Ein sanftes bürokratisches Ungeheuer

Hans Magnus Enzensberger über die Europäische Union

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man ist sich einfach nicht sicher, was nun genau in Brüssel für den Kontinent Europa geleistet wird. Mit Sicherheit kann man zum einen aber behaupten, egal was es ist, es trägt zum Misstrauen gegenüber den fernen Instituten in der Stadt mit den Hauptsitzen der Sekretariate der Europäischen Union und der Nato bei. Zum anderen steht fest: „Zwar liegt Brüssel in Europa, aber Europa liegt nicht in Brüssel.“

Enzensberger macht sich in detektivischer Manier auf, um das Rätsel, welches das Konstrukt der „Europäischen Union“ umgibt, zu entwirren. Dabei verfällt er auf überraschende Überlegungen und fordert den Leser heraus, die EU fundiert zu kritisieren. Was passiert, wenn Europa entmündigt wird?

Wenn die Staaten, welche den Kontinent ausmachen, nicht mehr für sich selbst sprechen können und dafür eine Betreuerin oder eine Vertreterin diese Arbeit verrichten lässt, kann es passieren, dass diese nicht das Interesse der Mehrheit europäischer Bürger vertritt. Die beste Erklärung für die Entscheidungen der untersuchten Institution findet Enzensberger beim britischen Autor und Historiker Robert Conquest: „Wie Robert Conquest einmal bemerkt hat, verhält jede bürokratische Organisation sich so, als würde sie von den Geheimagenten ihrer Gegner geleitet. Diese Form der Selbstsabotage ist beklagenswert, aber kein Zufall; denn jede Ausdehnung ihrer Kompetenzen verspricht der Institution mehr Macht, mehr Geld und mehr Planstellen. Eine bessere Erklärung für viele Entscheidungen unserer europäischen Sachwalter hat bislang niemand vorgebracht.“

Dieses Zitat kann als Einleitung zu den neun Kapiteln des Buches gelesen werden, wobei jedes einzelne Kapitel einen Eingang in das Gebäude der Europäischen Union darstellt. Verschiedene Abteilungen, die Vorgeschichte, Gesetze aber auch Lob werden darin thematisiert, jedoch nie ohne einen kritischen Blick und einer gesunden Portion Skepsis. Obwohl Enzensberger nicht ausschließlich kritisiert, sondern lobend beginnt, fragt sich der Leser, ob das „sanfte Monster“ wirklich so sanft ist, wie der Titel suggeriert. Das Wissen, das aus der Lektüre hervorgeht, tritt eine Lawine von Fragen los, die neugierig auf weitere Bücher machen.

Auch Robert Menasse beschäftigt sich zurzeit akribisch mit der EU und versucht den nicht nachvollziehbaren Strukturen nachzugehen. Die Krise sieht der österreichische Schriftsteller nicht im Finanziellen, sondern im Politischen. Parallel zu Enzensberger nennt er das nationale Denken als eines der größten Probleme. Daraus resultierte dann auch die aktuelle politische Krise, die aus dem Nationalismus der Länder an der eigentlichen supranationalen EU entstand.

Enzensbergers Essay ist also an Aktualität kaum zu überbieten und zeigt, wie vielfältig Literatur sein kann. Als Leser erfährt man viele Daten und Fakten, die europäischen Mythenbildungen entgegenwirken. Der Lesegenuss kommt dabei nicht zu kurz, besonders dann nicht, wenn im letzten Kapitel ein Dialog zwischen dem Verfasser und einem Monsieur de *** aus der Kommission in der Manier Thomas Bernhards nicht nur die Marotten der Kommission, sondern auch die ihrer Kritiker literarisch nachzeichnet.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel. Oder die Entmündigung Europas.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
73 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-13: 9783518061725

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