Urbane Streuner zwischen Empörung und Scheitern
Ein von Friedhelm Marx und Andrea Bartl herausgegebener Sammelband zum Werk Wilhelm Genazinos leistet Pionierarbeit
Von Thorsten Carstensen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEr folgt einer älteren Frau durch die Straßen, da der Einkaufszettel in ihrer Hand sein Interesse geweckt hat; er schaut Papierfetzen hinterher, wie sie im Wind flattern; er wandert desillusioniert durch das „Billiggetümmel der Vorstädte“, bis die äußere Verwahrlosung sein Innerstes erfasst und ihn nach Hause in die Mietwohnung treibt: Der „Streuner“, so hat es Wilhelm Genazino im Wintersemester 2005/2006 in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung festgehalten, ist der Held seiner Großstadt-Romane. Als Nachfolger des Flaneurs zeichnet sich der Streuner dadurch aus, dass er „selbst der Ungemütlichkeit noch einen Reiz abgewinnen möchte“, während er, so heimat- wie ziellos, in seiner Identität kaum weniger beschädigt ist als die Metropole, die er mit dem aufmerksamen Blick fürs Unscheinbare durchquert.
Andrea Bartl und Friedhelm Marx, die Herausgeber dieses wichtigen und lange überfälligen Sammelbandes zu Genazinos Werk, nehmen das Motiv des einsamen und rastlosen Streuners auf und leiten aus ihm ihren Zugang zu den Texten des Büchner-Preisträgers ab. „Versagensängste, Hypochondrie und eine fast zwanghafte Beobachtung des eigenen Ichs und der Umwelt charakterisieren diese Figuren ebenso wie Melancholie und Langeweile“, fassen Bartl und Marx in ihrer Einleitung prägnant zusammen. Die fundamentale Verunsicherung, mit der diese Figuren den unwirtlichen Alltag der westdeutschen Großstädte erkunden, hänge mit einer Grunderfahrung der Ohnmacht zusammen: der „plötzliche[n] Erkenntnis der prinzipiellen Unerkennbarkeit“ der Welt. Genazinos Romane gestalteten Erkenntnis als „beständige, oszillierende Bewegung von Aufbruch und Scheitern, Annäherung und Distanz“ – eine Bewegung, die immer wieder neu einsetzt und somit stets nur der Anfang des Verstehens bleibt.
Verstehensanfänge: Der Titel des Bandes ist trefflich gewählt, denn den Autoren geht es darum, Wege zu einem theoretisch fundierten Verständnis von Genazinos Texten zu erschließen. Indem sie eine Fülle von Aspekten und Motiven erörtern, die Genazinos Werk seit der Ende der 1970er-Jahre erschienenen „Abschaffel“-Trilogie prägen, leisten sie wertvolle Pionierarbeit. Es ist vor allem Alexander Honold, der in seiner Auseinandersetzung mit den Konstruktionsprinzipien von Genazinos Erzählen die Koordinaten der Forschung absteckt. Honold sieht die Protagonisten in Möglichkeitsräume hineingestellt, die „zwischen Status quo und radikaler Veränderung“ changierten. Als durchgängiges Erzählmuster macht er die „Inszenierung von Lebensläufen“ aus, deren doppelgleisige Anlage unlösbare Entscheidungskonflikte produziere: Alles liege in der Schwebe und bleibe letztlich provisorisch. Diese Unentschiedenheit benennt Honold auch als das Grundproblem des Autors, das in der Tat schon so manchem Rezensenten die Genazino-Lektüre verleidet hat: „Die Wirklichkeit ohne Schminke und Überschwang schildern und trotzdem mit ihr auf so entwaffnend passive Weise einverstanden sein: Geht denn das? Und vor allem: Wie lange geht das gut?“
Das Potential, die Genazino-Forschung entscheidend voranzubringen, besitzt auch die Mehrzahl der übrigen hier versammelten Aufsätze. Andrea Bartls Analyse des Fremdheit-Motivs, Hans-Peter Eckers Ausführungen zum „Fremdschämen“, Dana Pfeiferovás kulturwissenschaftliche Annäherung an Metaphern des sozialen Todes und Sven Hanuscheks Erörterung von Erlebnissen des Ekels, mit denen bei Genazino die Welt „als ein Ort der unentwegten Komik-Produktion“ ausgewiesen wird – all dies sind Darstellungen von grundlegender Bedeutung. Hervorzuheben ist indes der Beitrag Heiko Neumanns, der als typische Konstellation im Werk Genazinos die „Trias aus Gehen, Notieren und dem skeptischen Blick“ auf die Begleiterscheinungen der fortschreitenden Modernisierung erkennt. Der Stadtraum ist zum „Junk-Space“ geworden, dessen Zumutungen der Streuner sich durch ständiges Reflektieren zu widersetzen weiß. Mit dem Roman „Die Liebesblödigkeit“ (2005), so Neumann, erfahre diese Konstellation allerdings eine veränderte Zuspitzung: Als Variation des Streuners erscheine nun der „Zivilisationsempörte“ auf der Bildfläche – eine Figur, die sich mit den Gegebenheiten des modernen Alltags nicht länger anfreunden könne.
Manuel Maldonado Aléman gelingt es in seiner intermedialen Analyse, das emotionale Zentrum von Genazinos Werk theoretisch auszuleuchten, wenn er Erinnern, Vergessen und Verschwinden als dessen „Grundmomente“ bestimmt und darauf hinweist, dass es die Vergänglichkeit der erinnerten Zeit ist, die „ein kompensatorisches Erzählen“ notwendig macht. Vor diesem Hintergrund ließe sich auch der „gedehnte Blick“ verstehen, mit dem Genazinos Erzähler die Wirklichkeit wahrnehmen. Als „ein quasi mystisches Erlebnis“, wodurch der Schauende mit dem Angeschauten verschmelze, hat Genazino selbst diesen Blick beschrieben. Dass dessen psychologischer Kern jedoch womöglich ein anderer ist, zeigt Iris Hermann, indem sie auf die Parallelen zu jener „Sehmagie“ hinweist, mit der die Charaktere in Cees Nootebooms Roman „Allerseelen“ auf den Verlust geliebter Menschen reagieren. So wird deutlich: Man muss sich den gedehnten Blick als einen Blick der Trauer vorstellen, der geleitet ist von dem Bedürfnis des Menschen, die sich beharrlich entziehende Welt doch nie verloren zu geben.
Eingeklammert werden die Forschungsbeiträge von zwei überaus lesenswerten Kapiteln, in denen Genazino selbst das Wort erhält. Während am Ausgang des Buches das intensive Podiumsgespräch abgedruckt ist, das der Autor im Juli 2009 mit dem FAZ-Redakteur Hubert Spiegel führte, erwartet den Leser zu Beginn die Poetik-Vorlesung mit dem Titel „Der Roman als Delirium“, in der Genazino im Stile eines Germanisten über die Voraussetzungen und Strukturen seines eigenen Schreibens referiert. Vollkommen unpathetisch tritt er den von ihm erfundenen Figuren und Handlungen gegenüber und korrigiert außerdem die in der Literaturkritik verbreitete Auffassung, sein Werk habe zuletzt immer mehr zum Komödiantischen tendiert: Eher als „eine Art Pendelbewegung“ zwischen sozialkritischen Büchern einerseits und ironischen, „individualistischen“ Texten andererseits solle man sich seine schriftstellerische Entwicklung vorstellen.
Faszinierend ist die Souveränität, mit der Genazino das poetische Prinzip beschreibt, das für seine Romane konstitutiv ist und das übrigens eine erstaunliche Nähe zu der Poetologie Peter Handkes offenbart: das Freifantasieren von biografischer Kontinuität durch die Wahrnehmung alltäglicher Gegenstände, welche durch den Blick des Erzählers poetisiert werden. So wie in Handkes Paris-Roman „Stunde der wahren Empfindung“ der Erzähler einen Moment der inneren Epiphanie beim Anblick eines Kastanienblatts, eines Taschenspiegels und einer Haarspange zu seinen Füßen erfährt, so stiftet in Genazinos „Mittelmäßiges Heimweh“ der Seifenrest auf einem Badewannenrand einen Reflexionszusammenhang, der bis in die Kindheit zurückreicht. Für Genazino ist gerade diese „Verlagerung des poetischen Erregungsmoments vom Objekt ins betrachtende Subjekt“ ein Signum der literarischen Moderne.
Was es für das Subjekt allerdings bedeutet, wenn das Verstehen doch stets nur ein „versuchsweise[s] Arrangieren von Wahrheitspartikeln“ bleibt, hat Genazino in seinem Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ auf den Punkt gebracht: „Das Problem dabei ist die riesige Menge des nur anfänglich Verstandenen, das sich in meinem Geist anhäuft.“ Wenn das Erzählen in autoreflexiver Manier fortwährend um die Unmöglichkeit eines umfassenden Begreifens der Wirklichkeit kreist, bleibt die eigentliche Handlung auf der Strecke. Dass dies der Absicht des Autors entspricht, zeigt Oliver Jahraus in seiner Analyse der Subjektkritik in Genazinos Romanen. Deren narratives Programm, so Jahraus, ziele im Kern auf die Enttäuschung der Lesererwartungen. So falle besonders die Identifikation mit den Erzähler-Protagonisten schwer, weil die Texte eine bewusste „Deemphase des Subjekts mit narrativen Mitteln“ betrieben und somit ein „Gegenmodell zur aufklärerischen und modernen Emphase“ entwürfen. Überzeugend legt Jahraus dar, wie sich Genazinos Romane „als Antiwertheriaden“ lesen lassen, deren Hauptfiguren sich im Scheitern, in der Apokalypse einrichten. Lediglich als „Leerfolie“ ist das moderne Subjekt hier noch präsent.
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