Verwerfungen einer Familiengeschichte im 20. Jahrhundert

Über Eugen Ruges Roman „In den Zeiten des abnehmenden Lichts“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich vorweg, dies ist ein herausragender und brillant erzählter Roman dieses Herbstes. Eine Familiengeschichte, autobiografisch grundiert, über vier Generationen, erzählt von Eugen Ruge, Jahrgang 1954, also ein spätes Debüt. Es wird entlang wichtiger persönlicher Daten von 1952 bis 2001 abwechselnd erzählt. Höhe- und Kristallisationspunkt des Romans ist das Familienfest 1989 zum 90. Geburtstag des Patriarchen Wilhelm, an dem alle Generationen dieser illustren Familie zusammentreffen und die aus wechselnden Perspektiven erzählt wird.

Die erste Generation, die der kommunistischen Urgroßeltern, lebt während des Zweiten Weltkriegs in Mexiko im Exil und kehrt nach dem Krieg in den östlichen Teil Deutschlands zurück, um mitzuhelfen, ihr Ideal, den Kommunismus, aufzubauen und zu verwirklichen. Die Großeltern lernen sich in der Sowjetunion kennen, wohin der Sohn Kurt vor den Nazis flieht, um nach dem Hitler-Stalin-Pakt wegen antisowjetischer Propaganda ins Lager und dann in die Verbannung nach Sibirien geschickt zu werden. Hier lernt er die Russin Irina kennen und heiratet sie. Dort wird auch der Sohn Alexander geboren. Nach dem Krieg kehren sie in den 1950er-Jahren in die DDR zurück, ohne jedoch jemals in ihr politisch heimisch zu werden. Der Sohn Alexander, russisch Sascha gerufen, flieht kurz vor der Wende aus der DDR, lässt seinen Sohn Markus und seine Frau zurück. Daneben gehört noch die Mutter Irinas, Nadjeshda Iwanowa, zur Familie. Sie wird in den 1980er-Jahren von der Tochter in die DDR geholt. Der in russischer Verbannung geborene Sohn Alexander scheint dem Autor Eugen Ruge zu gleichen, denn genauso wie Alexander wurde er in Sowa im Ural geboren, sein Vater war, ebenso wie der Vater Kurt im Roman, ein bekannter Historiker der DDR, der unter anderem einige Werke zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Novemberrevolution 1918 sowie zu seinen Erlebnissen in der Emigration geschrieben hat und dessen Lenin-Biografie 2010 von Eugen Ruge aus dem Nachlass veröffentlicht wurde.

Für 2012 sind die Erinnerungen Wolfgang Ruges an die Sowjetunion unter dem Titel „Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion“ angekündigt. Ist dieser Roman nun ein DDR-Buddenbrook-Roman, wie eine Rezensentin schrieb, oder ein DDR-Roman? Nein, in ihm wird zwar auch eine Familiengeschichte über mehrere Generationen erzählt, aber hier geht es nicht um den exemplarischen Niedergang einer Kommunistenfamilie. Jedoch wird die aufgehende Sonne des Kommunismus zu Beginn des Jahrhunderts und der Familiengeschichte in deren Verlauf immer mehr zum abnehmenden Licht. Ganz gewiss spielt die Geschichte der DDR in diesem Roman eine wichtige Rolle, aber sie ist eher ein roter Faden, an dem die Schicksale der Figuren mit ihren geschichtlichen Implikationen erzählt werden.

Es sind die Menschen, von denen aus erzählt wird, also eine von innen heraus erzählte Geschichte, keine von der politischen Außensicht dominierte. Wenn auch die Großeltern Charlotte und Wilhelm scheinbar ganz dem Klischee der unbelehrbaren Kommunisten entsprechen, so werden sie doch vor allem in ihren menschlichen Schwächen und Anschauungen gezeigt und damit politisch nicht denunziert. Gerade wenn der demenzkranke Wilhelm auf seinem Geburtstag nur noch „tschow“ murmelt oder dies als Etikett an die Vasen heftet, ist es evident, dass hier jemand nur noch zu bedauern ist, weil seine Utopie schon mit Nikita Chruschtschows Entstalinisierung und nun endgültig mit Gorbatschows Perestroika zerbrochen ist.

Deshalb wirkt auch der 90. Geburtstag, an dem Wilhelm am Ende stirbt, wie eine Versammlung alter unbelehrbarer Greise und gleichzeitig als der erfolglose Versuch, die neue Zeit aufzuhalten. Die Verleihung der Orden, die Jubiläumsrede, das Ablehnen der Blumen, „ab auf den Friedhof“, sein gesummtes Lied, „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“, lassen das Fest zu einer grotesken Veranstaltung werden. Der Zusammenbruch des von Wilhelm aufgestellten Tisches ist der quasi symbolische Akt dazu. Danach brechen auch die Personen auf und zerstreuen sich. Der Sohn Kurt, jetzt in der DDR ein angesehener Historiker, wird samt seiner russischen Frau Irina nie in der DDR heimisch. Wie überhaupt fast alle Familienmitglieder entweder in der Gesellschaft der DDR oder in ihrer Ideologie nicht heimisch werden.

Irina, die nie ihren russischen Akzent ablegen kann, deren Kochkünste immer an Kleinigkeiten scheitern, aber die dem Ganzen stets eine heitere Stimmung gibt, zerbricht an der Flucht Alexanders, verfällt dem Alkohol und dem Heimweh und stirbt einsam. Der Enkel Markus sieht von fern ihrer Beerdigung zu, wird vom Großvater und Vater, die hinter der Urne gehen, nicht erkannt. Irinas Mutter Nadjeshda bleibt gefangen in ihrer russischen Heimat und in ihren alten Gebräuchen und Sitten. Der Enkel Alexander streitet noch mit seinem Vater, wirft ihm Feigheit vor, weil er die kritischen Bücher erst nach der Wende geschrieben habe. Er entzieht sich der Familie, die zu den Feiertagen noch immer zusammenkommt und geht noch vor der Wende in den Westen, um schließlich an einem Provinztheater Regie zu führen.

Auch dies ist eine biografische Übereinstimmung mit Eugen Ruge, der nach 1989 für das Theater arbeitete. Aber diese Diskussionen sind mehr persönliche Auseinandersetzungen als ideologische Differenzen. Dies liegt vor allem auch an dem knappen, aber trotzdem feinen und brillanten Stil von Eugen Ruge. Anfang und Ende des Romans zeigen noch einmal die Desillusionierung der Familiengeschichte. Im ersten Kapitel 2001 besucht Alexander seinen dementen Vater, der alt, gebrechlich und inkontinent allein in seiner Wohnung lebt. Er duscht den beschmutzen Vater, bekocht ihn, wischt den Urin auf und bringt ihn zu Bett.

Als er danach vor der Bücherwand steht und den Regalmeter mit den Büchern seines Vaters betrachtet, sind sie für ihn nur Makulatur, Zeugnis für ein verfehltes Leben. Nur das letzte Buch des Vaters, über die Jahre im stalinistischen Gulag, lässt er gelten, dass dieser aber aus Feigheit erst nach der Wende geschrieben hat. Alexander selbst ist unheilbar krank, hatte einige Beziehungen mit Frauen, inszenierte einige Theaterstücke, ist in der Welt herumgereist, konnte aber außer einigen Beziehungen keine festen Bindungen mehr aufbauen. Am Ende hockt er in Mexiko, wo einst die Großeltern im Exil waren, und hört „das gleichgültige, ferne Rauschen des Meeres“.

Es ist eine Ironie, dass ausgerechnet Alexander, der vor Familie geflüchtet ist, diese Familiengeschichte der gescheiterten Hoffnungen und Illusionen mit Hilfe von Aufzeichnungen, die er in Kurts Wohnung gefunden hat, erzählt. Die Zeit hat sich auch in Mexiko verändert, wurden die Schildkröten in der Bucht zu Zeiten der Großeltern noch geschlachtet und verzehrt, so werden sie heute geschützt und aufgezogen. Es ist letztlich ein versöhnliches Ende, das die Familiengeschichte der Ruges mit ihren einzelnen Schicksalen und Katastrophen sowie den geschichtlichen Begleiterscheinungen mit heiterer und ruhiger Gelassenheit abschließt. Nicht oft hat man einen Roman gelesen, dem es so gut gelingt, einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert mit dem Handeln der Personen auch erzählerisch überzeugend zu einem spannenden Ganzen zu gestalten. Es wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn dieser Roman, der auf der Shortlist steht, den Deutschen Buchpreis 2011 erhielte.

Titelbild

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
425 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498057862

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