Aus der Täterperspektive

Die neuen Untersuchungen von John Cramer, Wolfgang Curilla und Wolfram Wette zum Holocaust bestätigen einen aktuellen Trend zur NS-Historiografie

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem in der Nachkriegszeit naturgemäß und auch im Sinne der Gerechtigkeit zunächst die überlebenden Opfer des NS-Regimes zu Wort kamen, sofern sie denn jemand hören wollte, und nach den akademischen Theoriedebatten der achtziger Jahre fokussiert sich seit rund zwanzig Jahren der Blick auf die Praxis der Diktatur und somit auf die Täterforschung. Zu nennen sind beispielhaft die Arbeiten von Christopher Browning „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen“, Götz Aly „Hitlers Volksstaat“ oder Harald Welzers „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“.

Zu diesem Themenfeld sind drei Neuerscheinungen aus dem Jahr 2011 als herausragende wissenschaftliche Leistungen anzuzeigen. Alle drei behandeln die Themenkreise: Tatmotive, Tathergang, Tatsühnung, allerdings für unterschiedliche Täter bzw. Tätergruppen, die jedoch ausschließlich aus der mittleren bis unteren Hierarchiebene stammen.

Der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette untersucht in der verdienstvollen schwarzen Taschenbuchreihe des S. Fischer Verlages zur „Zeit des Nationalsozialismus“ den Lebensweg des in der südbadischen Provinzstadt Waldkirch beheimateten SS-Offiziers Karl Jäger, der nach dem Einfall der deutschen Wehrmacht in Litauen als Leiter eines Einsatzkommandos und später als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD die Ermordung der litauischen Juden befehligte und organisierte. Über das als „Aktion“ getarnte Massaker verfasste Jäger einen neun Maschinenseiten umfassenden Bericht an seine Vorgesetzten, der hier faksimiliert abgedruckt wird und der als Schlüsseldokument der internationalen Holocaustforschung gilt.

Wette beschreibt, wie Jäger, katholisch erzogen und im Instrumentenbau tätig, durch Arbeitslosigkeit in seinem Selbstbewusstsein gekränkt, Zuflucht in Heinrich Himmlers Mördertruppe fand. Parallel dazu beschäftigt sich Wette mit der wechselvollen Geschichte des kleinen baltischen Staates Litauen, das erst 1917/18 seine Unabhängigkeit wiedererlangte und in dem Juden seit dem späten Mittelalter wichtige Aufbauleistung erbrachten: „Die ostjüdische Kultur konzentrierte sich in Vilnius, der traditionellen Hauptstadt Litauens, die respektvoll und bewundernd als das ‚Jerusalem des Ostens‘ bezeichnet wurde. Tatsächlich war Vilnius über Jahrhunderte hinweg nicht nur das kulturelle Zentrum der litauischen Juden, sondern gleichermaßen der polnischen, weißrussischen und ukrainischen Juden.“

Soweit Wette. Infolge des Hitler-Stalin-Paktes geriet Litauen in den Herrschaftsbereich der Sowjets, die sofort ihre Klassenkampfideologie in die neue Sowjetrepublik trugen, was zu erheblichen gesellschaftlichen Spannungen führte, zumal die Eroberer angeblich die jüdische Minderheit favorisierten. Als Hitlers Wehrmacht in Litauen einfiel, trafen die nachrückenden Mordkommandos deshalb auf bereitwillige Unterstützer aus der litauischen Bevölkerung. Die sogenannten Einsatzgruppen, die aus verschiedenen Berufssparten der SS, des SD und, wie noch zu zeigen sein wird, der Schutz- und Ordnungspolizei zusammengesetzt wurden, hatten offiziell die Aufgabe, gegen die deutsche Besatzung gerichtete Aktivitäten zu unterbinden.

Allerdings hatten Adolf Hitler und Himmler bereits vor dem Einfall in die Sowjetunion deutlich gemacht, dass ein zukünftiger Krieg ein Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg gegen den „jüdischen Bolschewismus“ sein werde. Das bedeutete, dass die Einsatzgruppen (und die Wehrmachtsteile, die diese teilweise unterstützten) auch ohne schriftliche Befehle „ein präventives, uneingeschränktes und völkerrechtswidriges Massenmordgebot erhalten hatten, welches die Erschießung von jüdischen Frauen und Kindern nicht untersagte.“

Diese bewusst offen gehaltene Befehlslage löste bei den Beteiligten eine erhebliche Eigendynamik aus und widerlegt die später immer wieder vorgebrachte Schutzbehauptung, man habe nur auf Befehl gehandelt. Für Wettes These, dass „das kleine Land Litauen als Testgelände für die Vernichtung der Juden“ aus ganz Europa fungiert habe, gibt es einige Anhaltspunkte. Denn nach den ersten Pogromen, die im Wesentlichen von litauischen Nationalisten verübt wurden und bei denen die Wehrmacht als Zuschauer und Wegschauer, später aber auch als Anstifter tätig war, ermordete die deutsche „Zivilverwaltung“ unter dem Kommando Jägers die gesamte jüdische Bevölkerung Litauens („Das Ziel, Litauen judenfrei zu machen, [wurde] erreicht“) und seit November 1941 auch Juden aus Berlin, München, Frankfurt, Breslau und Wien. Allerdings berichtet Wolfgang Curilla in „Die Judenmorde in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945“ von Mordaktionen, die bereits im Herbst 1939, unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen einsetzten und schätzungsweise 100 000 Polen einschließlich Juden betrafen. Zumindest die Tatbereitschaft war also schon vorher getestet worden. Wettes Monografie folgt exakt den wissenschaftlichen Standards, indem sie „Forschungsstand, Quellenlage und Fragestellungen“ referiert.

Andererseits kommt in ihr auch die persönliche Betroffenheit des Forschers zu Wort, unter anderem in der Frage, ob ein Schlächter wie Jäger eine wissenschaftliche Untersuchung überhaupt „verdient“. Die Antwort lautet: Nicht der Täter, wohl aber seine Opfer. In den Forschungen vor Ort, namentlich in Waldkirch und Litauen, konnte Wette in der heutigen Bevölkerung eine gewisse Abwehrhaltung gegenüber dem Geschehenen, manchmal sogar Verständnis für die Täter feststellen. Keiner der Heutigen ist für deren Taten verantwortlich, wohl aber für den Umgang mit diesen. Deshalb widmet sich Wette ausführlich dem Nachkriegsleben Jägers, der erst 1959 verhaftet wurde und seine Taten mit „höherer Pflichtauffassung“ entschuldigte. Dass er dann in der Haft Selbstmord beging, obwohl er mit einem zeitbedingt milden Urteil rechnen konnte, wertet Wette einerseits als „Bilanzselbstmord“ und andererseits als schwache Regung des Gewissens. Auch Waldkirch und Litauen, die beiden Täterorte, wurden erst spät und unter erheblichem Druck aktiv. In Vilnius erinnert ein Gedenkstein an das von Jäger liquidierte Ghetto, und 2008 besuchte eine Delegation von Holocaust-Überlebenden aus dem Baltikum das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Waldkirch.

Einen anderen Täterkreis untersucht John Cramer in seiner außergewöhnlich materialreichen Dissertation „Belsen Trial 1945. Der Lüneburger Prozess gegen Wachpersonal der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen“. Dieser Prozess fand vom 17.9. bis zum 17.11.1945 und damit bereits zwei Monate vor dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess statt und stand ausschließlich unter britischer Verantwortung. Die Arbeit ist der erste Band der Forschungsreihe „Bergen-Belsen – Dokumente und Forschungen“ und widmet sich in erster Linie Fragen der Prozessführung. Denn nach britischem Recht konnte es keinen Straftatbestand ex post facto geben, wie der in Nürnberg vorgebrachte Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Auch die bloße Mitgliedschaft in der später als verbrecherisch bewerteten SS war nicht strafbar; wohl aber ein Kriegsverbrechen, das nun in jedem Einzelfall nachgewiesen werden musste.

Zunächst berief sich die Mannschaft des KZs Bergen-Belsen, wohin sich in den letzten Kriegstagen auch Teile der Wachmannschaften von Auschwitz geflüchtet hatten, auf die Legalität der Lager, wobei sie die Briten der Urheberschaft beschuldigen konnten, indem sie auf die britischen Konzentrationslager in Südafrika verwiesen. Andererseits machten sie den Befehlsnotstand geltend, wobei ihnen zu Gute kam, dass Ende 1945 weder die Befehlsstruktur des ‚Dritten Reiches’ noch dessen gesamte Organisation wirklich bekannt war. Erschwerend kam hinzu, dass die britischen (Pflicht-) Verteidiger bisweilen mit Erfolg die Glaubwürdigkeit der wenigen überlebenden Zeugen zu erschüttern wussten, etwa wenn diese keinen genauen Zeitpunkt für die verhandelten Verbrechen angeben konnten und sich dabei in Widersprüche verwickelten, weil natürlich kein Häftling über einen genauen Kalender oder gar über eine Uhr verfügte.

Trotzdem konnte das Gericht zahlreiche Einzeltaten nachweisen, vor allem aber, dass die Verantwortlichen die verheerenden Seuchen und Hungersnöte, die das KZ Bergen-Belsen befielen, nicht nur nicht verhindert hatten, obwohl sie dies gekonnt hätten, weil große Vorräte und Medikamente vorhanden waren, sondern in eliminatorischer Absicht noch befördert hatten. Cramer kommt zu dem Schluss: „Mit der rechtsstaatlich beispielhaften Durchführung des Belsen-Prozesses wurden die Briten daher ihrer selbst auferlegten Verantwortung gerecht, eine Wegmarke für eine spätere, in deutscher Eigenverantwortung betriebene Strafverfolgung von NS-Verbrechen zu setzen.“ Dass die westdeutsche Justiz dabei kläglich versagte, ist ein anderes Kapitel und nicht mehr Cramers Thema.

Die Studie von Wolfgang Curilla, früher Hamburger Justiz-Senator, über die Beteiligung der deutschen Ordnungspolizei am Judenmord in Polen umfasst über tausend Seiten und ist im eigentlichen Sinne unlesbar. Sie ist vielmehr die minutiöse Aufzählung aller nachweisbaren Mordaktionen, an denen die deutsche Ordnungspolizei beteiligt war, und hat daher eher den Charakter eines Nachschlagewerks. Dabei geht Cramer geografisch vor, indem er die einzelnen, von der deutschen Besatzung eingerichteten Bezirke Polens durchforstet und die Tätigkeiten der jeweiligen Polizeieinheiten nachweist. Auch Curilla untersucht die Motive der Täter, referiert hierbei aber vor allem die Forschungsliteratur. Er stellt fest: „Auch unter den Ordnungspolizisten gab es zahlreiche fanatische Nationalsozialisten, unerbittliche Judenverfolger und freiwillige Schützen.“

Es gab einige Privilegien und materielle Vorteile, vor allem aber einen massiven Anpassungszwang. Curilla berichtet allerdings auch von Männern, die sich dem Morden ohne wesentliche Nachteile entziehen konnten. Es entspricht Curillas Stil, dass er, anders als etwa Wette und Cramer, persönliche Bewertungen vermeidet und es sogar unternimmt, in einer achtseitigen Tabelle die Zahl der Opfer zu quantifizieren. Allerdings beweisen die das ganze Werk beherrschenden Zahlenkolonnen möglicherweise noch mehr als bloße Worte die Singularität des Holocaust.

Titelbild

John Cramer: Belsen-Trial 1945. Der Lüneburger Prozess gegen Wachpersonal der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
427 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835309005

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Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945.
Schöningh Verlag, Paderborn 2011.
1035 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783506770431

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Titelbild

Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2011.
284 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783596190645

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