Vom Dionysischen fasziniert

Wiebrecht Ries' Leitfaden durch Nietzsches "Geburt der Tragödie"

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nietzsches Bücher sind von einer verführerisch leichten Lesbarkeit, aber durchweg schwer zu verstehen. Ihr Verständnis setzt den textnahen Nachvollzug der Gedankenführung des Philosophen voraus sowie das Wissen um seine Eingebundenheit in die Tradition von Philosophie, Religionsgeschichte und Philologie. Auch "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" erschließt sich nicht ohne weiteres. Daher verdient der Leitfaden von Wiebrecht Ries durch Nietzsches Erstlingswerk besondere Aufmerksamkeit, mit dem der Autor, Universitätsdozent in Hannover und Verfasser einer viel gelobten Einführung in Nietzsches Gesamtwerk, auch philosophisch nicht vorgebildeten Lesern einen Zugang in die visionäre Welt des jungen Philosophen eröffnet. Indem Ries die verschiedenen Abschnitte des Buches feinsinnig erläutert und einzelne Erkenntnisse und Thesen klar und überzeugend herausarbeitet, wobei er immer wieder auf die geistesgeschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge dieser Schrift eingeht, ermutigt er seine Leserschaft, selbst vor schwierigen Textstellen nicht zu resignieren. Zudem versteht er es, die Faszination nicht nur von Nietzsches Gedankenwelt, sondern auch seiner Sprache vortrefflich zu vermitteln, weil er zwischendurch immer wieder den Philosophen selbst zu Worte kommen lässt.

Nietzsches philosophisches Erstlingswerk "Die Geburt der Tragödie" erschien 1872 und zwar unter dem Eindruck der Musik Richard Wagners und dem Einfluss der Philosophie Schopenhauers. Es spiegelt die Daseinsproblematik des jungen Philosophen wider, die ausgelöst worden war - das vermutet jedenfalls Ries - durch den frühen Tod des Vaters, und die in der Frage gipfelte: Wie ist angesichts des Schreckens des Lebens und seiner über das einzelne Menschenschicksal hin wegziehenden Gleichgültigkeit eine Bejahung des Lebens überhaupt möglich? Damit reagierte Nietzsche auch auf die von Max Weber konstatierte "Entzauberung" der Welt und auf den seiner Meinung nach beklagenswerten Zustand einer Epoche, die bedingungslos einem einseitig ausgerichteten Fortschrittsglauben und einem besinnungslosen Optimismus huldigte und der daher jeder Sinn für eine tragische Sicht der menschlichen Existenz abging.

Auf der Suche nach einer Lösung griff Nietzsche, so Ries, auf den griechischen Mythos zurück, wobei ihm dessen tragisch-dionysischer Wesenszug wichtig wurde. Aber nicht Weltverneinung, wie sie Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung" angesichts der Grausamkeit des Leben predigt, sondern Weltbejahung noch im Angesicht des Untergangs, gewonnen am Phänomen der griechischen Tragödie und der griechischen Kunst, war die Antwort in Nietzsches "Tragödienbuch". Der Philosoph ging dabei von den Bildern zweier griechischer Götter aus: Apollo und Dionysos. Während Apollo, Gott von Delphi, Klarheit, Strenge und den generellen Formtrieb des Lebens symbolisiert, verkörpert Dionysos, der gestaltenreiche, fremde Gott aus Thrakien, Herr des rauschhaften Lebens und des Todes, den dunklen triebhaften schöpferischen Untergrund. Beide gehören unauflösbar zusammen, als ästhetische Schemata und als polare Mächte der Natur und des menschlichen Daseins. Besonders vom Dionysischen war Nietzsche fasziniert, weil ihm hierdurch die Fragwürdigkeiten der menschlichen Existenz, die Lust an Gewalttätigkeit und am Vernichten, die abgründigen Geheimnisse des mit dem Tod verschwisterten Lebens zusammen mit einem unbedingten Willen zum Dasein offenbar geworden waren.

Wie aber verträgt sich die vielgerühmte griechische Heiterkeit, ihre lichte Leichtigkeit mit dem dunklen Ernst des dionysischen Pessimismus? Die Griechen, so Nietzsches Antwort, kannten die Schrecklichkeiten des Daseins und haben, um überhaupt leben zu können, diese mit ihrer Kunst und der "glänzenden Traumgeburt" ihrer olympischen Religion verdeckt, verklärt und so überwunden.

Ries weist darauf hin, dass Nietzsche in seiner Erstlingsschrift nicht nur die Lehre vom Aufstieg und Verfall der griechischen Tragödie entwickelt, sondern erstmals eine Gesamtauslegung der Welt am Leitfaden der Kunst vollzogen habe. Erst die Kunst macht, laut Nietzsche, die Verborgenheit des tragischen Wesens der Welt sichtbar und ist daher die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen. Nur als ästhetische Phänomene hielt der Philosoph das Dasein und die Welt für gerechtfertigt. Damit richtete er sich gegen jede traditionelle theologische und philosophische Sinngebung der Welt durch einen höchsten Begriff des Guten oder einen Gottesbegriff, durch den die Leiden des Daseins und der Schrecken der Welt zwar nicht behoben, aber doch aufgehoben erscheinen. Dagegen steht die Weisheit des Silen, die im Geborensein das schlimmste Übel sieht, und die illusionslose Klarheit, dass angesichts des Vernichtungstreibens des Lebens Welt und Dasein niemals moralisch zu rechtfertigen seien. Um nicht zu verzweifeln, müsse man sich eine mythische Bedeutung des Treibens ausdenken.

Was Nietzsche erkannt hat, betont Ries, ist von großer intuitiver Kraft. Ohne die Mächte der unteren Welt ist auch die obere olympische Welt nicht vollkommen. Damit hat Nietzsche die Mysterienlehre der Griechen gegen die Passionsgeschichte des Neuen Testaments gesetzt. Während Jesus Kreuz und Leiden als Strafe Gottes für den Sündenfall des Menschen stellvertretend auf sich nimmt, wird der Schmerz in der Mysterienlehre heilig gesprochen. Zwei Grundhaltungen zum Leben werden hier deutlich: die christliche, die im Leiden und im Schmerz den Fluch Gottes sieht, der über der diesseitigen Welt liegt, und die griechische, die im Leiden und im Schmerz die Bedingung des Lebens erblickt. Zielt das eschatologisch-heilsgeschichtliche Drama der Passion auf eine Überwindung dieses Daseins zugunsten eines neuen Äons, so besiegelt die griechische Symbolik die Ewigkeit des einen Lebens, das sich immer wieder aus sich selbst heraus erneuert.

Kunst als Allheilmittel nimmt für den jungen Nietzsche mithin die religiös leer gewordene Stelle der geschichtlich ausgebliebenen Erlösung ein. Später führt sein Denkweg, erklärt Ries, über den Zarathustra hin zu den Dionysos-Dithyramben, von der Annahme einer neuen Unschuld des Werdens bis hin zur Erklärung allen Geschehens durch den Willen zur Macht. Geblieben sei ihm jedoch die Ansicht von der tragischen Verfassung des Lebens.

Subtil entfaltet Ries nebenbei die kulturkritischen Passagen in Nietzsches Erstlingswerk und hebt hervor, dass Nietzsche die in der griechischen Tragödie einzigartig realisierte Synthese von Musik und verklärtem Mythos durch den Gegenmythos einer Vernunft, die die grundsätzliche Begreifbarkeit der Welt durch Wissenschaft und Ethik verkündet, gefährdet sah, weil der Moderne, so der schmerzliche Befund des Philosophen, eine Auslegungsweise des Daseins durch den Mythos fehlt und das Christentum, das ohnehin von Anfang an mit einem schweren Geburtsfehler behaftet gewesen sei, weitgehend seine Kraft eingebüßt habe. Für Nietzsche diente die christliche Religion einer Kultur des Todes, gegen die er eine eigene "Gegenwerthung des Lebens" stellte: eine rein artistische, antichristliche, die er die dionysische nannte. Doch wer so wie Nietzsche Mensch und Welt ausschließlich unter dem Gegensatz "Dionysos" - "der Gekreuzigte" interpretiert, gibt Ries zu bedenken, der scheint eher einer immer noch religiös motivierten Deutung des Lebens zuzuneigen als sie gleichmütig hinter sich zu lassen. Indessen: Die Art und Weise jedoch, wie Nietzsche seine Frage nach einer neuen Werthaltung zum Dasein nach dem Verlust des christlichen Glaubens und im Angesicht des Welt und Dasein verneinenden Pessimismus Schopenhauers beantwortet habe, verdiene, immer wieder neu durchdacht zu werden. Wie immer man dazu steht, meint Ries: Befürwortung und Ablehnung von Nietzsches Antwort gehörten in die Offenheit des andauernden Gesprächs mit ihm.

Titelbild

Wiebrecht Ries: Nietzsche für Anfänger. Die Geburt der Tragödie.
dtv Verlag, München 1999.
208 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3423306378

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