„Schön bin ich, wenn ich nackt bin“

Das Spiel des Verhüllens und Entkleidens bei Arthur Schnitzler

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

„So bin ich. Ein Luder“ – „Fräulein Elses“ Selbstbilder

Der innere Monolog von Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ lässt den Leser des Textes teilhaben an den Selbsteinschätzungen und -inszenierungen, mit denen die Figur sich selbst innerhalb ihrer Welt zu verorten versucht. Das 19jährige Mädchen ist eine Wandernde zwischen den Welten, eine Art Grenzgängerin in Gestalt eines jungen Mädchens aus gutem Hause und somit auch eine Vertreterin dieses spezifischen Schnitzler’schen Frauentypus’. Sie steht an der Schwelle zwischen ihrem bisherigen, beinahe kindlich unbeschwerten Leben in der Familie und dem Erwachsenendasein. Aus dem Haushalt der Eltern ist sie bereits zu großen Teilen herausgelöst, angekommen in einem möglichen neuen Dasein als Ehefrau ist sie jedoch noch nicht. Dieser „Schwebezustand“ manifestiert sich auch in ihren Vorstellungen in Sachen Sexualität und in ihrer Unsicherheit über ihre sozialen Situation. Elisabeth Bronfen bezeichnet Else in ihrem Aufsatz über „Weibliches Sterben an der Kultur“ als eine „Braut“, die zwischen radikaler Verwirklichung ihrer Subjektivität und gesellschaftlicher Opferrolle changiert.[1]

Die Frage ist dabei, ob Schnitzlers Else-Figur bewusst oder unbewusst eine Rolle spielt, die nicht ihrem wahren Selbst entspricht. Und welchen Zweck würde eine solche Selbstinszenierung verfolgen? Eine mögliche Erklärung ist, dass durch ein solches Verhalten der dem Text implizite männliche Blick unterstützt wird, die Figur sich daher ihrer Objektwerdung unterordnet und diese billigend mitträgt. Das heißt, Else würde sich als jemand inszenieren, der die Fantasien eines anderen auf sich selbst projiziert. Dadurch würde sie sich selbst auf ihre Objektnatur reduzieren. Eine andere, in die entgegengesetzte Richtung zielende Möglichkeit ist, dass sie diese Inszenierungen bewusst nutzt, um ihre eigenen Fantasien auszuleben und mit ihrem männlichen Gegen-Part zu spielen, damit jener auf ihre Wünsche aufmerksam wird. Es stellt sich also die elementare Frage nach dem Ziel ihrer Inszenierung, die schließlich im finalen Entblößungsakt im Musikzimmer endet: Dient dieser Akt des Enthüllens der Befriedigung des männlichen Voyeurismus oder aber dem Zelebrieren einer eigenen sexuellen Wunschvorstellung?

Betrachtet man das sexuelle und das soziale Verhalten Elses, so erscheint sie im Text als eine Person, die auf mehreren Ebenen gleichzeitig agiert. Zum einen ist dies die seelische Zerrissenheit, die deutliche Züge einer Hysterie [2] aufweist. Zum anderen verstärkt sich diese Unbestimmtheit durch den ständigen Wechsel der Erzählhaltung, die stets zwischen dem Ausgesprochenen und dem Gedachten springt. Ihr eigenes Denken und Fühlen wechselt zwischen dem Schein und  dem Sein, und diesen Pendelausschlag zwischen Realität und Imagination bekommt auch der Leser unmittelbar durch das Wechseln zwischen den Dialogen und dem Inneren Monolog mit. Else kommentiert sozusagen ihre eigene Inszenierung und entwickelt geradezu ein ganzes Bündel von Selbstbildnissen. Dieses Schwanken zwischen den Selbst-Bildern, das ihre ungefestigte Position zusätzlich betont, ist in einigen Szenen zu beobachten. Ihre Position als Tochter aus gutem Hause ist ihr einmal Zuflucht, einmal denkt sie daran voller Ablehnung. Was die Zukunft ihr aber bringen soll, kann sie nicht sagen. In Bezug auf die Sexualität ist Elses Verhalten unsicher und von momentanen Eingebungen bestimmt, ihre bisherigen Liebschaften waren spielerische Verliebtheiten ohne weitere Folgen. So heißt es etwa: „Wirklich unternehmend war eigentlich mir gegenüber noch niemand. Höchstens am Wörthersee vor drei Jahren im Bad. Unternehmend? Nein, unanständig war er ganz einfach. Aber schön. Apoll vom Belvedere. Ich hab’ es ja eigentlich nicht ganz verstanden damals. Nun ja mit – sechszehn Jahren.“[3]

Doch sie hat durchaus Vorstellungen, was sie eigentlich möchte: „Eigentlich ist Paul schüchtern. Ein Arzt, ein Frauenarzt! Vielleicht gerade deshalb. Vorgestern im Wald, wie wir so weit voraus waren, hätt’ er schon etwas unternehmender sein dürfen. Aber dann wäre es ihm übel ergangen“.[4] Else kennt also die gesellschaftliche Norm des Sich-Erwehren-Müssens. Ganz anders als im Umgang mit real existierenden Männern zeigt sich Else jedoch, wenn es um ihren eigenen Körper geht. Hier tritt sie überaus selbstbewusst auf: „Fräulein Else T., ein neunzehnjähriges bildschönes Mädchen“[5] beschreibt sie sich selbst zu Beginn. „Nackt willst du mich sehen? Das möchte mancher. Ich bin schön, wenn ich nackt bin“[6] heißt es vor der Begegnung mit Dorsday; in einer Szene, in der sie in ihrem Zimmer steht und bemerkt, dass die die Vorhänge nicht zugezogen hat, spielt sie geradezu lustvoll mit der Möglichkeit, dass sie jemand von draußen sehen könnte: „Wozu schaut man denn so aus wie ich. Licht gemacht, – die Lampe über dem Spiegel schalt ich ein. Wie schön meine blondroten Haare sind, und meine Schultern; meine Augen sind auch nicht übel“[7]) und zeigt sich geradezu exhibitionistisch. Sich vor dem Spiegel an- und auskleidend stellt sie sich immer wieder vor, beobachtet zu werden, Schnitzler lässt seine Figur hier ein frivoles Gedankenspiel zwischen Verhüllung und Enthüllung aufführen:„Ich muß Licht machen. Kühl wird es. Fenster zu. Vorhang herunter? – Überflüssig. Steht keiner auf dem Berg drüben mit einem Fernrohr. Schade.“[8]

Elses Unentschlossenheit zeigt sich allerdings in der Widersprüchlichkeit ihres Denkens, indem sie ständig Dinge gegeneinander abwägt. Über Kleinigkeiten wie das morgendliche Hinaustreten auf den Balkon denkt sie wieder und wieder nach; ihr gelegentlich exhibitionistisch anmutendes Verhalten wird von ihr quasi von außen betrachtet rekapituliert: „Und wie war das denn heuer in der Früh um sechs auf dem Balkon, mein vornehmes Fräulein Else? Haben sie die zwei jungen Leute im Kahn vielleicht gar nicht bemerkt, die sie angestarrt haben? Mein Gesicht haben sie vom See aus freilich nicht genau ausnehmen können, aber daß ich im Hemd war, das haben sie schon gemerkt. Und ich hab’ mich gefreut. Ah, mehr als gefreut. Ich war wie berauscht. Mit beiden Händen hab’ ich mich über die Hüften gestrichen und vor mir selber hab’ ich getan, als wüßte ich nicht, daß man mich sieht. Und der Kahn hat sich nicht vom Fleck bewegt. Ja, so bin ich, so bin ich. Ein Luder, ja. Sie spüren es ja alle“.[9]

Dieses Spiel mit dem Bekleidetsein und dem exhibitionistischen Enthüllen des Körpers spielt nicht nur in „Fräulein Else“ eine wichtige Rolle. Die Bekleidung und Entkleidung spielt auch eine Rolle im erotischen Wechselspiel von Schnitzlers „Reigen“, wenngleich sie da – anders als in der „Else“ – nur einen eher nebensächlichen Part einnimmt. Ist in der „Else“ das Ablegen der Kleidung ein wichtiges Detail – mithin, wie Vogel mit Freud annimmt, ein Bewegen in den Sphären der „Vorlust“, in denen sich die sexuelle Erregung auf den ekstatischen Akt des Enthülles konzentriert[10] – so verhält es sich im „Reigen“ anders: Hier bewegt sich die Handlung auf den eigentlichen Akt zu, das Entkleiden stellt nur eine Station zum Erreichen des Zieles dar.

Das Spiel des Entkleidens im „Reigen“

Dennoch ist das Thema der Bekleidung im „Reigen“ von größerer Bedeutung, denn Schnitzler benutzt die Kleider, die von seinen Protagonisten abgelegt werden, als Signum für den Unterschied zwischen den sozialen Klassen. Die Bekleidung selbst wird nur dann angesprochen, wenn ein Standesunterschied zu erkennen ist. Bewegen sich beide Protagonisten auf einer gesellschaftlichen Stufe, so ist die Kleidung ohne Relevanz. In den ersten beiden Szenen des „Reigen“ – die Dirne trifft auf den Soldaten beziehungsweise der Soldat auf das Stubenmädchen – ist die Bekleidung der Figuren und deren Entkleiden dem Autor keine Erwähnung wert. Der männliche Part nutzt die sich ihm bietenden Gelegenheiten zur reinen Triebbefriedigung, ohne um die Angelegenheit großes Aufsehen zu machen. Der Akt des Entkleidens ist für die Protagonisten hier nur Mittel zum Zweck.

Sobald aber größere Klassenunterschiede ins Spiel kommen, verdient auch die Kleidung Aufmerksamkeit und wird explizit erwähnt. In der dritten Szene, in der das Stubenmädchen auf den jungen Herrn trifft, erwähnt dieser erstmals ihre Bekleidung. „Sie sind sehr nett angezogen, Marie“[11], mit diesen Worten führt sich der junge Herr in die Szene ein, um direkt auf ein bestimmtes Kleidungsstück einzugehen: „Nur wegen ihrer Blusen … Was ist das für eine … Na kommen S’ nur näher. Ich beiß Sie ja nicht“[12]. Dass der junge Herr überhaupt nicht an der Kleidung Maries interessiert ist, sondern vielmehr an dem, was sich darunter verbirgt, liegt auf der Hand. Die Frau ist zuerst auch vom Interesse des jungen Herrn irritiert und fragt nach: „Was ist mit meiner Blusen? G’fallt sie dem jungen Herrn nicht?“[13] , fragt das Stubenmädchen. Worauf der junge Herr sie an der Bluse anfasst und das Mädchen zu sich herabzieht. Die Kleidung verdient also eine Erwähnung, doch wird diese, betrachtet man die Regieanweisungen, betont „einfach“ und „sachlich“ angesprochen. Dies ändert sich erst in den folgenden Szenen, wenn sich auch der soziale Rang erhöht.[14] Der Aufwand, der um den Akt des Entkleidens gemacht wird, erreicht in den Szenen mit der jungen Frau und mit der Schauspielerin seinen Höhepunkt. Die Entkleidung wird hier zu einem dramatischen Spiel, das unter allerlei Verzögerungen und verbaler Liebesbekundungen ausgedehnt wird. Die junge Frau, die den jungen Herrn besucht, trägt bezeichnenderweise gleich zwei Schleier, zum einen zum Schutz vor Entdeckung, wie bereits erwähnt,  zum anderen aber auch als Teil einer beinahe komisch wirkende Selbstinzenierung. Nachdem sie die diversen Schichten ihrer Kleidung (sie trägt übereinander Pelz, Mantille, Taille und Schleier) abgelegt hat, ändert sich die Situation. Ihre vorgebliche Schamhaftigkeit, die mit dem Tragen all jener Kleidungsstücke verdeutlicht wird, und ihre wiederholt genannte Angst vor Entdeckung gerät, hat sie sich dieses Schutzschildes entledigt, beinahe schlagartig zu einer Inszenierung einer verruchten Halbweltdame: So trägt sie darunter erstaunlicherweise kein Mieder, was den jungen Herrn zu einer überraschten Nachfrage veranlasst: „Du hast kein Mieder an?“,[15] wundert dieser sich. Die junge Frau antwortet bestimmt: „Ich trag nie ein Mieder. Die Odilon trägt auch keines.“[16] Sie spielt also nicht  nur die frivole Dame, sondern sie sucht sich auch gleich noch ein Vorbild aus der Theaterszene. Da die Odilon – eine Schauspielerin,  die in der Realität mit Schnitzler ehemaliger Geliebter Adele Sandrock befreundet war – nie ein Mieder trägt, trägt die junge Frau eben auch keines.

Die Schichten ihrer Kleidung bilden dabei die Fassade nach außen, die junge Frau ist für ihre Umwelt eine „anständige“ Frau. Doch wenn man es geschafft hat, durch die Kleidung vorzudringen, so erkennt man, dass diese Fassade täuscht. Außen ist es die Inszenierung einer bürgerlichen Gattin und in der Nähe der Haut[17], mit dem Fehlen des Mieders, wird das Ganze zu einer Inszenierung als leicht frivole, libertinäre Frau. Das Anlegen beziehungsweise das Nichtvorhandensein der Bekleidung dient also in dieser Szene nicht nur zur Differenzierung der Schichten, sondern auch dazu, sich selbst als Mitglied einer bestimmten Schicht zu inszenieren. Der Bekleidung kommt jedoch nur dann eine Bedeutung zu, sowohl in „Fräulein Else“ als auch im „Reigen“, wenn diese von Frauen getragen oder abgelegt wird. Die männliche Be- und Entkleidung wird nicht oder lediglich nebenbei in den Regieanweisungen erwähnt.

Das Spiel des Entkleidens in „Fräulein Else“

Nicht umsonst präsentiert sich auch Else im Nachthemd den Männern auf dem See, nicht umsonst wählt sie eine bestimmte Kleidung für bestimmte Situationen. Das Spiel mit der Kleidung wird von Schnitzler in seiner Erzählung dabei bewusst eingesetzt und dem Leser immer wieder durch kleine Signale in die Erinnerung gerufen. Die Kleiderfrage anlässlich ihres ersten Treffens mit Dorday rückt den eigentlichen Grund, der geplanten Unterredung, die äußerst prekäre finanzielle Situation der Familie, zunächst weit in den Hintergrund: „Was zieh’ ich an? Das blaue oder das schwarze? Heut’ wär vielleicht das schwarze richtiger. Zu dekolletiert? Toilette de circonstance heißt es in den französischen Romanen. Jedenfalls muß ich berückend aussehen, wenn ich mit Dorsday rede. Nach dem Dinner, nonchalant. Seine Augen werden sich in meinen Ausschnitt bohren.“[18]

Else spielt also in Gedanken die möglichen Reaktionen Dorsdays auf ihre Erscheinung durch und kommt schließlich zum Schluss: „Das schwarze zieh’ ich an. Sie haben mich gestern alle angestarrt. […] Der Ausschnitt ist nicht tief genug; wenn ich verheiratet wäre, dürfte er tiefer sein.“[19] Das gewählte schwarze Kleid erfüllt dann auch seinen gewünschten Zweck, Dorsday ist von ihr angetan und kann seine Augen kaum von ihr abwenden. Überhaupt scheint Else einen überaus gefälligen Geschmack zu haben. Die Erzählung ist, wie bereits angedeutet, voller Bemerkungen über ihr Aussehen: „Steht dir übrigens ausgezeichnet zu Gesicht […] – Und der rote Sweater noch besser“[20], heißt es etwa ganz zu Beginn des Textes, wo Else bereits von den Menschen, die sie trifft, mit Lob überschüttet wird: „Wenn man mit dem Rakett so gut aussieht, darf man es gewissermaßen auch als Schmuck tragen“.[21] An anderer Stelle heißt es: „Ihr Schal ist sehr hübsch, Else, zu dem schwarzen Kleid steht er Ihnen fabelhaft.“[22] Schnitzler setzt also bereits ganz zu Beginn seines Textes zahlreiche Signale, die die Rolle der Bekleidung verdeutlichen – und darüber hinaus die auffällige Schönheit seiner Protagonistin betonen. Selbst beim Gespräch mit Dorsday sind Elses Gedanken eher bei ihrer Bekleidung als beim eigentlichen Gespräch[23] – und Dorsday selbst „kleidet“ seinen Wunsch, Else nackt zu sehen[24]: „Es wird eine wundervolle Sommernacht heute, beinahe warm, und das Sternenlicht wird Sie herrlich kleiden.“[25]

Es scheint also, als ob Else bei jeder Gelegenheit immer das Passende tragen würde. In dieser Hinsicht betrachtet, ist Else von zahllosen Wahlmöglichkeiten umgeben, die Frage nach dem „Was ziehe ich an?“ ist ihr in vielen Momenten wichtiger als die eigentliche Lebenssituation, der sie ausgesetzt ist – Lebenssituationen, die ihr, im Gegensatz zur Wahl der Kleidung, keine Wahl lassen. Doch Else setzt sich über solche Dinge hinweg. Noch in der aussichtslosen Situation, als sie durch Dorsday erpresst wird,  gaukelt sie sich vor, es könnte ein Ausweg für sie existieren, so als wäre die Entscheidung, ob sie sich ihm nackt zeigt oder nicht, nur eine weitere Frage der Toilette.[26]

In der Erzählung kommt Schnitzler auch immer wieder auf eine bestimmte Dramaturgie der Farben zurück. Waren es zu Beginn der Erzählung noch bunte Kleidungsstücke, die die Protagonistin trägt und mittels derer Else charakterisiert wird, so ändern sich die Farben ihrer Kleidung im weiteren Verlauf der Geschichte. Dieser Farbwechsel begleitet auch die Zuspitzung der Ereignisse. Zu Beginn der Erzählung trägt Else noch bunte Kleidungsstücke, beim Tennisspiel mit Paul und Cissy trägt sie jenen ihr „ausgezeichnet“ stehenden „rote[n] Sweater“,[27] zum Abendessen überlegt sie zunächst, ihr blaues Kleid anzuziehen, erwägt kurz das grüne Loden, und nach ihrer „Zurschaustellung“ im Musikzimmer plant sie, mit ebenjenem blauen Kleid den Eindruck zu erwecken, als wäre nichts besonderes geschehen.

Zu ihrem ersten Treffen mit Dorsday trägt sie wie erwähnt ein schwarzes Kleid, nachdem sie zunächst noch unschlüssig war. Sie wählt die Farbe schwarz aber nicht als Farbe der Trauer und des Leidens (das sie erst nach der Unterredung mit Dorsday erfahren wird), sondern trägt das Kleid ganz bewusst, weil sie darin eben „berückend“[28] aussieht. Die Männer schauen sie in diesem tief ausgeschnittenen Kleid an, es ist eine „Toilette de circonstance“[29], die bewusst provoziert, so dass sich Dorsday der körperlichen Reize Elses nicht verschließen kann: „Seine Augen werden sich in meinen Ausschnitt bohren“[30], vermutet sie durchaus richtig.

Die Farbe des Kleides ist zwar vordergründig nicht von Belang, doch erscheint diese Farbwahl im Nachhinein als Vorbote für den Untergang und den Tod Elses. Der Mantel, mit dem sie ins Musikzimmer geht, um sich zu „enthüllen“, ist schwarz, sie trägt dabei schwarze Lackschuhe. In diesem schwarzen Mantel imaginiert sie auch ihren Selbstmord, den sie als Alternative zur Erfüllung von Dorsdays Forderung erwägt: „Geheimnisvoller Selbstmord einer jungen Dame aus der Wiener Gesellschaft. Nur mit einem schwarzen Abendmantel bekleidet, wurde das schöne Mädchen an einer unzugänglichen Stelle des Cimone della Pala tot aufgefunden“[31]. Bereits in ihrem ersten Traum sieht Else sich selbst in schwarz gekleidet: „Sie bilden sich ein, ich bin nackt. Wie dumm sie sind. Ich habe ja schwarze Trauerkleider an, weil ich tot bin.“[32]

Die bunte Kleidung, die sie zu Beginn trägt, steht für die lebensbejahende, unternehmungslustige Else, die schwarze Kleidung illustriert schließlich das Besiegeltsein von Elses Schicksal nach der Unterredung mit Dorsday. Interessanterweise fügte Schnitzler einen Teil dieser Farbdramaturgie erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Novelle ein. Die erste Skizze zu „Fräulein Else“ enthält noch eine vollkommen andere zentrale Entkleidungsszene, dort heißt es: „Ein junges Mädchen tritt nackt in den Speisesaal des Berghotels. Sie erzählt, daß sie beraubt wurde. Motiv: Sie tut es, um die Männer zu prüfen, die sich um sie bewerben“.[33]

Else als „femme de marbre“

In dieser Fassung spielt die Dramaturgie der Farben also noch keine Rolle. In der endgültigen Fassung spielt jedoch neben der Farbe Schwarz noch eine andere Farbe hinein und ist für die Deutung des Textes relevant: Das Weiß des Marmors. Immer wieder stellt sich Else in ihren Gedanken eine Villa an der Riviera vor, in der sie mit ihrem Mann oder Geliebten leben möchte und in der weiße Marmorstufen zum Meer hinab führen. Der Marmor spielt auch eine Rolle in den erotischen Fantasien Elses, an mehrerer Stellen taucht dort die Vorstellung auf, sie würde nackt auf jenen Marmorstufen liegen: „Villa an der Riviera. Marmorstufen ins Meer. Ich liege nackt auf dem Marmor“[34] heißt es gleich zu Beginn des Textes, diese Vorstellung wird dann erneut aufgegriffen: „ich wohnte in einer Villa am Meer, und wir lägen auf den Marmorstufen, die ins Wasser führen, und er hielte mich fest in seinen Armen und bisse mich in die Lippen […] Nein. Alleine möchte ich am Meer liegen auf den Marmorstufen und warten. Und endlich käme einer oder mehrere, und ich hätte die Wahl und die anderen, die ich verschmähe, die stürzen sich aus Verzweiflung alle ins Meer“.[35]

Ein drittes Mal erscheint das Motiv kurz gegen Ende der Erzählung: „[…] dann kommt die Villa mit den Marmorstufen und die schönen Jünglinge und die Freiheit und die weite Welt!“[36] Und dieses Weiß des Marmors ist es auch, das Else an ihrem eigenen Körper wiederfindet. Schnitzler setzt den schönen Körper seiner Figur in Verbindung zum Material, Elses Selbstbeschreibungen zeigen ihren Körper als etwas statuenhaftes und marmorartiges. Dieser „leuchtet“ vor dem Spiegel wie eine Statue, ihre Blässe in Verbindung mit den rötlichen Haaren macht sie zu einer beinahe unwirklichen Erscheinung, entrückt von der eigentlichen Welt. Marmor ist das Material, aus dem Statuen geschaffen werden, die wiederum zumeist (weibliche) Idealbilder darstellen, man denke hier etwa an die zahlreichen Venusdarstellungen in der Kunst. Elses wiederkehrende Vorstellung, nackt auf dem Marmor zu liegen, lassen sie gleichsam mit dem Material verschmelzen, das Bild ihrer Nacktheit ist mit dem Bild des Marmors verbunden. Ihr idealer, weißer (sprich marmorner) Körper „leuchtet“ weiß im Dunkeln vor dem Spiegel. Ihren Körper sieht sie als eine Art Standbild, als Ideal – dies aber nur, wenn sie nackt ist oder sich zumindest als nackt imaginiert.

Wieso setzt Schnitzler hier also den Marmor in Verbindung zu Else? Hierfür gibt es mehrere mögliche Antworten. Eine davon ist die bereits angesprochene Ästhetik des Marmors, seine bevorzugte Verwendung als bildhauerisches Material zur Gestaltung einer idealen Figur, die auch eine erotische Komponente beinhalten kann. Die Darstellung einer nackten Göttin war lange Zeit etwa eine der wenigen Möglichkeiten, eine unbekleidete Frau darzustellen, ohne gesellschaftlichen Anstoß zu erregen. Kommt jedoch die Kleidung ins Spiel, so wird diese Nacktheit, dieses Marmorhafte, schamhaft verhüllt – wie bei einer Statue, die enthüllt werden soll –, die Bekleidung symbolisiert hierbei also die Schamhaftigkeit, die Nacktheit das ideale Wunschbild.

Die Bekleidung  offenbart aber auch noch etwas Zweites: den Mangel. Ein Makel an der Kleidung macht auch den Körper zum Träger dieses Makels. Eine nackte Statue, also auch die nackte Else, ist makellos schön.  Ist diese allerdings bekleidet, so macht der kleinste Mangel an dieser „Verhüllung“ die gesamte Erscheinung zunichte. Ein kleiner Riss in Elses Seidenstrümpfen beispielsweise bringt ihre von der eigenen Schönheit schwärmenden Gedanken ab, sie empfindet sich in diesem Moment als fehlbar und verletzbar. Die Kleidung ist die Hülle und ihre Schadhaftigkeit zwingt den Blick auf unerwünschte Stellen,[37] die von ihr selbst als beschämend und unvollkommen angesehen werden. Der Riss in den Strümpfen befindet sich unter dem Knie, und gerade diese Knie kommen beim Treffen mit Dorsday ins Spiel, Schnitzler baut dieses Motiv mehrmals in seinen Text ein. Else empfindet es als äußerst unangenehm, dass die Knie Dorsdays die ihrigen berühren: „Warum drückt er seine Knie an meine, während er da vor mir steht. Ach, ich lasse es mir gefallen. Was tut’s! Wenn man einmal so tief gesunken ist.“[38] Die Knie und damit der Riss, der Mangel an der Bekleidung und die Füße werden als schambehaftet empfunden, nicht aber der gesamte Körper. Die Strümpfe dienen dazu, die Füße und Beine zu verhüllen, sie dienen dazu, wie Vogel schreibt, zu „verhindern, dass der Blick auf eine Nacktheit fällt, die nicht von Marmor wäre.“[39]

Eine ebenfalls sexuelle Bedeutung erhält der Marmor, wenn man seine Bedeutung in der französischen Sprache betrachtet. Eine femme de marbre, die „Frau aus Marmor“, ist die Bezeichnung für eine frigide, also geschlechtskalte Frau. Hier könnte man die Assoziierung Elses mit dem Marmor als einen Hinweis auf ihre Furcht vor der Sexualität sehen. Eine Furcht, die trotz Elses allgegenwärtiger Beschäftigung mit der Thematik im Text immer wieder durchscheint.

Einen weiteren Hinweis auf die Furcht vor der Sexualität findet man, wenn man Else in Beziehung zu Franz von Stucks Gemälde „Die Sünde“ (1893) setzt.[40] Auf dem Bild sieht man einen nackten weiblichen Körper, der teilweise von einem schwarzen Mantel und einer Schlange verdeckt ist, das Gesicht und die Haare sind nur undeutlich im Dunkel zu erkennen, sichtbar ist nur der weiß schimmernde Teil des Körpers vom Bauchnabel über die Brust bis zum Hals. Else spielt im Text ihre Entkleidungsszene in Gedanken durch und inszeniert sich selbst als eine Art Gegenstück zur allegorischen „Sünde“ Stucks – denn sie möchte eben nicht sündhaft erscheinen –, dennoch kopiert sie deren Erscheinung bis ins Detail: Sie trägt einen schwarzen Mantel, im Musikzimmer möchte sie „den Mantel ein wenig lüften“[41], um den dort Versammelten ihre „weißen Brüste“[42] zu zeigen. Doch sündig möchte sie dabei nicht sein, denn sie ist „ein anständiges junges Mädchen aus guter Familie. Bin ja keine Dirne.“[43] Ihre immer wiederkehrende Selbstversicherung, „Ein Luder will ich sein, aber nicht eine Dirne“[44] und ihre ständige Betonung der eigenen Schönheit („ein neunzehnjähriges, bildschönes Mädchen“[45], „Ich bin schön, wenn ich nackt bin“[46]), dient dazu, sie dier Außenwelt gegenüber als moralisch höherstehend zu zeigen.

Else als „Nuda Veritas“

Elses eigentliche Erscheinung in der Entkleidungsszene erinnert jedoch an ein weiteres Gemälde Franz von Stucks, „Phryne“ (1918),[47] das die Hetäre Phryne darstellt. Auch hier ist der nackte Körper von einem Umhang verhüllt, der gelüftet wird, ferner ist die Frau nicht barfuß, sondern trägt – wie Else unter dem Mantel – Stiefel. Die Betonung des Nicht-Sündhaften, die bestenfalls frivolen Koketterien Elses und die Orientierung an Vorbildern aus der Kunst zeigen Elses eigene Unsicherheit und Angst vor der eigenen wie fremden Sexualität.

Sie bedient sich allerdings nicht nur an Rollenvorbildern aus der Kunst, auch das Theater und die Musik dienen als Quelle für die Selbstinszenierungen der Protagonistin. Immer wieder führt sie diese Erlebnisse aus vergangenen Theaterbesuchen an, um ihr Gefühlsleben und ihr Selbstverständnis zu verbalisieren. Bereits zu Beginn der Novelle erwähnt sie William Shakespeares „Coriolanus“, und auch die erste Verliebtheit, die Else anspricht, hat mit einer Erinnerung ans Theater zu tun: „Mit dreizehn war ich vielleicht das einzige Mal wirklich verliebt. In den van Dyck – oder vielleicht mehr in den Abbé Des Grieux, und in die Renard auch“.[48] Der Abbé des Grieux, den sie hier anspricht, ist eine Figur aus Guy de Maupassants Roman „Notre Cœur“, den Else als Lektüre in San Martino dabei hat. Der Tenor Ernest van Dyck und die Sopranistin Marie Renard waren die Sänger in der Aufführung von Jules Massenets Oper „Manon“ am Wiener Burgtheater, die 1890 ein riesiger Erfolg war[49] und auf die sich Schnitzler hier wohl bezieht. Diese Oper ist für den weiteren Gang der Novelle von nicht unerheblicher Bedeutung, lehnt sich Else doch des öfteren an das Leben Manon Lescauts an. Sie ist das Vorbild für ihr Ideal von einem freien, die Regeln der Gesellschaft unterwandernden Liebesleben: das „Luder“, das Else sein möchte. Den zweiten bedeutsamen Bezugspunkt liefert der frühe Tod Manons, die als treulose Geliebte dargestellt wird. Mit einem gewichtigen Unterschied allerdings: Manon stirbt in den Armen ihres Geliebten, der ihr verziehen hat. Else vergiftet sich alleine auf ihrem Hotelzimmer mit Veronal, alle ihre Träume von Geliebten und Filous werden dadurch unmöglich gemacht.

Die bereits erwähnten Szenen vor dem Kleiderschrank offenbaren Elses leichtfertige Gleichsetzung von „circonstance“ und Realität als Lüge, auch in finanzieller Hinsicht. Der vermeintliche Reichtum, der sich hinter dem gut gefüllten Schrank zu verbergen scheint, ist ein nur vorgespielter. Denn die zur Schau gestellte, glamouröse Erscheinung der Tochter kann nur mühsam verbergen, dass Elses Familie am finanziellen Abgrund steht. In nur wenigen Momenten erscheint ihr die Situation auch bewusst: „Ist das grüne Loden überhaupt schon bezahlt, Mama?“,[50] fragt sie sich etwa. Der finanzielle Ruin der Familie soll durch den moralischen Ruin Elses wettgemacht werden. Der Gedanke, sich verkaufen zu müssen, ist Else zuwider, aber doch versucht sie, auch diese Enthüllung, dieses Entkleiden, als einen Auftritt zu inszenieren, als wäre ihr nackter Auftritt im Musikzimmer lediglich eine weitere „Toilette de circonstance“.

Nicht nur die Kleidung dient daber der Selbstinszenierung Elses, sie spielt, wie erwähnt, auch mit verschiedenen Rollenmodellen und Klassenstereotypen. Vor dem Spiegel sieht sie sich als verführerische Unbekannte, die aus der Ferne von jungen Herren beobachtet wird. Nach der Unterredung mit Dorsday wendet sie die Erpressung zu einem einerseits den Vater anklagenden, andererseits die Prostituierung lustvoll imaginierenden Schauspiel: „Die edle Tochter verkauft sich für den geliebten Vater, und hat am End’ noch Vergnügen davon. Pfui Teufel! Nein, Paul, auch für dreißigtausend kannst du von mir nichts haben. Niemand. Aber für eine Million? – Für ein Palais? Für eine Perlenschnur? Wenn ich einmal heirate, werde ich es wahrscheinlich billiger tun. Ist es denn gar so schlimm? Die Fanny hat sich am Ende auch verkauft. […] Nun, wie wär’s, Papa, wenn ich mich heute abend versteigerte? Um dich vor dem Zuchthaus zu retten. Sensation –!“[51]

Ihrer Wirkung auf die Männer ist sich Schnitzlers Protagonistin sehr bewusst: „Dem Herrn dort am Waldesrand gefalle ich offenbar sehr gut. Oh, mein Herr, nackt bin ich noch viel schöner, und es kostet einen Spottpreis, dreißigtausend Gulden. Vielleicht bringen Sie Ihre Freunde mit, dann kommt es billiger.“[52] Dass das sogenannte „gefallene“ Mädchen ihr Recht auf ein  „normales“ Leben eingebüßt hat und ihr nur der Tod als Ausweg offensteht – dieser Gedanke wird von Else sogleich abgewehrt: „Warum denn sterben? Keine Spur. Lustig, lustig, jetzt fängt das Leben erst an. Ihr sollt Euere Freude haben. Ihr sollt stolz werden auf Euer Töchterlein. Ein Luder will ich werden, wie es die Welt nicht gesehen hat. […] Du sollst deine fünfzigtausend Gulden haben, Papa. Aber die nächsten, die ich mir verdiene, um die kaufe ich mir neue Nachthemden, mit Spitze besetzt, ganz durchsichtig und köstliche Seidenstrümpfe.“[53]

Die Betonung des angeblich freien und frivolen Lebens der Dirnen wird aber auch gleich wieder abgeschwächt, wenn Else sich vehement von den sogenannten „gemeinen“ Dirnen abgrenzt: „Vor wem werde ich mich das nächste Mal nackt ausziehen müssen?“[54] fragt sie sich etwa zuerst, ihre Frage hat dabei einen durchaus bangen Unterton. Doch der Gedanke lässt sie nicht los: „Nein, nein. Ich will nicht. Zu jedem anderen – aber nicht zu ihm. Zu Paul meinetwegen. Oder ich such’ mir einen aus heute abend beim Diner. Es ist ja alles egal. Aber ich kann doch nicht jedem sagen, daß ich dreißigtausend Gulden dafür haben will! Da wäre ich ja wie ein Frauenzimmer von der Kärtnerstraße. Nein, ich verkaufe mich nicht! Niemals. Nie werde ich mich verkaufen. Ich schenke mich her. Ja, wenn ich einmal den Rechten finde, schenke ich mich her. Aber ich verkaufe mich nicht. Ein Luder will ich sein, aber keine Dirne.“[55]

Deutlich wird hier der bloße Spielcharakter dieses Sich-Identifizierens Elses mit den Dirnen, es soll alles ein Spiel sein, nur kein Ernst. Mit jenem Leben kokettiert sie, lässt sich aber nicht auf diese Ebene herab. Ein „Luder“ möchte sie sein, aber keine „Dirne“, ihr Leben eigenbestimmt führen, ohne eine Sanktionierung der Gesellschaft fürchten zu müssen. In ihren fiebrigen Fantasien, kurz bevor sie ins Musikzimmer geht, um sich dort Dorsday nackt zu zeigen, steigert sich ihre Imagination ins Rauschhafte: „Keine Zeit zu verlieren, nicht wieder feig werden. Herunter das Kleid. Wer wird der erste sein? Wirst du es sein, Vetter Paul? Dein Glück, daß der Römerkopf nicht mehr da ist. Wirst du diese schönen Brüste küssen heute nacht? Ah, wie bin ich schön […] Ich werde noch viel raffinierter sein. Herrliches Leben. Fort mit den Strümpfen, das wäre unanständig. Nackt, ganz nackt. […] Schön, schön bin ich! Schau’ mich an, Nacht! Berge, schaut mich an! Himmel, schau’ mich an, wie schön ich bin.“[56]

Sie spielt nach außen hin die Rolle der ruchlosen Dame, nicht die des Opfers, selbst ihren Akt der Entblößung plant sie als großen Auftritt. „Worauf warte ich denn noch? Ich bin ja bereit. Die Vorstellung kann beginnen“[57], mit diesen Worten geht sie aus ihrem Zimmer. Selbst im Moment der persönlichen Niederlage denkzt sie an an Formen und Farben, beim Treffen mit Dorsday trägt sie besagtes schwarzes Kleid, beim Gang ins Musikzimmer ist in ihren schwarzen Mantel gehüllt. Und selbst der Moment, in dem sie den Mantel fallen lässt, gerät ihr zu einem Triumph, ist hier doch neben Dorsday auch der „Filou“ anwesend, an dessen Seite sie ihre erotischen Fantasien gedanklich auslebt: „Filou, Filou! Nackt stehe ich da. Dorsday reißt die Augen auf. […] Der Filou steht auf. Seine Augen leuchten. Du verstehst mich, schöner Jüngling.“[58]

Ähnlich unwillkürlich sind ihre – oben erwähnten – Anlehnungen an Franz von Stucks allegorische „Sünde“, dessen „Phryne“ oder auch an die „Nuda Veritas“ Gustav Klimts. In der finalen Entkleidungszene erklingt im Musiksaal gerade Robert Schumanns „Carnaval“, zu dem Else ihre Inszenierung des (fremden) Selbst beendet und den Mantel fallen lässt. Hier wird ihre Inszenierung der schwarzhaarigen, personifizierten „Sünde“ Stucks nach dem Fall des Mantels zur „Nuda Veritas“ Klimts[59], die – wie es Else beabsichtigt – der anwesenden Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten vorgibt. Else plant, mit ihrem Auftritt wieder ein eigenständiges Subjekt zu werden, das nicht von den Projektionen des – männlichen – Anderen abhängt, sondern wie die rothaarige, völlig nackte (also die gleiche Erscheinung wie Else bietende) „Nuda Veritas“ die Schuld dem Betrachter zuzuweisen. Die Schlange der Verführung aus Franz von Stucks „Sünde“ hat auf Klimts Gemälde keine Macht und Bedeutung mehr – nicht mehr die Frau trägt die Schuld, sondern der Betrachter. Ebenso möchte Else mit ihrer Tat Rache an ihren „Mördern“ nehmen. „Worauf warte ich denn noch? Ich bin ja bereit“, macht sie sicht selbst in ihrem Zimmer Mut, um sogleich auf den inszenierten Charakter des Folgenden hinzuweisen: „Die Vorstellung kann beginnen. Den Brief nicht vergessen. Eine aristokratische Schrift, behauptet Fred. Auf Wiedersehen Else. Du bist schön in dem Mantel. Florentinerinnen haben sich so malen lassen. In den Galerien hängen ihre Bilder und es ist eine Ehre für sie.“

Die Reaktion der Menschen im Musikzimmer, ihr ungläubiges Staunen, sieht sie vor sich: „Was wollen Sie, Herr von Dorsday? Sie schauen mich an, als wenn ich ihre Sklavin wäre. Ich bin nicht ihre Sklavin. Fünfzigtausend! Bleibt es bei unserer Abmachung, Herr von Dorsday? Ich bin bereit. Da bin ich. Ich bin ganz ruhig. Ich lächle.“ Und auch ihrer Wirkung auf die Anwesenden ist sie sich anscheinend völlig bewusst:
„Nackt stehe ich da. Dorsday reißt die Augen auf. Jetzt endlich glaubt er es“. Doch dieser Versuch, eine „Nuda Veritas“, ein Gegenentwurf zur „Sünde“ zu sein, schlägt fehl und Else muss erkennen, dass sie ihr Schicksal nicht selbst bestimmen kann, wie sie es erhoffte: „Wer lacht denn da? Ich selber? ,Ha, ha, ha!‘ Was sind das denn für Gesichter um mich? ,Ha, ha, ha!‘ Zu dumm, daß ich lache. Ich will nicht lachen, ich will nicht. […] Was wollen Sie, Herr von Dorsday? Warum sind Sie so groß und stürzen über mich her? […] Was habe ich getan? Was habe ich getan? Ich falle um. Alles ist vorbei.“ Else wollte mit ihrem Auftritt im Musikzimmer ein Rollenvorbild durch das andere ersetzen und wechselt doch nur einen repräsentativen Frauenleib gegen einen anderen aus. Die dargestellte Weiblichkeit bleibt eine männlich imaginierte. Der sterbende Körper Elses wird nicht zu einem autonomen Subjekt, sondern bleibt eine „schöne Leiche“, die sich beliebig vernichten oder vergessen lässt.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus der Arbeit „Lustvolles Verschweigen und Enthüllen“, die in Kürze erscheint.

[1] Vgl. Bronfen: Weibliches Sterben an der Kultur, S. 465.

[2] Es gibt einige Hinweise, dass Else von Schnitzler als Hysterikerin angelegt wird, dies wird auch in der Forschung des öfteren vertreten.

[3] Schnitzler: Fräulein Else, S. 16.

[4] Ebd., S. 16.

[5] Ebd., S. 17.

[6] Ebd., S. 58.

[7] Ebd., S. 93f.

[8] Ebd., S. 30.

[9] Ebd., S. 63f.

[10] So Vogel: Hautnähe und Körperhaftung, S. 30.

[11] Schnitzler: Reigen, S. 335.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Ein Beleg hierfür findet sich auch in der Szene zwischen dem Dichter und dem „süßen Mädel“, hier ist der Standesunterschied ähnlich: Das süße Mädel „Du, das Mieder tut mir weh“ Der Dicher (einfach) „Zieh’s aus“ (Ebd., S. 367).

[15] Ebd., S. 342

[16] Ebd.

[17] So Vogel: Hautnähe und Körperhaftung, S. 32.

[18] Schnitzler: Fräulein Else, S. 27f.

[19] Ebd., S. 29f.

[20] Ebd., S. 7.

[21] Ebd., S. 11f.

[22] Ebd., S. 39.

[23] „Er hätte ihm auch fünfzigtausend geliehen, und wir hätten uns allerlei anschaffen können. Ich hätte mir neue Hemden gekauft.“ Ebd., S. 50; „Die Krawatte ist zu grell für einen älteren Herrn.“ Ebd., S. 52.

[24] So Vogel: Hautnähe und Körperhaftung, S. 25.

[25] Schnitzler: Fräulein Else, S. 59f.

[26] So Vogel: Hautnähe und Körperhaftung, S. 26.

[27] Schnitzler: Fräulein Else, S. 7.

[28] Ebd., S. 28.

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] Ebd., S.109f.

[32] Ebd., S. 73.

[33] Schnitzler-Archiv Freiburg, Arthur-Schnitzler-Nachlaß, Box C, XL, Fräulein Else, File 140 und 141, Blatt 2, zitiert nach Lange-Kirchheim: Adoleszenz, Hysterie und Autorschaft in Arthur Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ S. 269.

[34] Schnitzler: Fräulein Else, S. 8.

[35] Ebd., S. 77.

[36] Ebd., S. 98.

[37] So Vogel: Hautnähe und Körperhaftung, S. 27.

[38] Schnitzler: Fräulein Else, S. 48.

[39] Vogel: Hautnähe und Körperhaftung, S. 28.

[40] Siehe hier; Schnitzler selbst spielt in „Fräulein Else“ des öfteren auf die Malerei an: Dorsday ist Kunsthändler, im Brief der Mutter wird ein Rubens-Bild erwähnt, mit dessen Verkauf Dorsday eine stattliche Summe Geld eingenommen haben soll; ein Mann, an dessen Namen sich Else nicht mehr erinnert, bat sie „Wenn ich Sie malen dürfte, wie ich wollte, Fräulein Else“ (Schnitzler: Fräulein Else, S. 34).

[41] Ebd., S. 115.

[42] Ebd., S. 123.

[43] Ebd., S. 115f.

[44] Ebd., S. 65.

[45] Ebd., S. 17.

[46] Ebd., S. 58.

[47] Siehe die Abbildung hier.

[48] Schnitzler: Fräulein Else, S. 10.

[49] Aurnhammer: „Selig, wer in Träumen stirbt“, S. 502, Anmerkung 9.

[50] Schnitzler: Fräulein Else, S. 29.

[51] Ebd., S. 28f.

[52] Ebd., S. 62f.

[53] Ebd., S. 93.

[54] Ebd., S. 63.

[55] Ebd., S. 65.

[56] Ebd., S. 99.

[57] Ebd., S. 104.

[58] Ebd., S. 117.

[59] Abbildung siehe hier