Ostern im Lager

Der Band „Der Nomos der Moderne“ diskutiert die politische Philosophie Giorgio Agambens

Von Jan-Paul KlünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Paul Klünder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Üblicherweise soll man das Ende des Buches ja nicht ausplaudern, aber soviel sei verraten: Es gibt kein Happy End. „Ostern in Ägypten“ so lautet der Titel des letzten Textes dieses Sammelbandes, und er stammt von Giorgio Agamben selbst. Auf knappen zweieinhalb Seiten interpretiert der Autor von „Homo Sacer“ das Lebenswerk des Dichters Paul Celan als das Schaffen eines Juden, der sich nicht erinnern kann, „jemals aus Ägypten ausgezogen zu sein“. Mit dem ihm eigenen Mut zur Verallgemeinerung verortet er Celans Dichtung – inklusive dessen psychischer Konstitution – außerhalb des Exodus, zeitlebens dazu verdammt, Pessach in Ägypten zu feiern.

Reaktionen auf die im Sammelband artikulierten Kritiken an seiner politischen Philosophie sucht man in Agambens Stellungnahme indes vergebens, obwohl die hier versammelten AutorInnen sich in erster Linie kritisch an den Thesen des italienischen Philosophen abarbeiten. Denn folgt man Agamben, ist es nicht nur Paul Celan, dem der Auszug in eine bessere Welt verwehrt bleibt. Es ist das Paradigma der Moderne schlechthin, welches allem Aufklärungspathos zum Trotz die Menschheit im „Lager“ gefangen hält und uns alle zu potenziellen „Homo Sacern“ verdammt.

Nach Agamben konstituiert sich jede politische Macht seit der Antike durch die Unterscheidung von zoe und bios. Zoe bezeichnet das natürliche Leben, also die einfache Tatsache des Lebens. Im Gegensatz dazu ist unter bios das öffentliche und kulturelle Leben der Bürger in der polis zu verstehen. Die Grenzziehung von zoe und bios markiert die Geburtsstunde der politischen Ordnung, und so wird die zoe als „konstitutives Außen“ aus dem Bereich des Politischen ausgeschlossen. Trotz der anfänglichen Ausschließung wird die zoe aber im Ausnahmezustand durch einen einschließenden Ausschluss wieder ins Politische inkludiert. Der Ausnahmezustand als eine weder rein rechtliche noch rein faktische Situation markiert die Schwelle, auf der Leben und Recht, zoe und bios, aufeinander prallen.

Im 20. Jahrhundert – so Agambens Diagnose – erfährt das Leben eine völlige Vereinnahmung durch die Souveränität. Das Aufkommen von Lagern markiert den fatalen Wendepunkt. Der Ausnahmezustand wird zur Regel und das Lager ist der sichtbare Ausdruck eines permanenten Ausnahmezustandes, was bedeutet, dass in diesem Raum die Rechtsordnung suspendiert ist und damit ist prinzipiell immer alles möglich.

In Agambens Konstruktion ist das Lager omnipräsent, was zuvor lediglich als Übergang zurück zu ‚normalen und geordneten‘ Verhältnissen gedacht wurde, wird nun als dauerhafte Institution zementiert. Ins Zentrum politischer Kalküle rückt damit das nackte Leben, wohingegen das politische Leben zunehmend an den Rand gedrängt wird. Beim Homo Sacer handelt es sich wiederum um eine Figur aus der römischen Rechtstradition, die zwar jederzeit straffrei getötet werden darf, aber gleichzeitig nicht den Göttern geopfert werden kann. Agamben versucht mithilfe dieser Figur die modernen Lagergefangenen zu fassen, die aus der Rechtsordnung einschließend ausgeschlossen sind und gleichzeitig doch mehr als nur biologisches Leben sind. Der Homo Sacer (oder das nackte Leben) siedelt auf der Schwelle, hier ist es nicht mehr möglich zwischen bios und zoe zu unterscheiden.

Durch die im Lager zur Regel gewordene Ausnahme erfährt die Biopolitik eine kontinuierliche Steigerung zur normalen Regierungspraxis. Jede Form des Politischen hat nach Agamben durch die kontinuierliche Ausweitung der Biopolitik eine „dauerhafte Verdunkelung erlitten“, die besonders in der Gegenwart – so Agamben – Rechtsordnungen wie Demokratie und Diktatur „ununterscheidbar“ erscheinen lassen.

Mit solch provokanten Thesen hat sich Agamben nicht nur einen prominenten Platz in der aktuellen politischen Philosophie erobert, sondern gleichfalls die Feuilletons beeindruckt. Die bis heute anhaltende Aufmerksamkeit verdankt Agamben insbesondere den Bildern, die die US-amerikanische Internierungspraxis auf Guantanamo und der Umgang der Europäischen Union mit Einwanderern aus Afrika seiner Argumentation lieferten. Diesen Bezug stellt der Band unter der Herausgeberschaft von Daniel Loick nicht nur durch den Titel, sondern ebenso durch die Gestaltung des Einbandes her: Das Coverbild zeigt kniende und gefesselte Gefangene bewacht von Soldaten, umgeben von Stacheldrahtzäunen.

Inhaltlich umfasst die 219 seitenstarke Aufsatzsammlung des Nomos-Verlages zwölf Texte plus Einleitung und gliedert sich in die Teile: „Motive“, „Anschlüsse“ und „Auswege“. Den Auftakt unternimmt Daniel Loick mit einer eingängigen Einleitung, die Agambens Theorie sehr anschaulich und deren Relevanz am Beispiel zeitgeschichtlicher Ereignisse illustriert und kontextualisiert. Ausgewiesenes Ziel des Sammelbandes ist nicht nur die Diskussion des aktuellen Forschungsstandes, sondern gleichzeitig erhebt Loick den Anspruch, eine Einführung und Lektürehilfe für die schwer zugänglichen Schriften Agambens zu liefern. Der mitunter schwierige Einstieg in Agambens Texte erklärt sich einerseits durch dessen Schreibstil, anderseits sind es aber ebenso die voraussetzungsreichen ideengeschichtlichen Bezüge und die Vielzahl der sich darin überlagernden Fachdiskurse, denn Agamben arbeitet an den Schnittstellen so unterschiedlicher Disziplinen wie Philosophie, Philologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaften, Soziologie, Geschichte und Theologie.

Die ersten zwei Beiträge – die inhaltlich der Einleitung folgen – stammen von Oliver Flügel-Martinsen und Maria Muhle. Sie erfüllen die Anforderung, den Einstieg in Agambens Denken zu erleichtern und gleichzeitig an die aktuelle Forschung anzuschließen. Flügel-Martinsen leistet wichtige Begriffsarbeit, indem er prägnant Agambens Konstruktion der politischen Macht darstellt und dabei dessen Entlehnung des Souveränitätsbegriff von Carl Schmitt und des Menschenbildes bei Walter Benjamin rekonstruiert. Darüber hinaus gelingt es ihm, Umbauten, Widersprüche und Leerstellen in Agambens Souveränitätsverständnis aufzuzeigen. Besonders kritisch begegnet Maria Muhle in ihrem lesenswerten Beitrag Agambens Gleichsetzung von Biopolitik und souveräner Macht. Dabei ist ihr die in Agambens Politikverständnis eingelassene Identifikation von Demokratie mit Totalitarismus ebenso ein Ärgernis wie die einseitige Fixierung auf die destruktive Seite der Biopolitik. Dieser Sackgasse versucht sie durch einen Rückgriff auf Michel Foucaults Konzept der Biopolitik zu entkommen, womit sich die Argumentation klar pro Foucault positioniert und gegen die Verallgemeinerungen und Unterschlagungen von Unterscheidungen in Agambens Konstruktion des nackten Lebens. Am Ende – so Muhle – kranken Agambens Kategorien der biopolitischen Machtmechanismen an eben diesen blinden Flecken, die es ihm verwehren, eine überzeugende genealogische Analyse des Lebens mit seinen Brüchen, Transformationen, und Diskontinuitäten zu entwickeln. Diese Kritik scheint insofern berechtigt, als die sehr lange Linie der Geschichtsphilosophie, die Agamben zeichnet, diverse Fragen aufwirft: Häufig ist zum Beispiel unklar, wann seine Argumentation strukturelle Analogien aufzeigt und wann sie den Status einer historischen Analyse beansprucht. Sicher ist, Agamben erarbeitet keine systematisch historische Genealogie, sondern entwirft mit dem Lager ein universalistisches Paradigma, vor dem andere Ereignisse und Veränderungen in der menschlichen Kulturgeschichte verblassen und nur noch als Oberflächenphänomene erscheinen.

Neben Agamben selbst meldet sich mit Ernesto Laclau ein weiteres Schwergewicht der Theorienwelt in diesem Band zu Wort. In kritischer Absicht artikuliert dieser deutliche Vorbehalten gegenüber Agambens Zeitdiagnostik und theoretischen Schlüssen. Hierbei steigert sich der Nachdruck des Widerspruchs zunehmend bis zur kompletten Zurückweisung, die das Projekt Agambens als „politischen Nihilismus“ klassifiziert. Im Kern geht es Laclau in dieser Gegenrede darum, die Determinismen und blinden Flecken aufzuzeigen, die mit Agambens Zuspitzungen einhergehen. So kritisiert er beispielsweise die Konstruktion des Homo Sacers als eines zur Gänze dem Souverän ausgeliefertem Leben. Die Ausgegrenzten sind nicht immer völlig schutzlos und ohnmächtig, sondern der Ausschluss aus der Rechtsordnung kann ebenso emanzipatorische Potenziale gegen das Gesetz der polis freisetzen. Laclau insistiert auf die Widerstandsmöglichkeiten der Subjekte gegenüber dem Souverän und plädiert in Gramscianischer Tradition für eine Umstellung des Konzeptes eines übermächtigen Souverän auf ein weniger deterministisches Konzept von Hegemonie.

Darüber hinaus kritisiert Laclaus Agambens These, dass die Teilung des Volkes in die Gemeinschaft (populus) und die Unterdrückten (plebs) auch in unserer Gegenwart – womit explizit und gerade westliche Demokratien gemeint sind – zwingend auf die Vernichtung der Unterdrücken hinausläuft, mit dem Ziel, die Homogenität des Volk herzustellen. Weiterhin taugt nach Laclau die Logik von Souveränität/nacktem Leben nicht als die primär Unterscheidung, um eine Theorie der Moderne zu entwickeln. Wenn Agamben schließlich im Konzentrationslager das Paradigma der Moderne lokalisiert, sieht Laclau lediglich eine „Serie wilder Aussagen“.

Statt der kritischen Auseinandersetzung mit dem Theoriedesign Agambens steht im zweiten Teil „Anschlüsse“ die Frage, wie sich diese Kategorien analytisch nutzen lassen, im Vordergrund. Originell und lesenswert ist hier vor allem der Beitrag von Jeanette Ehrmann. Ehrmann interpretiert den nur vermeintlichen Widerspruch des parallelen Auftretens von Aufklärung und kolonialer Sklaverei entlang der These, dass die Sklaverei konstitutiv in die abendländische Kultur eingelassen ist. In schnellen Schritten überführt sie dabei die Geistesgrößen der europäischen Philosophie einer eurozentristisch verengten Perspektive und liefert gleichzeitig einen überzeugenden ideengeschichtlichen Abriss. Die Plantage des Sklavenhalters wird dabei als Vorläufer des Lagers im 20. Jahrhundert identifiziert, wobei sich die Argumentation mindestens ebenso stark auf die Theorie von Achille Mbembe stützt wie auf Giorgio Agambens Konzeption. Obwohl als postkoloniale Untersuchung apostrophiert, reproduziert Ehrmann allerdings – obgleich in kritischer Absicht – durch das intensive name dropping das ideengeschichtliche „Zitierkartell“.

Die im letzten inhaltlichen Block „Auswege“ versammelten Beiträge bemühen sich um Schlupflöcher, die es erlauben, auf der Basis von Agambens Andeutungen zur sogenannten „reinen Politik“ der desillusionierenden Charakterisierung unserer Gegenwart zu entkommen. So schlägt Daniel Loick vor, das von Agamben diagnostizierte gewaltförmige Band zwischen Recht und Leben durch die drei emanzipatorischen Praxen Studium, Spiel und Deaktivierung aufzuheben. Mit dieser positiven Bewertung der emanzipatorischen Potentiale wendet sich Loick gegen die kritische Lesart wie sie Ernesto Laclau vertritt. Hierfür werden implizit diskursethische Konzepte an Agambens Theorie angedockt, in der Hoffnung auf diesem Weg das Recht vom souveränen Zwang reinzuwaschen. In der Manier Heideggers nutzt Loick das Stilmittel des Durchstreichens von Worten, um seiner Argumentation besondere Anschaulichkeit zu verleihen. Fraglich bleibt dabei aber auch für Loick, inwiefern die vorgeschlagenen Praxen als ernstzunehmender Ausweg taugen oder ob es nicht vorerst dabei bleibt, dass ein alternatives Verhältnis zum Recht „im Wesentlichen noch zu erfinden“ ist.

Insgesamt ist der Sammelband sehr zu empfehlen. Er erfüllt sowohl den Anspruch, Agambens Theorie anschaulich zu skizzieren als auch Wege aufzuzeigen, wie im Anschluss an und in Abgrenzung von Agamben weitergedacht werden kann. Der Band ist um so mehr zu begrüßen, als die deutschsprachige Rezeption des italienischen Philosophen der internationalen Auseinandersetzung sträflich hinterherhinkt. Dabei verbindet das Gros der hier versammelten AutorInnen eine kritisch-distanzierte Haltung gegenüber Giorgio Agambens Thesen.

Einerseits bedient Agamben zwar das Bedürfnis nach einer universellen gesellschaftstheoretischen Erklärung der Moderne, in einer Zeit in der die Meisten den Glauben an die „Großerzählungen“ längst aufgegeben haben. Der Preis, den Agamben dafür zahlt, ist eine geschichtsphilosophische Diagnose, die permanent auf der negativen Seite verharrt und nur noch eine schreckenerregende Funktionslogik der Moderne sieht. Entsprechend kann man den Gang dieser Theorie durchaus mit jener Horkheimers und Adornos vergleichen. Es ergibt sich folgerichtig der Vorwurf, dass sich in dieser Perspektive keinerlei kritisch-emanzipatorisches Potenzial mehr findet.

Titelbild

Daniel Loick (Hg.): Der Nomos der Moderne. Die politische Philosophie Giorgio Agambens.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011.
219 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783832962333

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