Faschismus - Rechte Leute von links?

Zeev Sternhell erklärt das Entstehen der faschistischen Ideologie

Von Gerd WiegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerd Wiegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zehn Jahre hat es gedauert bis das Buch des israelischen Historikers Zeev Sternhell und seiner Mitarbeiter Mario Sznajder und Maia Asheri über die faschistische Ideologie auf deutsch erscheinen konnte. Nach der Lektüre dieser äußerst spannenden und die deutsche Forschung befruchtenden Studie fragt man sich, warum sich nicht eher ein Verlag für diese Arbeit interessierte. Der zum Hamburger Institut für Sozialforschung gehörenden Hamburger Edition gebührt also Dank für diese Veröffentlichung, wenngleich ihre Motive vielleicht weniger dem Buch als der inzwischen auch von den Hamburgern favorisierten Totalitarismustheorie geschuldet sind. So wird im Klappentext in nur zu gut bekannter rechts-links-Manier von den "feindlichen Brüdern" gesprochen, deren "gemeinsamen theoretischen Kern" Sternhell herausarbeite. Nun macht dieser im Buch das genaue Gegenteil, zeigt nämlich, wie die Preisgabe des materialistischen Kerns des Marxismus einige linke Leute nach rechts geführt hat, womit er gerade das Verlassen des "theoretischen Kerns" (des Marxismus) zur Ausgangsbedingung der faschistischen Ideologie erklärt.

Und Ideologie ist es, um die es Sternhell und seinen Mitautoren geht - nicht mehr und nicht weniger; um die Frage also, welche Elemente für die Massenbasis des Faschismus von entscheidender Bedeutung waren. In der ausführlichen Einleitung entfaltet Sternhell das Panorama, welches er in den einzelnen Kapiteln genauer ausführt. Die ideologische Seite des Faschismus wird hier als Spezifikum des 20. Jahrhunderts vorgestellt, als "Dritter Weg" zwischen Liberalismus und Marxismus. Die wichtigste Einschränkung seiner Untersuchung, über die sich trefflich streiten läßt und die im spezifischen Blickwinkel Sternhells auf die Ideologie begründet ist, liegt darin, daß er den Faschismus ausdrücklich vom Nationalsozialismus unterscheidet, da er im Rassismus/Antisemitismus den Kern von letzterem sieht. Hier wird ein Problem offensichtlich, das ein großes Manko der Studie ist: Die soziale Funktion wird zugunsten der Ideologie vernachlässigt. Für die eingegrenzte Fragestellung der Untersuchung ändert das jedoch nichts am Erkenntnisgewinn.

Thema ist also die Entstehung des Faschismus im französisch-italienischen Kulturraum: Der Faschismus wird hier als Ergebnis einer Marxismusrevision zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesehen, einer "Revolte gegen den Materialismus." Sternhell spricht im Zusammenhang mit dem Revisionismusstreit von einer Krise des Marxismus und unterscheidet bei den theoretischen Konsequenzen aus dieser Krise zwischen Ost- und Westeuropa: Während im Osten das Endziel, die Beseitigung des Kapitalismus, nie aus dem Auge verloren wurde, war dies im Westen anders. Hier wurde der Fortbestand von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft erwartet, in deren Rahmen es um Verbesserungen zu kämpfen gelte. Eine Minderheit war hier jedoch nicht bereit, das revolutionäre Konzept aufzugeben. Beseitigt wurde von ihnen jedoch die ökonomische Säule der marxistischen Ideologie.

Als wichtigster Theoretiker dieser Umwandlung des Marxismus in eine "Kampfmaschine" gegen die bürgerliche Demokratie und als Wegbereiter des Faschismus gilt Sternhell Georges Sorel. Sorel, der zu Beginn des Jahrhunderts zum führenden linken Theoretiker des Syndikalismus wurde und eine breite Anhängerschar um sich sammelte, entleerte den Marxismus seines ursprünglichen Inhalts und füllte ihn gänzlich neu: die rationale, ökonomische Grundlage des Marxismus wurde zugunsten des Mythos, der Vitalität und des Aktivismus verworfen. Da die ökonomistischen Zusammenbruchserwartungen der II. Internationale sich nicht erfüllten, wurde der Kapitalismus als unhinterfragbare Tatsache genommen, in deren Rahmen sich die gewünschte revolutionäre Veränderung abzuspielen hatte. Wenn sich der Kapitalismus nicht selbst zerstörte, dann mußte über die freie Entfaltung der marktwirtschaftlichen Kräfte der Klassenkampf befördert werden. Sternhell macht im Denken Sorels drei Elemente der späteren faschistischen "Revolution" aus: Die Verankerung der revolutionären Dynamik in der freien Marktwirtschaft, der Mythos als Katalysator des Klassenkampfes (an Stelle der Ökonomie) und die Zerstörung der liberalen Demokratie samt ihrer Werte und Normen.

Der Mythos wird bei Sorel zu einer zentralen Kategorie der Massenmobilisation, und hier besteht ein direkter Anknüpfungspunkt des Faschismus. In einem seiner zentralen Werke, "Über die Gewalt", wird die Funktion des Mythos erläutert. Heldenmythos und Gewalt gelten als Erzeuger von Moral und Tugend, die Geschichte wird nicht länger als Klassenkampf, sondern als Kampf gegen die Dekadenz gesehen. Die Wissenschaftlichkeit des Sozialismus, die Wert- und Mehrwerttheorie wird von Sorel ebenso verworfen wie die Sozialisierung des Eigentums. Der Kapitalismus wird jetzt als Motor des Fortschritts begriffen und darf deshalb nicht beseitigt werden.

Da das Proletariat in den Augen der Sorelianer versagt und seinen Frieden mit der liberalen Gesellschaft geschlossen hatte, mußte an seine Stelle ein anders begründetes revolutionäres Subjekt treten. Die Nation wurde jetzt zur zentralen Kategorie und mit dem Mythos verbunden: "Zwischen Proletariat und Revolution wählten sie die letztere, zwischen einem proletarischen, aber gemäßigten Sozialismus und einem revolutionären, nationalen Sozialismus ohne Proletariat entschieden sie sich für die nationale Revolution."

Für Sternhell wird damit die von Sorel ausgehende irrationalistische Revision des Marxismus zum Ausgangspunkt der faschistischen Ideologie: "Die Sorelsche Revolution wollte die Naturrechtstheorie zunichte machen, die Menschenrechte abschaffen, die utilitaristische und materialistische Basis der demokratischen Politik unterminieren, doch sie rührte niemals an das Privateigentum. Während der Begriff des 'Produzierenden' allmählich an die Stelle des 'Proletariers' trat, entwarfen die Sorelianer die revolutionäre Theorie vom 'Meister' und von einem revolutionären Kapitalismus, einem Kapitalismus der Produzierenden gegen die Plutokratie, die Hochfinanz, die Börse, die Groß- und Zwischenhändler und die Geldleute. Diese Theorie basierte auf der freien Marktwirtschaft, dem Wettbewerb, der Nichteinmischung des Staates in ökonomische Belange."

In dieser Zusammenfassung lässt sich sehr vieles der späteren faschistischen Ideologie wiedererkennen, die die Grundlage des Massenanhangs jenseits des klassenbewußten Proletariats ausmachte. Zwei weitere Kapitel untersuchen dann die Verbreitung des "revolutionären Revisionismus" in Frankreich und Italien.

Sternhells Studie ist eine wichtige Ergänzung zur bisherigen Faschismusforschung, weil hier die Attraktivität einer Ideologie verdeutlicht wird, die an zentrale Punkte des damaligen Massenbewußtseins anknüpfte und Sozialismus und Nationalismus scheinbar miteinander verband. Auch dass es sich in Wahrheit dabei um eine völlige Preisgabe aller sozialistischen Inhalte handelt, macht Sternhell deutlich. Da sich die rechten Leute von links auch heute noch finden lassen, müßte der von Sternhell vorgeführte Mechanismus der Entrationalisierung immer noch wirken.

Trotz dieser insgesamt positiven Sicht gibt es einige gravierende Kritikpunkte am Buch: So liegt ein generelles Problem in der rein ideologieimmanenten Sichtweise. Von hier aus, unter Auslassung der politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen, wird es nur schwer verständlich, warum eine so ausgerichtete Bewegung in Italien und später in zahlreichen anderen europäischen Ländern zur Macht gelangen konnte. Zwar wird die Bourgeoisie als Förderer und Nutznießer des Faschismus benannt, aber da die soziale Funktion des Faschismus an der Macht nicht mehr thematisiert wird, bleibt dieser Aspekt weitgehend im Dunkeln. Darüber hinaus und noch gravierender ist die völlige Vernachlässigung der konservativen Wurzeln der faschistischen Ideologie. Elitentheorie, integraler Nationalismus, Sozialdarwinismus, Rassismus und Antiegalitarismus sind geradezu klassische konservative Ideologiemomente. Dieser Strang des Faschismus, der seinen späteren Aufstieg zur Macht aufgrund der strukturellen Nähe zur herrschenden Klasse sehr viel besser verdeutlichen könnte, bleibt leider völlig außerhalb des Blickfeldes.

Auf jeden Fall zuzustimmen ist Sternhells abschließendem Diktum gegen die Gefahren des Irrationalismus: "Wenn der Antirationalismus zu einem politischen Werkzeug wird, zu einem Mittel für die Mobilisierung der Massen und zu einer Waffe gegen den Liberalismus, den Marxismus und die Demokratie, wenn er mit einem starken Kulturpessimismus, eine ausgeprägten Kult der Gewalt und der aktivistischen Eliten einhergeht, dann führt er zwangsläufig zu faschistischem Denken."

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Zeev Sternhell: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel bis Mussolini.
Hamburger Edition, Hamburg 1999.
480 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3930908530

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