Ein neues Mosaik der Roth-Forschung

Zum Joseph Roth-Konferenzband, herausgegeben von Johann Georg Lughofer und Mira Miladinovic Zalaznik

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band „Joseph Roth. Europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist“ geht auf die Konferenz zur Aktualität von Joseph Roth im Mai 2009 zurück. Die von Mira Miladinović Zalaznik, einer renommierten Germanistin und begnadeten Roth-Übersetzerin ins Slowenische, sowie von Johann Georg Lughofer, einem profilierten österreichischen Germanisten, geleitete Konferenz fand an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana statt. Die meisten ReferentInnen – ausgewiesene Roth-KennerInnen aus vielen europäischen Ländern und dem nichteuropäischen Ausland – sind im Band vertreten. Dieser evoziert bereits im Untertitel die Zuschreibungen an Joseph Roth als europäisch-jüdisch und österreichisch. Das Ziel, ihn und sein Werk in seiner Aktualität zu eruieren, ist ein mutiges Unternehmen, das überaus gelungen ist. Dass dieses nicht in Wien, sondern in Ljubljana unternommen wurde, ist um so bemerkenswerter.

Die fast dreißig Beiträge verteilen sich auf fünf unterschiedlich umfangreiche Kapitel. Ihr thematisches Spektrum ist sehr breit angelegt: Zum Judentum, Zwischen Kulturen und Orten, Zwischen den Geschlechtern, Soziales und Geschichtliches, Zur Rezeption und Forschung. Dem kurzen Vorwort der Herausgeber folgt der Essay des slowenischen Schriftstellers Drago Jančar in der deutschen Übersetzung von Mira Mildadinović. Rekurrierend auf Roths Roman „Die Flucht ohne Ende“ schildert Jančar, einer der bedeutenden Autoren der slowenischen Gegenwartsliteratur, in seinem gleichnamigen Essay die kuriose Präsenz Joseph Roths und seiner Werke auf dem slowenischen Büchermarkt.

Das Kapitel „Zum Judentum“ vereint drei sehr gut aufeinander abgestimmte Beiträge. Während Sigurd Paul Scheichl eine Re-Lektüre des Essays „Juden auf Wanderschaft“ unternimmt und hervorhebt, dass Roth sich auf dem Hintergrund der modernen Migrationsbewegungen aktualisieren ließe, konzentriert sich Victoria Lunzer-Talos auf Roths Artikel „Der Segen des ewigen Juden“. Diesen deutet sie mit anderen seiner Publikationen aus der Zeit nach der Machtergreifung der Nazis als „eine ‚positive‘ oder ‚offensive‘ Pressekampagne“. Klaus Zelewitz widmet sich Roths Position zum Zionismus, diskutiert diese durchaus polemisch anhand der wenigen Forschungsarbeiten, die sich dieser Fragestellung angenommen hatten, und plädiert schließlich dafür, „Roth in die Nähe des Zionismus zu setzen“.

Die zwei nächsten Kapitel „Zwischen Kulturen und Orten“ und „ Zwischen den Geschlechtern“ rekurrieren bereits mit ihrer Überschrift auf die in den letzten Jahrzehnten durchaus auch in der Germanistik zunehmende Bedeutung von „postcolonial studies“ und der Hybriditätstheorie. Diese schlägt sich besonders im Beitrag „Joseph Roth – ein Schriftsteller der Hybridität oder der Reinheit von Kulturen?“ von Lughofer nieder. Ausgehend von der bereits im Titel formulierten Fragestellung verfolgt er die These, Roth schildere Kulturen als ganzheitliche, voneinander abgeschlossene und räumlich begrenzte Einheiten. Unter anderen Beiträgen dieses Kapitels sei besonders hingewiesen auf Alexander Ritters Analyse der Amerikarezeption in Roths „Hiob“, auf die von Ulrike Zitzlsperger sehr differenziert herausgearbeitete Bedeutungen der halböffentlichen Räume wie Hotel, Caféhaus und Bahnhof, sowie die Betrachtungen von Roths Kosmopolitismus und seiner Fremd- und Selbstbilder jeweils im Vergleich mit Stefan Zweig (Beiträge von David Horrocks und Matjaž Birk).

Einen facettenreichen biografischen, werkimmanenten und ansatzweise theoretischen Überblick zum Thema Joseph Roth und die Frauen bieten die vier Beiträge des Kapitels „Zwischen den Geschlechtern“. Isabel dos Santos analysiert in ihrem Beitrag, wie Roth die sich veränderten Erwartungen an die Frau und den damit einhergehenden Wandel der Frauenrollen thematisiert. Reflektiert stellt sie fest: „Roth kritisiert die Entmenschlichung und Oberflächlichkeit, die mit den neuen Zeiten und dem neuen Frauenbild einhergehen, doch Aufsätze wie ;Körperliche Erziehung der Frau‘ offenbaren einen Autor, der dem Fortschritt, physischem Training und sozialen Verbesserungen für die Frau völlig zustimmt.“ Im Beitrag „Joseph Roth und seine Muse(n)“ unterscheidet Irena Samide drei Modelltypen, in die sie die Bedeutungen der Frauen einteilt: Modellierte, imaginierte Frau; Karrierebegleiterin, Schreibmaschinistin; Kreative, schreibende und sprechende/singende Muse. Diese interpretiert sie stellenweise aus der Perspektive der feministischen Forschung. Einer der Musen Roths, der Schriftstellerin Irmgard Keun, widmet sich die slowenische Germanistin Neva Šlibar. Sie rückt das schriftstellerische Werk der beiden aus der Zeit des Exils ins Zentrum ihrer wissenschaftlichen Betrachtung und arbeitet auf überzeugende Weise die thematisch-motivischen, genretypischen und ästhetischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Roths und Keuns Schaffen heraus. Der Beitrag von Helen Chambers komplementiert dieses Kapitel mit der thematischen Fokussierung auf „Sex und Behörde“. Dadurch wird die in Roths Werken thematisierte Diskrepanz zwischen „den Wirklichkeiten des alltäglichen menschlichen Lebens und den amtlichen Bemühungen diese durch Systeme zu beherrschen“ besonders eindringlich sichtbar gemacht.

Das umfangreichste Kapitel „Soziales und Geschichtliches“ vereint Beiträge mit so verschiedenen thematischen Schwerpunkten, dass der Leser stellenweise die Spezifizierung vermisst. Hartmut Scheible analysiert den „Mythos Napoleon“ anhand mehrerer Werke der 1920er- und 1930er-Jahre, darunter auch Roths Roman „Die Hundert Tage“, dessen Anliegen laut Scheible „Napoleons Läuterung, sein Weg zu Gott“ zu sein scheint. Dem journalistischen Aspekt im Werk Roths widmen sich Klaus-Detlef Müller, der auf journalistische Darstellungsformen im Roman „Das Spinnennetz“ verifiziert, und Véronique Uberall im Beitrag „Kritik des Journalismus in der Novelle ‚Das Kartell‘ von Joseph Roth (1923)“. Primus-Heinz Kucher geht der Frage nach, welchen Bildern sich Roth als „Chronist der Zeit“ widmete und wie sich die Spannung „zwischen Augenblicksbildern, Momentaufnahmen, also tendenziell subjektiven Wahrnehmungsformen und objektivierbaren auf eine Symptomatik der Zeit hin fokussierten Analysen“ manifestiert. Überzeugend zeigt Karl Wagner die scharfsinnige Kritik Roths an den Intellektuellen auf und bettet diese in den Kontext der 1920er-Jahre ein. Roths kritische Einstellung zur Gründung der Republik Deutschösterreich und zur österreichischen Politik (Susanne Kalina-McMahon), die „als Erzählbasis angewandt[e]“ Generationsthematik in seinen Werken (Jon Hughes) sind neben der Funktion des Erzählers im Roman „Radetzkymarsch“ (Sonja Osterwalder) und der Erzählstrategie in „Das falsche Gewicht“ (Zoltan Szendi) sowie Roths Position zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken (Maria Kłanska) weitere Aspekte dieses facettenreichen Kapitels.

Zwei der vier Beiträge im abschließenden Kapitel „Zur Rezeption und Forschung“ sind der Präsenz Roths Werke im slowenischen Raum gewidmet. Während Tanja Žigon auf die gesamte Geschichte der Übersetzung und wissenschaftlichen Rezeption Roths Werke in Slowenien eingeht, konzentriert sich Vesna Kondrič Horvat auf die Übersetzung der Romane „Radetzkymarsch“ und „Die Kapuzinergruft“, die in ihren Augen „paradigmatisch für das Verbindende der Kulturen stehen.“ Christoph Parry skizziert, wie Joseph Roth von David Bronsen, Hermann Kesten, Stefan Zweig, Claudio Magris, Heinrich Böll und W. G. Sebald wahrgenommen wurde. Als Mahnung und Anregung für Roth-ForscherInnen sei auf den abschließenden Beitrag von Heinz Lunzer hingewiesen.

Der 70. Todestag Joseph Roths war für Mira Miladinović Zalaznik und Johann Georg Lughofer Anlass, sich mit dem Werk eines der größten Erzählers des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen. Daraus ging ein vielseitiger und facettenreicher Band hervor, der für die weitere Roth-Forschung von großer Bedeutung ist.

Titelbild

Johann Georg Lughofer / Mira Miladinovic Zalaznik (Hg.): Joseph Roth. Europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist.
De Gruyter, Berlin 2011.
357 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110265040

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