Wie verschafft man sich einen organlosen Körper?
Zur dialektischen Schlüpfrigkeit der Differenz
Von Marc Rölli
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEndlich ein Buch im deutschen Sprachraum, das - laut Klappentext - "das Gesamtwerk des französischen Philosophen Gilles Deleuze hinsichtlich seines Begriffs von Philosophie" untersucht. Es ist zwar unglaublich aber wahr, dass hierzulande kaum über Deleuze (1925 - 1995) geschrieben wird, obwohl in jedem Überblick über postmodernes Denken, zeitgenössische Philosophen etc. sein Name fällt. Die wenigen Arbeiten, die es gibt, kreisen um die "pop-philosophischen" Kooperationen mit Félix Guattati ("Anti-Ödipus" und Wunschmaschinen; "Rhizom" und wild wuchernde Vernetzungen) oder beschäftigen sich mit seiner Ästhetik (vor allem der Literatur- und Filmtheorie). Erst in den letzten Jahren hat sich das philosophische Interesse etwas belebt, was neben diversen Aufsätzen zwei kürzlich erschienene Einführungen in das Werk von Deleuze beweisen.
Schon im Titel kündigt das Buch von Günzel an, auf den Begriff der "Immanenz" zu fokussieren, um den Philosophiebegriff von Deleuze zu explizieren. Das ist sicherlich ein gut gewählter Ausgangspunkt, um die theoretischen Modelle, die Deleuze in seinen Büchern entwirft, in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen. Dagegen ist es auf den ersten Blick weniger überzeugend, wenn Günzel - einer Notiz von Derrida folgend - erklärt, mit dem Begriff des "organlosen Körpers" deutlich machen zu wollen, was Deleuze unter "Immanenz" versteht: "Die These dieser Betrachtung ist, daß der Begriff 'organloser Körper' [...] eine psychopathologische Variante des Terminus 'Immanenz' bzw. 'Immanenzebene' darstellt."
Die Konzeption des organlosen Körpers entstammt dem Theater der Grausamkeit von Antonin Artaud, "in dem körperliche, gewaltsame Bilder die Sensibilität des Zuschauers [...] zermalmen und hypnotisieren". Entscheidend für Günzel ist, dass sich der 'organlose Körper' dem Organismus und seinem ihm eigentümlichen Organisationstyp der Organe bzw. Körperteile widersetzt. Im 'organlosen Körper' sollen die Intensitäten strömen, die in den klassischen und modernen "Ordnungen der Dinge" gefangen gehalten werden. Wenn Foucault die Seele als Gefängnis des Körpers tituliert, dann bezeichnet der organlose Körper eine jener vieldiskutierten Selbsttechniken zur Befreiung von der Seele: "die rest- und rastlose schizophren-maschinelle Verkettung von allem mit allem, wie sie im Anti-Ödipus immer wieder beschworen wird."
Günzel konzentriert sich vor allem auf den schizophrenen und den masochistischen Körper, um sich der dysfunktionalen Passivität des "Organlosen" anzunähern. Dabei muss der Unterschied zwischen dem psycho-sozialen Typus und seiner rein philosophischen Existenzform beachtet werden. Wie Guattari schreibt, ist "der klinische Schizophrene eine Person, die den eigenen Schizoprozeß verfehlt hat". Das produktive Merkmal der Schizophrenie besteht nur darin, die geläufigen Anpassungsleistungen zu suspendieren und unterhalb der in den Lebensformen sedimentierten "transzendenten" Werten das reine Geschehen der Immanenz sichtbar zu machen. Diese Sichtbarkeit gewährt ebenso der Masochismus, wie Günzel im Hinblick auf eine Studie von Deleuze ausführt. Demnach wird die dialektische Figur der Anerkennung, die Hegel im Verhältnis von Herr und Sklave beschreibt, im masochistischen Vertrag der Selbstunterwerfung auf humoristische Weise "aufgehoben".
Günzel konzentriert sich in seiner Arbeit zum Philosophiebegriff von Deleuze im wesentlichen auf die Texte, die in der Zusammenarbeit mit Guattari entstanden sind. Ausgerüstet mit dem Begriffspaar 'Immanenz-Transzendenz' untersucht er das Œuvre von Deleuze - und findet in den genuin philosophischen Büchern nur Anklänge an das bunte Treiben, das mit der "nötigen Geschwindigkeit des Denkens" vorüber rauscht, die Guattari allererst Deleuze vermittelt haben soll! Eigentlich wäre also Guattari der Artist der Immanenz, der 'Nicht-Philosoph', der sich nicht in einer "anti-dialektischen" Haltung verstrickt: demgegenüber benötigt Deleuze, so Günzel, in seiner guattari-freien Zeit "Feindbilder", um zu denken. Der Philosophiebegriff von Deleuze erübrigt sich quasi selbst, weil er sich nicht auf dem von ihm geschaffenen Niveau der Immanenz halten kann.
"Für sich allein wäre Deleuze in der anti-dialektischen Haltung seiner Frühphilosophie, die eine Differenz an sich beschwört, verharrt. Durch die Begegnung mit Guattari entstand [...] ein positiv gefülltes, nicht-dialektisches Konzept des Werdens." Diese äußerst seltsame These von Günzel wird nirgends überzeugend entfaltet. Zwar werden in verschiedenen Exkursen (!) auch einige der philosophischen Bücher von Deleuze vorgestellt - Günzel greift auf Michael Hardts Darstellung der Bergson-, Nietzsche- und Spinoza-Lektüren von Deleuze zurück und wirft einen kurzen Blick in die 'Logik des Sinns' -, insgesamt aber bleibt die spezifische Kontinuität des Deleuzeschen Denkens völlig im Dunkeln. Beispielsweise versteht es Günzel nicht, den Begriff der Immanenz auf den Begriff der Differenz zu beziehen, den er doch seiner eigenen These zufolge kritisch ersetzen soll. Mir ist es unbegreiflich, wie sich der Philosophiebegriff von Deleuze in seiner ganzen Tragweite erschließen soll, wenn man sich nicht auf das wichtigste Buch von Deleuze, nämlich auf 'Differenz und Wiederholung' konzentriert.
Vielleicht muss man sagen, dass Günzel - entgegen den Versprechungen des Titels - eine weitere "Einführung" in die Philosophie von Deleuze und Guattari geschrieben hat. Nirgends gelingt es, sei es die systematische oder die historische, die Relevanz des eigenständigen Philosophierens von Deleuze herauszuarbeiten. Die hergestellten Beziehungen zur philosophischen Tradition bleiben oberflächlich. Unzählige Fußnoten streifen zwar ein Klischee nach dem anderen, bleiben aber grundsätzlich thetisch und richten sich in erster Linie an die "Begeisterungsfähigen". Beispielsweise behandelt Günzel die Kant-Beziehungen von Deleuze in drei Fußnoten, die völlig in die Irre führen. Das ist umso verräterischer, als Deleuze seinen Begriff der Repräsentation im Sinne der Kantischen Rekognition konzipiert, die somit zum zentralen Modell der "Transzendenz" avanciert, welcher ein immanenzphilosophischer Entwurf Paroli bieten soll, der seinerseits auf das erhabene Spiel der Vermögen verweist (durchaus nicht im Sinne Lyotards).
Das Buch von Günzel bietet kaum eine Situierung Deleuzes im "Kontext der gegenwärtigen Philosophie sowie der philosophischen Tradition überhaupt", wie der Klappentext suggeriert. Selbst der Begriff der Immanenz, der als thematischer Mittelpunkt ausgewählt wurde, bleibt im Sinne der "absoluten Deterritorialisierung", die als schizo-anarchistische Fluchtlinie die Lebensräume normalisierter Subjekte durchschneidet, philosophisch relativ unbestimmt. Kein Wort fällt über den Gebrauch der Termini 'Immanenz' und 'Transzendenz' im Umfeld der Phänomenologie. Ebensowenig verweist Günzel auf die Deleuzesche Theorie passiver Synthesen, auf die Konzeption der Univozität des Seins oder auf die Begriffe der virtuellen Mannigfaltigkeit und der Individuation. Es liegt der Verdacht nahe, dass sowohl die Missachtung der Philosophie von Deleuze, als auch die Missachtung der historischen Bezugspunkte zu dem krassen Fehlurteil führt, das Günzel zuletzt über die empiristische Philosophie von Deleuze fällt: Deleuze "bekennt sich am Ende zum Empirismus, dem er ohne den Praktiker Guattari die idealistischen Züge einer akademischen Philosophie zurückverleiht, und so zu seiner frühen Arbeit über Hume - in seiner Variation der Philosophie Humes: zum transzendentalen Empirismus." Ich möchte es nochmals unterstreichen: die Stärke der Philosophie von Deleuze liegt gerade in ihrem Empirismus, in dem transzendentalen Empirismus, welcher eine Philosophie der Immanenz zum Ausdruck bringt, wie Frau und Mann sie sich nicht radikaler zu wünschen brauchen. Günzels Buch gießt dagegen Wasser auf die Mühlen derer, die beim Stichwort "Vernunftkritik" sofort zur neokonservativen Keule des "Irrationalismus" greifen.
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