Im Zeichen von Elisabeth Förster-Nietzsches Yerba-Mate-Tee

Ein Kommentar zur Debatte um Christian Krachts Roman „Imperium“ und seinen „Briefwechsel“ mit David Woodard

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Herannahen der Leipziger Buchmesse, der die März-Ausgabe von literaturkritik.de wie jedes Jahr ihren Schwerpunkt widmet, wurde in den letzten Wochen durch eine der heftigsten Presse-Debatten seit der um Helene Hegemanns ‚Plagiats’-Roman „Axolotl Roadkill“ (2010) begleitet. Es ging um Christian Krachts pünktlich zur Messe bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Roman „Imperium“, der von dem Südsee-Aussteiger und Antisemiten August Engelhardt handelt. In einem für das Magazin „Der Spiegel“ selten ausführlichen Verriss hatte der Kritiker Georg Diez dem Autor Kracht wegen dieses Romans, aber auch im Blick auf andere Publikationen die Verbreitung eines totalitären Weltbilds vorgeworfen.

Dass der Artikel von Diez teilweise auch etwas ungeschickt formuliert war und sich deshalb in geradezu rätselhaften Sprachbildern erging, fiel bei der postwendend entstandenen Aufregung in der Presse kaum noch jemandem auf. Da kräuselt sich Krachts Sprache „sanft wie Wellen, die auf den Horizont zulaufen“ – und durch diesen „schönen Wellenschlag der Worte scheint etwas durch, das noch nicht zu fassen ist“. Bildlich vorstellen kann man sich das nun wirklich nicht mehr: Kracht kaschiere „den Kern seines Schreibens und Denkens“ in einem „semantischen Strudel“, raunt Diez im offensichtlichen Bemühen, den Roman über die Welt der Südsee mit Metaphern aus der Isotopie- und Bedeutungsebene des Wassers und des Meeresklimas zu beschreiben. Deshalb kann sich Kracht dann bei ihm sogar „leicht in seinen Literaturgewittern verstecken“.

Merkwürdig erscheint bei genauerem Nachdenken auch der gewiss irgendwie sinnbildlich gemeinte, jedoch räumlich nur schwer imaginierbare und daher unklare Vorwurf: „Krachts Koordinaten waren immer Vernichtung und Erlösung.“ Was hat hier die Vernichtung genau mit der Erlösung zu tun? Wer wird denn bei Kracht vernichtet und wer erlöst? Auch der darauf folgende Satz gibt darüber keinen Aufschluss, sondern konstruiert erneut ein seltsam blumig anmutendes Sprachbild: „Er platzierte sich damit sehr bewusst außerhalb des demokratischen Diskurses.“

Da sitzt er also nun, der Kracht. Bis hin zu Thomas Steinfeld in der „Süddeutschen Zeitung“, dem perlentaucher.de bescheinigte, die gesamte Pressedebatte vom „Feldherrenhügel“ aus kommentiert zu haben, zitierten die Redakteure gebetsmühlenhaft Diez’ für zentral gehaltenen Vorwurf, Christian Kracht sei ein „Türsteher der rechten Gedanken“. Was aber, musste man sich immer irritierter fragen, während man die Stilblüte in allen Blättern und in steter Regelmäßigkeit wiederholt fand, sollte eigentlich ein „Türsteher der rechten Gedanken“ sein?

Wollte Diez etwa Franz Kafkas legendären Rätseltext „Vor dem Gesetz“ (1915) zitieren, in dem ein finsterer Türhüter mit einem tartarischen Bart den Eingang zum Gesetz versperrt, in das ein einfältiger Mann vom Lande vergeblich Einlass begehrt? Sollen wir uns den eher zartgliedrigen Christian Kracht also als einen wachsamen Wächter vorstellen, der irgendwo in Zwickau in seiner Barbourjacke vor einer Skinhead-Disco misstrauisch die Leute mustert, damit auch ja keine Figur wie der zwielichtige Tamile Govindarajan aus „Imperium“ dort hereinkommt? Oder soll Kracht ein literarischer Gatekeeper sein, der vor dem gesamten deutschsprachigen Literaturbetrieb Aufstellung genommen hat und heimlich die ganzen „rechten Gedanken“ einlässt, damit „totalitäres Denken seinen Weg findet hinein in den Mainstream“ (Diez)?

Dies waren allerdings ganz und gar nicht die Fragen, welche die Öffentlichkeit beschäftigten und die bald auch einige AutorInnen auf den Plan riefen: Ein offener Brief von 17 SchriftstellerInnen an den „Spiegel“, den unter anderem auch Elfriede Jelinek unterzeichnete, machte eine ‚Sub-Debatte‘ über die Rolle der Literaturkritik auf. Meinten die UnterzeichnerInnen doch, mit seinem Artikel „Die Methode Kracht“ habe Diez „die Grenzen zwischen Kritik und Denunziation überschritten“. Der Vorwurf lautete: „Äußerungen von literarischen Erzählern und Figuren werden konsequent dem Autor zugeschrieben und dann als Beweis einer gefährlichen politischen Haltung gewertet. Wenn diese Art des Literaturjournalismus Schule machen würde, wäre dies das Ende jeder literarischen Phantasie, von Fiktion, Ironie und damit von freier Kunst.“

Iris Radisch antwortete darauf in der „Zeit“: „Die Autoren, die den Kritiker nun bei seinem obersten Dienstherrn, nein, nicht denunzieren, aber doch anklagen, maßen sich aber ebenfalls etwas an: Sie glauben zu wissen, was in der Literaturkritik erlaubt und was verboten ist.“ Die Literatur sei „kein ästhetischer Schutzwall, hinter den kein Kritiker mehr einen Blick werfen darf, ohne Angst vor Beschwerden bei seinen Vorgesetzten haben zu müssen. Wenn Literaturkritik so wäre, wie die Absender des Protestbriefes sie sich wünschen – peinlich darauf bedacht, keinen Seitenblick auf die wirkliche Welt hinter den Buchseiten zu wagen –, wäre sie zahnlos, langweilig und ohne jeden gegenwartsdiagnostischen Sex-Appeal.“

Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, inwiefern die Unterzeichner des offenen Briefs an den „Spiegel“ überhaupt die notwendige Unabhängigkeit für ein derart dramatisches Statement, das fast schon der Prophezeihung eines Untergangs des Abendlandes gleichkommt, für sich reklamieren können. Fanden sich doch darunter so notorische Betriebsnudeln und penetrante Kollegen-Lober wie der Bestseller-Autor Daniel Kehlmann. Der Publikationsort – zufälligerweise die eigene Website des Verlags Kiepenheuer & Witsch – war auch nicht gerade neutral. Unter anderem unterschrieb den Brief auch noch der Suhrkamp-Autor Rafael Horzon, der in einem weiteren, dieser Tage zur Rede stehenden Buch Krachts vielfach genannt wird – nämlich in dem „Briefwechsel“ mit dem Titel „Five Years“, der bereits 2011 im Wehrhahn Verlag erschien. Darin finden sich Mails, die Kracht und der Künstler David Woodard zwischen den Jahren 2004 und 2007 gewechselt haben, herausgegeben von den Germanisten Johannes Birgfeld und Claude D. Conter.

Wie dieser Edition zu entnehmen ist, plante „Mr. Rafael Horzon, founder of Redesigndeutschland“, im Dezember 2005 für das Folgejahr zusammen mit Kracht und dem erklärten Timothy-McVeigh-Fan Woodard einen zweistündigen Vortragsabend in seiner Berliner „Wissenschaftsakademie“. Für die Veranstaltung überlegte sich Woodard zunächst den erstaunlichen Titel: „An Evening Devoted to Elisabeth Förster-Nietzsche and Nueva Germania“. Dazu muss man wissen, dass Elisabeth-Förster Nietzsche, die Schwester Friedrich Nietzsches, rabiate Antisemitin war und mit ihrem noch antisemitischeren Mentor und Ehemann Bernhard Förster in Paraguay die „rassisch reine“ Siedlung „Nueva Germania“ gründete, in der später unter anderem auch der berüchtigte Auschwitz-Täter Josef Mengele Unterschlupf gefunden haben soll, wie Woodard im „Briefwechsel“ immer wieder bedeutungsschwanger erwähnt.

Woodard, dem Diez in seinem holprig formulierten „Spiegel“-Artikel einen „sehr vagabundierenden Kopf“ andichtet, firmiert in dem „Briefwechsel“ wahlweise als ‚Komponist‘, ‚Dirigent‘ oder auch als Bürgermeister der kalifornischen Stadt Juniper Hills. Der Freund Krachts setzte sich zu dem Zeitpunkt bereits seit Jahren für die Siedlung ein und bot Führungen durch das Gebiet an, die damit warben, dass man dort das Haus Mengeles besichtigen könne.

Den Verlauf der Veranstaltungsplanung bei Horzon kann man in „Five Years“ minutiös nachlesen. Schließlich treten Dr. David Woodard, Christian Kracht und Christian von Borries am 19. März 2006 in Horzons sogenannter „Elite Universität“ im Rahmen eines Studiengangs zu dem sinnigen Forschungsfeld „Anthropologie“ mit dem vorsichtigerweise dann doch etwas neutraler klingenden Thema „Nueva Germania – Gescheiterte Eugenik im Dschungel Paraguays“ auf.

Gewiss: Es mag nicht ohne eine gewisse Komik sein, dass Woodard hier auch als Promoter von Elisabeth Nietzsches Yerba-Mate-Tee fungierte: Für das „Seminar“ inklusive „Scheinvergabe“ interessierte sich – den online stehenden Fotos nach zu urteilen – neben dem Autor Ingo Niermann, der in der ersten Reihe mit bierernster Miene, rosa Pulli und rotem Schal zu erkennen ist, vielleicht deshalb auch ein ergriffen wirkendes Publikum im braven Kirchentags-Outfit. Zudem ist die Aufzählung der Kooperationspartner des Events purer Nonsens, wie er etwa auch in einer der berühmt-berüchtigten Fußgängerzonen-Aktionen des Satiremagazins „Titanic“ vorkommen könnte: „Unterstützt wird diese städtepartnerschaftliche Kooperation durch den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten Dr. Dick Cheney, durch den Präsidenten der Republik Paraguay Dr. Nicanor Duarte Frutos, das Goethe-Institut Los Angeles, die ‚Plasticos-Foundation‘, die Zeitschrift ‚Der Freund‘, sowie durch die kulturelle Mission der Demokratischen Volksrepublik Korea in Paraguay.“ Am 28. Februar 2006 schreibt Kracht dazu in diebischer Vorfreude an Woodard: „I feel that Germans like to be embedded in a mossy nest oft institutions and esteemed personages and thus we will get press coverage and hate mail.“

Derartige, mehr oder weniger witzige Provokationen, die möglicherweise vielen der ahnungslosen Besucher noch nicht einmal aufgefallen sind und sie zu unfreiwilligen Teilnehmern eines bereits jetzt literaturgeschichtlich relevant gewordenen Happenings machten, sind für Kracht & Co. typisch. So fasste David Hugendick die Sachlage in der „Zeit“ wie folgt zusammen: „Gewundert haben sich auch andere immer wieder mal, was Kracht zum Beispiel auf den Spuren des Chefsatanisten Aleister Crowley suchte und zu finden glaubte. Was er meinte, als er Nordkorea einmal als eine gigantische Inszenierung bezeichnete. Und wieso er die Anschläge des 11. September 2001 in die Nähe des camp rückte. Das popkulturelle Quintett Tristesse Royal, worin Kracht mitwirkte, endete mit einer Reise zu den Killing Fields in Kambodscha. Sein Roman ‚1979‘ beschreibt die heilsame Auslöschung eines wohlstandsverwahrlosten Europäers in einem chinesischen Umerziehungslager. Auf dem Erzählband Mesopotamia posiert er mit Kalaschnikow unter düsterem Tropenhimmel. Und so weiter.“

Fragen, die sich der Literaturkritiker angesichts solcher (Selbst-)Inzenierungen und Publikationen allerdings dennoch stellen darf und vielleicht sogar muss, lauten: Was haben die „ironisch unverbindlichen Ausflüge“, wie sie Hugendick in seinem für die Debatte um „Imperium“ so exemplarischen Plädoyer für Kracht nennt, aber dann eigentlich genau für die Rezipienten zu bedeuten? Was ist daran „streitbar“ (Hugendick)? Soll man darüber lachen, weil es „vergnüglich“ ist, in scheinbarer Ernsthaftigkeit mit rassistischen und antisemitischen Sinnangeboten hausieren zu gehen? Inwiefern? Wieso ist es überhaupt, wie Hugendick meint, so „wohlfeil“ zu betonen, dass man solche literarischen und ‚performativen‘ Kokettierereien mit faschistischen Attributen und Gesten so skandalös findet, wie Diez dies in seinem Artikel getan hat? Prügel bezogen hat in der bisherigen Debatte schließlich vor allem Georg Diez – nicht aber Christian Kracht, dessen Roman nun auf der Bestseller-Liste im „Spiegel“ auftaucht und dem das deutschsprachige Feuilleton beinahe einhellig zu Füßen liegt.

Klar werden sollte man sich vielleicht zunächst einmal über die grundsätzlichen Wertungsverfahren, mit denen solche Fragen in der Deutung literarischer Texte und ihrer Kontexte verhandelbar sind: Was Kracht selbst hier und da eventuell ‚meint‘ und inwiefern er tatsächlich ein Ironiker ist, der niemals auch nur irgendetwas im Ernst schreibt, ist dabei ziemlich Wurst: Es sollte vor allem um die Wirkung seiner Provokationen und um die möglichen Rezeptionsweisen seiner erfolgreichen Inszenierungen gehen. Wenn etwa in einem Roman wie Krachts „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (2008) Elemente des Literarischen Antisemitismus auftauchen – also vor allem genuin textuelle Phänomene, wie sie die Germanistik seit Mark H. Gelbers Aufsatz „What Is Literary Antisemitism?“ (1985), besonders aber seit den späten 1990er-Jahren immer stärker zu beachten und zu untersuchen begonnen hat, so interessiert sie sich vor allem für die Werke und deren mögliche Kapazität, Leser von antisemitischen Einstellungen zu überzeugen.

Mit den Worten des Soziologen Klaus Holz: „Die Rekonstruktionen haben die antisemitische Semantik, die in der Form von Texten vorliegt, nicht Antisemiten zum Gegenstand. Die Frage ist nicht, ob beispielsweise [Heinrich von] Treitschke Antisemit war oder was er ‚eigentlich‘ sagen wollte. Vielmehr untersucht die Textanalyse, ob, was er schrieb und wie er es schrieb, objektiv, seinem Sinngehalt nach, antisemitisch war – ob er dies nun wußte oder wollte oder nicht. Dies wird in der Antisemitismusforschung, insbesondere in interpretativen Arbeiten, häufig durcheinandergeworfen.“

Man darf hinzufügen: Diesen Mangel an verfahrenstechnischer Reflexion findet man eben nicht nur in der soziologischen und historiografischen Antisemitismusforschung, sondern auch immer noch bei vielen Literaturwissenschaftlern, und – last but not least – in der Literaturkritik, wie man ja gerade an der aktuellen Debatte wieder eindrucksvoll ablesen konnte. Die Frage an den Roman „Imperium“ müsste also weniger die sein, ob sich darin der Autor Christian Kracht selbst als ‚Demokratiefeind‘ (oder gar als ominöser „Türsteher der rechten Gedanken“) zu erkennen gebe. Vielmehr wäre zunächst einmal zu eruieren, inwiefern der Roman die in ihm vorkommenden rassistischen Darstellungen und Figurenaussagen, und zwar unter Berücksichtigung der genaueren Figurenkonstellationen und Figurenkonfigurationen, gegenüber dem Leser eventuell affirmiert – oder ob er sie etwa im Blick auf das Ensemble des Gesamttextes und seiner relevanten Kontexte nur neutral oder sogar distanziert darstellt.

Diese nicht eben unerheblichen Feinheiten sind in den letzten Tagen und Wochen in der Kracht-Debatte jedoch weitgehend untergegangen und schon gar nicht näher untersucht worden. Seltsame Orakeleien wie die von Jakob Augstein bei „Spiegel Online“ bringen uns da jedenfalls nicht wesentlich weiter: „Vielleicht ist Kracht ein Faschist der Literatur, im Sinne Sloterdijks, der sich dem gleichen Vorwurf ausgesetzt sah und gesagt hat: ‘Der Faschismus ist ein Expressionismus, während der Humanismus im Grunde ein Erziehungs- und Optimierungsprojekt ist.’“

Daraus folgen aber noch einmal weitere Fragestellungen: Gibt es vielleicht Kracht-Leser, die seine Bücher aus ganz anderen Gründen für gelungen halten als die noblen deutschen LiteraturkritikerInnen – und zwar aufgrund von Lesarten, die der Text durch die ihn bestimmenden Motive und Darstellungsweisen unterstützt? Gibt es eventuell Bedeutungsebenen in „Imperium“, die das deutschsprachige Feuilleton in seiner Bewertung des Romans aufgrund eines spezifischen gruppenbezogenen Verhaltens- und Wertungskodex‘, den man unter KollegInnen tunlichst einzuhalten hat, um nicht wie Diez an den Pranger gestellt zu werden, lieber stillschweigend ausblendete? Sicher hat auch Diez Verfahrensfehler begangen, weil er von dekontextualisierten Zitaten des Romans sofort auf die persönliche politische Einstellung des empirischen Autors Kracht schloss. Jedoch kommt ihm der Verdienst zu, ein wichtiges Grundproblem in der Deutung von Krachts Literatur endlich auch einmal einem breiteren Publikum ins Bewusstsein gerückt und damit zur Diskussion gestellt zu haben.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Am 11. April 2010 um 17:21 Uhr postete ein gewisser Salvatore Frangipani die radebrechende Aufforderung auf Krachts Facebook-Seite: „Können Sie eine spannende Geschichte schreiben über irgend welche Bergsoldaten die im zweiten Weltkrieg Goldzähne zu Barren verschmolzen haben, und über Komunisten die erschossen wurden weil man noch keine Ausländer hatte.“ Wieso, kann man sich fragen, könnte oder sollte Kracht nach Meinung dieses Lesers einen solchen Text schreiben? Fand er dazu etwa Anhaltspunkte in Krachts Werk, die mit literaturwissenschaftlichem Instrumentarium auf irgendeine Weise nachweisbar wären?

Wegen der teils klandestinen Umgangsformen im Internet, die es ermöglichen, mit falscher Identität zu kommunizieren, wäre es theoretisch auch möglich, dass Christian Kracht sich den Leserbrief von Frangipani einfach selbst geschrieben hat. Das wäre allerdings keine Entschuldigung, sondern würde die Problematik der ganzen Sache sogar noch verschärfen: Wie Thomas Assheuer in der „Zeit“ richtig bemerkt hat, kann die Ironie der Ironie in einem Werk auch dazu führen, dass die Geschichte langsam wieder ernst zu werden droht. Dies gilt in der Konsequenz für das ‘Gesamtkunstwerk Christian Kracht’ in allen seinen (virtuellen) Erscheinungsformen.

Nun kann ein Autor gewiss nichts dafür, dass sich im Internet lauter dubiose Leute tummeln und alle ihnen verfügbaren Kommentarspalten manisch mit rassistischen Ressentiments volltippen. Aber selbst wenn Kracht gar nicht reflektiert haben sollte, wie seine Texte, die in aufreizender Weise mit rassistischen Botschaften hantieren, irgendwo ‘da draußen’ tatsächlich wahrgenommen werden könnten – selbst dann muss er als Schriftsteller, der mit solchen massiv irritierenden Texten an die Öffentlichkeit herantritt, damit rechnen, dass auch die Literaturkritik und die Literaturwissenschaft irgendwann einmal anfangen könnte, genauer danach zu fragen: Es ist ganz einfach Teil des Jobs und damit eines jener spezifischen Berufsrisiken, denen sich ein Schriftsteller souverän zu stellen hat.

Dies gilt im Übrigen auch für vergleichbare Fälle im ‘Kracht-Orbit’, wie etwa den Versuch Ingo Niermanns und Alexander Wallaschs, mit ihrem Roman „Deutscher Sohn“ (2010) die Provokation mit deutsch-religiösen Kokettierereien so weit zu treiben, dass daraus ein einträglicher Skandal für sie hätte herausspringen können – etwa dem vergleichbar, der Kracht nun einen tatsächlichen Bestseller beschert hat. Das gelang dem offenbar an Strategien Krachts orientierten Autoren-Duo allerdings nur halb: Aufgrund eines Verrisses in der „taz“, der mit der wirkungsbezogenen Hypothese schloss, der Roman könne auch für NPD-Wähler eine interessante Lektüre darstellen, beschwerte sich Wallasch bei der „taz“-Redaktion. Daraufhin wurde zwar eine von Feuilleton-Redakteur Dirk Knipphals und dem „taz“-Chefreporter Peter Unfried moderierte Podiumsdiskussion zwischen Niermann, seinem Kritiker und dem Popliteratur-Spezialisten Moritz Baßler im „taz“-Café organisiert. Damit hatte sich die Aufregung seinerzeit allerdings auch schon wieder: Der Roman „Deutscher Sohn“ wurde danach kaum noch weiter diskutiert, weil die Aufmerksamkeitsspanne der Presse schlicht zu Ende war. Dennoch wurde damals bereits schon einmal kurz und gewissermaßen ‘im Kleinen’ jene Debatte über das Für und Wider moralischer Bewertungen von Literatur durchgespielt, die nunmehr im Fall von „Imperium“ eskaliert ist. Selbst Georg Diez war damals bereits als Diskutant im taz-Café angekündigt, tauchte aber ebensowenig auf wie der empörte Roman-Co-Autor Alexander Wallasch.

Wie dem auch sei: Vielleicht geht die Kracht-Debatte, die zu Beginn mehr aus einem allgemeinen ‚Abwinken‘ zu bestehen schien, aber dann doch immer ernsthafter wurde und merklich an Intensität gewann, in den nächsten Tagen und Wochen ja noch einmal ein wenig weiter. Die Redaktion von literaturkritik.de wird die Sache jedenfalls gespannt verfolgen – siehe hierzu in der vorliegenden Ausgabe auch die ausführliche Rezension zu „Imperium“.

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Christian Kracht / David Woodard: Five Years. Briefwechsel 2004-2009.
Herausgegeben von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2011.
247 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783865252357

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Titelbild

Christian Kracht: Imperium. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
240 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462041316

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