Die heilige Person

Hans Joas dient in seinem Buch „Die Sakralität der Person“ der Menschenrechtsidee – mit einer gelungenen Dekonstruktion des verhärteten Diskurses um ihre Herkunft

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Woher kommen die Menschenrechte? Mit dieser Fragestellung nähert sich der renommierte Soziologe Hans Joas dem Dreh- und Angelpunkt des Globalisierungsdiskurses. Die Menschenrechte liegen im Kreuzungsbereich von Ethik, Politik und Recht, sie dienen als Brücke zwischen religiöser und nicht-religiöser Weltsicht und bilden damit die Grundlage des interkulturellen Dialogs. Menschenrechte – darunter geht es nicht. Wer wollte das bestreiten?!

Doch der verhältnismäßig großen Einigkeit im Hinblick auf die Geltung der Menschenrechte steht ein erbitterter Streit um ihre Genese gegenüber. Also, noch einmal: Woher kommen die Menschenrechte? Wenn man die Antwort auf die Ursprungsfrage nicht formalistisch an die Entstehungszusammenhänge konkreter Rechtstexte koppeln will, sondern die ideengeschichtliche Tradition im Auge hat, in welcher der Menschenrechtsgedanke sich verorten lässt, dann ist das keine einfach zu beantwortende Frage. Zugleich gilt es, die Geschichte ethischer Ideen an der „Realgeschichte“ politischer Entwicklungen und ihrer Normativität zu messen.

Hans Joas nimmt sich im Anschluss an seine Überblicksarbeiten „Die Entstehung der Werte“ und „Kriege und Werte“ aus den 1990er-Jahren dieser Aufgabe an. Er sieht in der Menschenrechtsgeschichte ein hervorragendes „Fallbeispiel“, um seine Thesen zu erproben und zu konkretisieren, das heißt die bisher eher allgemein gehaltenen Forschungsresultate in einem spezifischen Kontext aufzuweisen, der einerseits etwas mit Wertbildung und andererseits etwas mit Gewalt zu tun hat. Auf der Suche nach einem geeigneten Untersuchungsgegenstand schien Joas das Thema Menschenrechte als „ideal geeignet“.

Joas’ Ansatz ist methodisch wie inhaltlich interessant. Methodisch möchte er durch „historisch orientierte Soziologie“ die „Kluft zwischen Philosophie und Geschichte“ überwinden, um damit eine „Genealogie der Menschenrechte“ zu entwerfen, die den Topos auf eine weltanschaulich übergreifende und damit weitgehend geteilte Grundlage stellt: die „Sakralität der Person“. Das wäre der inhaltliche Aspekt der Arbeit. Doch gerade die Methode, die zu dieser Einsicht führt, die erkennen lässt, dass die menschliche Person heilig ist, also die „Verknüpfung von Begründungsargumenten und historischer Reflexion“ macht den eigentlichen Innovationswert der Arbeit aus. Disziplinäre Grenzen sorgen oft genug dafür, Theorie und Praxis getrennt zu behandeln. Das sorgt für Sprachnot bei der Begründung von Ideen, aber auch bei der Erklärung von realen Entwicklungsschritten im Kontext der Menschenrechte. Dieser Sprachnot will Joas abhelfen.

Mehr noch: Mit seinem gewagten transdisziplinären Vorgehen meint Joas, der Idee der Menschenrechte selbst eine neue Basis verschaffen zu können. Die bisherigen Grundlegungsversuche seien unzureichend, die Debatten um die Genese „unfruchtbar“. In der Tat sind es ermüdende Grabenkämpfe zwischen Vertretern einer religiösen Genese (aus dem christlichen Menschenbild) und Vertretern einer säkularen Genese (aus dem Geist der Aufklärung). Joas stellt klar: Eine erschöpfende Genealogie der Menschenrechte lässt sich in eindeutiger Manier weder mit dem Christentum, noch mit einem säkularen Humanismus in Verbindung bringen. Je nach Horizont der Betrachtung gewinnt der langfristige Moment der ideellen Befreiung des Menschen durch die christliche Anthropologie oder der kurzfristige Moment der faktischen Befreiung des Menschen durch die Aufklärung an Bedeutung; nur in der Zusammenschau erkennt man, dass „geteilte Dritte“. Denn: Beide Positionen konvergieren im Begriff der „Sakralität der Person“, die für Joas eine „fundamentale Alternative“ zu der „Gemengelage von Narrativen“ darstellt.

Nach Joas sind die Menschenrechte demnach weniger Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses der Gesellschaft als vielmehr eines „Sakralisierungsprozesses des menschlichen Wesens“, wobei „der Terminus ,Sakralisierung’ nicht so aufgefaßt werden“ dürfe, als habe er „ausschließlich eine religiöse Bedeutung“. Auch „säkulare Gehalte“ könnten, so Joas, „Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität“. In diesem Sinne ist die Geschichte der Menschenrechte „eine Geschichte der Sakralisierung der Person“. Freilich: Anthropologische Differenzen werden damit nicht vollständig zur Deckung gebracht, kann doch die „Heiligkeit der Person“ im konkreten Fall, also etwa bei der bioethischen Frage, wer aus welchem Grund Subjekt der Menschenrechte sein sollte, infrage gestellt werden, mal vom Konzept „Heiligkeit“, mal vom Konzept „Person“ her.

Die Schwierigkeit von Joas’ Ansatz ist aber weniger inhaltlicher Art (niemand wird ernsthaft verlangen wollen, dass der Autor eine Begründung der Menschenrechte entwickelt, die keine Frage mehr offen lässt), sondern vielmehr methodischer. So gut und hilfreich es ist, dass in Joas Abhandlung der Sozial- den Ideenhistoriker berät, er sollte ihm nicht die Feder aus der Hand nehmen. Mit seiner Verhandlung christlicher Anthropologie (Kapitel 5) vor dem Hintergrund einer breit ausgeführten Menschenrechtsgeschichte im christlich geprägten Europa (Kapitel 1 bis 3) als Deutungshilfe für die Begriffe „Gottebenbildlichkeit“ und „Gotteskindschaft“ akzentuiert der Autor tendenziös. Das führt zu fragwürdigen Befunden, welche die konstruktive Bedeutung der besprochenen Konzepte für den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Menschenrechtsdiskurs – gerade auch auf globaler Ebene – leider etwas depotenzieren. Den Gehalt religiöser Begriffe empirisch an ihrer weltlichen Gestalt zu bemessen, ist ebenso problematisch, wie die reale Geschichte der Religion in „schönfärberischer Retrospektive“ zu zeigen.

Dennoch überwiegen die Stärken der Analyse, auch rein konsequentialistisch betrachtet: Die von einem als partikular verstandenen und weltanschaulich vereinnahmten Entstehungskontext entkoppelte Menschenrechtsidee wird allgemein akzeptabel. Einmal „entlabelt“, bieten sich Möglichkeiten, ihren Geltungsgrund neu zu komponieren („säkulare Sakralität“). So verliert das Menschenrecht seine Eignung als Kampfvokabel, im weltanschaulichen Diskurs wie im interkulturellen Dialog und – das ist entscheidend – seine Universalisierung bekommt neue Impulse. Daher ist Hans Joas zu seinem innovativen Ansatz zu beglückwünschen – und uns allen zum Dienst des Autors an der Menschenrechtsidee.

Titelbild

Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
303 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783518585665

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