werden. Ansonsten deckt diese aber große Teile der mexikanischen Vergangenheit ab, was sich nicht nur in den vielen Stimmen, die zu Wort kommen, oder in den Geschichten selbst widerspiegelt, sondern auch schon in den diesen vorangestellten Themen: Jede Textpassage ist einem solchen Thema oder Motto untergeordnet, welche die Geschichten zeitlich oder örtlich in die Geschichte der Estados Unidos Mexicanos einordnen und so dem Buch eine Struktur geben. „Marina in der Tretmühle“, eine Kurzgeschichte über vier Arbeiterinnen aus dem Erzählband „Die gläserne Grenze“ spielt eben dort, in einer Maquiladora-Fabrik an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, und ist folgerichtig sowie leicht nachvollziehbar mit „Die Grenze“ betitelt; andere Themen wiederum, wie „Die Schattenkrone“, wirken zunächst etwas abstrakt, erschließen sich aber aus der Lektüre.

Nicht zuletzt durch diese Strukturierung und die überwiegend chronologische Anordnung der Texte (die historischen Ereignisse betreffend) funktionieren diese, aus ihrer ursprünglichen Umgebung herausgerissen und in eine neue gesetzt, erstaunlich gut und wirken durchaus homogen; nur wenige, vor allem die eher kurzen Texte wie das sechsseitige „Maceualli“ vermitteln einen etwas verlorenen Eindruck. Des Weiteren erschließen sich die längeren Kapitel aus den Romanen natürlich nicht immer in voller Gänze, was im besten Fall zwar dazu führt, sich den jeweiligen Roman anschaffen und in vollem Umfang lesen zu wollen, im schlechtesten Fall aber einen etwas schalen Beigeschmack hinterlässt, weil diverse Figuren oder Handlungen einfach zu verschwommen oder zu flach bleiben. Da dies allerdings nicht häufig der Fall ist und die meisten Texte mit dem neuen Kontext auch gänzlich neuartige Aspekte offerieren, bleibt auch dies im Bereich des Verschmerzbaren.

Womit wir nun wieder zu der eingangs gestellten Frage nach dem Nutzen der Anthologie (zurück-)kommen wollen: Für all jene, die sich, aus welchen Gründen auch immer, Fuentes noch nie zu- oder sich an ihn herangetraut haben, bietet „Die fünf Sonnen Mexikos“ eine gute Gelegenheit, dies endlich nachzuholen; dafür sprechen einerseits die schöne Aufmachung des Buches, die diversen Werkgattungen und die unterschiedliche Länge der Texte, andererseits natürlich aber auch die Qualität derselben: Es sind, und auch dies macht die Anthologie mehr als deutlich, nämlich vor allem Fuentes‘ frühe(-re) Werke, wie das leider nur noch antiquarisch erhältliche „Terra Nostra“ oder der gerade erst wieder aufgelegte Roman „Landschaft in klarem Licht“, die seinen Ruhm und auch einen Großteil von „Die fünf Sonnen Mexikos“ ausmachen. Für gestandene Fuentes-Aficionados wiederum werden die durch die erwähnte Neuanordnung der Texte bedingten neuen Perspektiven und selbstverständlich die zum ersten Mal ins Deutsche übersetzten Beiträge den größten Anreiz darstellen. Eines zumindest sollte „Die fünf Sonnen Mexikos“ aber allen klarmachen: dass nicht nur Mexiko, sondern auch die Literatur ohne Carlos Fuentes entschieden ärmer wäre.

Titelbild

Carlos Fuentes: Die fünf Sonnen Mexikos. Ein Lesebuch für das 21. Jahrhundert.
Übersetzt aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen u.a.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
543 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783100207548

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