Geisterfahrer

Heinz Schlaffer leitet die Lyrik wortreich aus der Geisterbeschwörung ab und erklärt am Ende gar nichts

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lyrik ist zwar keine aussterbende, aber doch eine niedergehende Art. Die Vielfalt ihrer formalen Möglichkeiten wird nur noch von wenigen Autoren beherrscht. Wenns ihm also gegeben ist, aber nicht gelernt wurde, verfällt der nächstbeste Lyriker in die paar bekannten Standardformen, reimt sich seine paar- oder wechselreimigen Vierheber und sortiert das alles in vierversige Strophen. Alternativ schreibt er ein paar reimlose Sentenzen, die er beliebig und gedankenschwer umbricht. Lyrik dient heute wohl – als spätes Resultat der Genieästhetik – vor allem als Medium subjektiver Befindlichkeitsreflexion, beliebt freilich mehr bei den liebestrunkenen oder -kranken Verfertigern gereimten Schriftguts als bei ihren Lesern.

Der Gedanke, dass Lyrik eine lernbare Schreibform ist, ist seit der Frühen Neuzeit weitgehend verloren gegangen. Was an Technik sonst geblieben ist, reicht aus, die seelischen Hygienefunktionen zu erfüllen, die wenigen Ausnahmen ausgenommen, die dann allerdings die Szene dominieren. Nichts also gegen Durs Grünbein, den derzeitigen lyrischen Dominator deutscher Zunge, der selbst vor dem lesenden Auge eines George Steiner zu bestehen vermag. Und das vor allem deshalb, weil der Mann intelligent und gelehrt ist und die Möglichkeiten lyrischen Sprechens auszuloten vermag. Eine Seltenheit, die gepflegt sein will.

Bei alledem gerät eine Erklärung dafür, dass es so etwas wie Lyrik überhaupt gibt, ein wenig außer Blickweite. Allerdings ist das gebundene Sprechen vor allem von einem Standpunkt her skandalös, dem das prosaische zur allumfassenden Norm geraten ist.

Heinz Schlaffer nun versucht die Lyrik aus der Umfesselung von subjektivem Erlebnis und akademischer Formorientierung zu lösen und funktional zu verorten. Gedichte sind ihm zweckgerichtete Handlungen, allerdings dienen sie nicht dazu, Überlieferungen zu erhalten oder erhabene Gefühle auszulösen. Ihr Zweck ist, wie der Titel von Schlaffers schmalem Buch bereits deutlich genug mitteilt – „Geistersprache“ –, das Gespräch mit den Göttern.

Ihren Ursprung haben Gedichte, so Schlaffer, in der Anrufung der Götter, die zu irgendetwas bewegt werden sollen, zur Gnade, zur Einsicht, zur Intervention, zu gutem Wetter, zur besseren Ernte. Der „Ablauf lyrischer Kommunikation“ entspreche, meint Schlaffer, dem „Gottesdienst, in dem der Priester vor der Gemeinde und stellvertretend für sie Gott anruft“. Priester, Gemeinde, Gott sind ihm denn auch – abstrahiert – notwendige Parteien der lyrischen Kommunikation. Noch die Metapher ist dem Umstand zu verdanken, dass das lyrische Sprechen sich dem Göttlichen anzunähern versucht und deshalb die Distanz zur Alltagssprache sucht. Das Erhabene, der Pathos – all das und mehr verdankt sich dieser primären Funktion der Lyrik.

Das trifft auch noch jene Ausdrucksformen, die mit der Lyrik noch im hermeneutischen Auslegeverfahren verbunden werden, mit dem Gesang, der Musik und dem Tanz, die gleichfalls mit der mythischen Anrufung eng verbunden werden. Lyrik soll klingen, sie soll Rhythmus haben und einen spezifischen Ton – was niemand bestreiten wird, der sich – auf diese oder jene Art – mit Lyrik beschäftigt.

Diese Funktion und die Struktur der Kommunikation prägen das lyrische Sprechen – Schlaffer folgend – bis heute: Reim, Rhythmus, Strophe, Ton – all das sind Restelemente einer mythischen Aufgabe, die zwar heute nicht mehr erfüllt werden muss, aber dennoch nachwirkt. Wenigstens in den Formen des Sprechens und Schreibens, die als Lyrik bezeichnet wird.

Das funktioniert über die Beseelung und Aufwertung dessen, was lyrische Form gefunden hat, womit die Qualität des Angerufenen auf den Rufer und sein Werk zurückschlägt. Der Poet selbst ist vor allen anderen inspiriert, das, was er hervorgebracht hat, ist naheliegender Weise von inspirierender Qualität. Die Götter, ja auch Gott, lassen sich gern anrufen und der Anrufende hat bis heute noch sein Alleinstellungsmerkmal davon. Ein guter Deal, der zum nächsten Sonett anregen mag.

Zwar entgeht auch Schlaffer nicht, dass die Lyrik im Song einen bis heute anhaltenden Erfolg feiert, und das inklusive all jener Elemente, die der Leselyrik verloren gegangen sind: dem Gesang, der Musik und dem Tanz. Aber er zielt ja eben nicht auf die Gebrauchsformen, sondern auf die Genieformen ab.

Und selbst wenn Dylan-Fans dessen Genie feiern mögen, in den literarischen Kanon, auf den es eben ankommt, hat er es dann doch noch nicht geschafft. Was denn zu solchen Behauptungen führt wie die, dass die Lyrik ihren praktischen Zweck eben verloren habe, sei doch ihre mündliche Aufführung aufgegeben worden. Das Gegenteil ist wohl richtiger, denn lyrisch inspiriertes Fest, Tanz, Feier und Kult haben ihre profanen und vulgären Formen bis heute erhalten, sei es eben in der Clubkultur oder sei es in den Konzerten der Stars der Populärkultur. Wäre Schlaffer also konsequent, müsste er nicht den Verlust der Ursprungsfunktion predigen, sondern ihren Transfer in die Unterhaltungskultur der Gegenwart. Aber diesen Schritt macht er nicht.

Dafür weist Schlaffer dem berühmten lyrischen Ich, das er zum Gattungsmerkmal erhebt, eine besonders starke identifikatorische Wirkung zu (immerhin keine autobiografische). Nirgends lerne man zudem besser andere Rollen und Haltungen wahrzunehmen, als in der Lyrik. Und außerdem profitiere jeder Lyrikleser auch noch davon, dass das literarische Alter-Ego auch noch mehr kann und bewirkt, als das reale Gegenstück. Es kann zaubern, es regiert seine Welt und belebt auch noch eine Realität, die sich gern prosaisch gibt, trotz der vielen Bildchen und rosafarbenen Hauswände. Zauberhaft also das Ganze, und an der Verzauberung wirkt Heinz Schlaffer kräftig mit.

Allerdings treibt dieser kleine Einblick in die Urgeschichte der Lyrik mit seinen Lesern ein bisschen Schindluder. Geboten wird nämlich keine Aufklärung über Funktion und Struktur von Lyrik, sondern ein wohlfeiler Lyrik-Mythos, zu dem sich Schlaffer eine eher ironische Haltung erlaubt.

Unernst oder genießerisch bleibt sich aber gleich unerheblich, zumal, wenn man ein alternatives Erklärungsmuster heranzieht, nach dem Lyrik lediglich – wie Raoul Schrott und Arthur Jacobs gemeint haben – ein besonders komplexes Erkenntnis- und Modellbildungsverfahren ist, das der Sprache insgesamt zueigen ist. Schlaffers Urszene lyrischen Sprechens erweist sich so gesehen vor allem der Fremd- und Selbststilisierung des Lyrikers – also einem sehr modernen Phänomen – verpflichtet als einem historischen Faktum.

Dass die Lyrik aus dem Gottesdienst stammen mag, ist dabei nicht einmal zweifelhaft, genauer gesagt relevant. Die Konstruktion selbst, die Szene, die dabei imaginiert wird, ist ja bereits der Wahrnehmung von Welt und der Bewältigung ihrer Anforderungen verpflichtet. Die Götter haben nie geantwortet, es sei denn in der Imagination der sie Anbetenden. Sie haben weder die Lyrik noch die Lyriker ausgezeichnet, das haben beide fein selbst gemacht.

Gebet und Gottesdienst, lyrisches Sprechen wie Musik, Tanz oder Fest sind eingebunden in Wahrnehmungs- und Bewältigungsstrategien, die je historisch sind, die aber zugleich auf andere Wahrnehmungs- und Bewältigungsaufgaben und -strategien übertragen werden können. Einen Gott anzubeten ist eben, was das angeht, auch nichts anderes als eine politische Klasse zu attackieren, Kampftruppen zu bilden oder seine Geliebte anzustrahlen. Nicht von der angenommenen Ursprungsszenerie, sondern von der weitreichenden Funktionalität von Lyrik leitet sich ihre Langlebigkeit ab, eben auch hier heutiger Erfolg jenseits des akademischen und literarischen Betriebs.

Schlaffer liefert also keine Aufklärung über oder Erklärung von Lyrik, sondern treibt eine Mythenbildung voran, die sich wunderbar in die Rückzugsgefechte der Literaturwissenschaft einbettet. Besser das Gute, Alte, Archaische genießen, als sich auf die Zumutungen neuerer Hochschulstrukturreformen oder neuerer Textformen einzulassen. Irgendwie wird man doch aus der Germanistik wieder das Orchideenfach machen können, das es früher einmal war.

Dabei, wie Schlaffer seine kleine Lyrik-Urgeschichte erzählt, das ist wunderbar, das ist gekonnt und wird jeden Lyrikliebhaber verzücken und auch so manchen Hochschulkollegen begeistern. Gelehrt und belesen, sein Material geflissentlich sortierend, dabei den gediegenen deiktischen Stil pflegend, der Widerspruch nicht duldet – das ist gehobene Kathederkunst der neuen Façon. Aber leider völlig unbrauchbar, denn es erklärt nichts.

Titelbild

Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
204 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238824

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