„Bremsen will ich nicht können“

Alex Capus’ Roman „Léon und Louise“ erzählt vom Leben und der Liebe im Frankreich des kriegsgeschüttelten 20. Jahrhunderts

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem 1961 in der Normandie geborenen Schweizer Autor Alex Capus ist mit seinem für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2011 nominierten Roman ein faszinierendes Werk deutschsprachiger Gegenwartsliteratur gelungen. Es entführt den Leser nach Frankreich und lässt ihn neben einer Lebensgeschichte auch das Befinden in unserem Nachbarland während, zwischen und nach den beiden Weltkriegen hautnah spüren.

Léon Le Galls Geschichte beginnt mit seinem Begräbnis 1986 in der Kathedrale von Notre-Dame. Es wird zum Anlass, sein Leben Revue passieren zu lassen. 1901 kommt er an der Küste der Normandie zur Welt. Als während des Ersten Weltkrieges die Kriegswirtschaft jede fleißige Hand gebrauchen kann, verlässt er Schule, Heimatdorf und Meer und geht als Morseassistent in ein Städtchen „irgendwo zwischen Schnittlauch und Stangenbohnen“. Auf der dreitägigen Fahrradfahrt zu seiner neuen Arbeitsstelle wird Léon von einem jungen Mädchen überholt. Sie geht ihm nicht aus dem Kopf, wenngleich es fünf Wochen und drei Tage dauert, bis sie eines Abends endlich ins Gespräch kommen.

Er ist hin und weg von der mysteriösen Louise, über deren Herkunft nie Klarheit herrscht. Was mit Necken beginnt, führt auf einer Radtour ans Meer zum ersten Kuss und wird auf der Heimfahrt im Bombenhagel bereits jäh beendet. Über zehn Jahre später gibt es ein überraschendes Wiedersehen, das den mittlerweile verheirateten Léon verwirrt. Doch er trifft Louise, die „Tippmamsel“ bei der Banque de France ist, eigentlich nur für ein paar Stunden, denn er hält sich an das von ihr eingeforderte Versprechen, keine Versuche zu unternehmen, sie zu sehen, zu treffen oder zu beobachten. Als die Wehrmacht Paris besetzt, muss Louise helfen, das Staatsgold in Afrika in Sicherheit zu bringen. Die Police Judiciaire, Léons Arbeitsplatz, wird von der Wehrmacht übernommen, so dass er nun missmutig für einen NS-Hauptsturmführer arbeiten muss, bis schließlich auch dieser Krieg vorbei ist.

Die Idee, den Enkel die Geschichte seines Großvaters erzählen zu lassen, nutzt Capus für die faszinierende generationenübergreifende Darstellung der Familie Le Gall, die fest daran glaubt, „zwar nichts Besonderes, aber doch immerhin einzigartig“ zu sein. Die personale Erzählperspektive wird bisweilen vom Enkel durchbrochen: „Noch nie hat, soweit ich es überblicke, ein Le Gall etwas vollbracht, woran die Menschheit sich erinnern müsste.“

Und Léon ist ein Paradebeispiel für seine Familie, ein verträumter, blasser Spießbürger, der nichts wirklich falsch, aber auch nichts wirklich richtig macht. Louise ist da belebend anders, lässt ihn ein ums andere Mal auflaufen, glänzt mit ihrem „raubeinigen, absichtslosen Charme“, zeigt Gefühle, Geschick, verrückte Ideen und stellt Léons „kleinbürgerlicher Dreifaltigkeit“ (Frau, Stelle, Wohnung) eine alternative Lebens- und Denkweise entgegen.

Es sind die kleinen Geschichtchen, die flappsigen Dialoge der beiden Titelfiguren, die kulinarischen und sprachlichen Reminiszenzen, die das Herz jedes Frankophilen höher schlagen lassen, die kunstvoll eingefügten historischen Fakten und Hintergründe und die Leichtigkeit mit der erzählt wird, was den Roman so lesenswert macht. Die Zutaten sind eigentlich fast belanglos, die exakte Abstimmung, Harmonie, das perfekte Zusammenfügen, lässt eine Symphonie auf Papier entstehen.

Das Kriegsgeschehen beider Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise dazwischen sind Kulisse für die Geschichte, ohne martialische Schilderungen oder Märtyrertum. Es gab viele solcher Menschen, die gelitten, gehungert, geweint haben und doch irgendwie überlebten. Ähnlich ist Léons Ehe – ernüchternd alltäglich, ohne Streitereien, so liebevoll unspektakulär, wie es sie in der Realität wohl viel häufiger gibt, als in der Literatur. Der Lebensbund mit Yvonne, der Frau an seiner Seite, ist „getragen von einem geschwisterlichen Gefühl von Zuneigung, Wohlwollen und Respekt“, beide sind nicht skrupellos oder selbstbezogen genug, ein Ende auch nur in Erwägung zu ziehen.

Und Louise, die Frau in seinem Kopf? Ist sie der Inhalt von Léons Denken und Sein oder eine Leerstelle, die er lebenslang auszufüllen sucht und die zu seinem Wesensmerkmal wird? „Ob es mit uns beiden geklappt hätte, wenn wir mehr Zeit miteinander gehabt hätten?“ fragt sie sich und ihn in einem Brief, denn physisch waren sie nicht einmal mehrere Tage zusammen. Verblüffend, aber wahr, dass man das beim Lesen völlig vergisst, und spürt, wie nah sich die beiden zu jeder Zeit in Gedanken sind: „Verwundert stellte er fest, dass seine Erinnerungen im Lauf der Wochen, Monate und Jahre nicht verblassten, sondern im Gegenteil kräftiger und lebendiger wurden.“

Der Roman ist „mit charmanter Zurückhaltung, detailgetreu […] und glaubwürdig“ erzählt, so wie der Ich-Erzähler die Geschichte von seinem Großvater gehört hat. Die Lobeshymnen der Medien sind absolut gerechtfertigt. Ein Buch zum Verschlingen, das einem den Appetit nie vergehen lässt. Möge jeder Person, die einen Alltag wie Léon bewältigt, ein(e) Louis(e) das Leben versüßen, egal ob real oder nur erträumt.

Titelbild

Alex Capus: Léon und Louise. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
315 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236301

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