„Ohne das Kapel hab ich salutirt!“

Zur Historisch-Kritischen Ausgabe von Arthur Schnitzlers „Lieutenant Gustl“ und einer Schulausgabe

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es bislang keine historisch-kritische Ausgabe der Schriften Arthur Schnitzlers gab, ist verwunderlich. Nach seinem Tod im Jahr 1931 wurde sein mehrere 10.000 Seiten umfassender Nachlass zunächst in seinen Wohnhaus archiviert, nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 dann mit Hilfe der britischen Regierung in die Cambridge University Library gebracht und der Forschung zugänglich gemacht. Der restliche – vor allem der private – Nachlass befindet sich zum Großteil seit einigen Jahren in Marbach, einige Handschriften jedoch sind weiterhin verstreut. Umso begrüßenswerter ist es, dass nun die 1900 entstandene Novelle „Lieutenant Gustl“ eine bei DeGruyter von Konstanze Fliedl herausgegebene Reihe Historisch-Kritischer Ausgaben der Schriften Schnitzlers eröffnet.

Die Leistung der Herausgeber ist schon in Bezug auf Schnitzlers Handschrift beachtenswert, denn dass diese nur mit Mühe entzifferbar ist, machten bereits die Faksimilie-Ausschnitte in der von Gabriella Rovagnati herausgegebenen Urfassung des „Reigen“ und die Edition der Tagebücher deutlich. Dass Schnitzler bevorzugt mit einem weichen Bleistift schrieb, macht seine zu Verkürzungen und Verschleifungen von Endsilben neigende Schrift auch nicht lesbarer.

Die vorliegende Fassung des „Gustl“ zeigt auf der linken Seite das schön und sorgfältig in schwarz-weiß faksimilierte Original der Handschrift, auf der rechten Seite die typografische Umschrift. Hier zeigt sich, dass Fliedl, die bereits bei der erwähnten Edition der Tagebücher beteiligt war, eine Kennerin und eine Könnerin ist. Nur durch ihre sorgfältige Arbeit wird das Schnitzler´sche Manuskript auch für einen weniger an Handschriften geschulten Rezipienten erfahrbar. Beim Betrachten der Umschrift wird ebenso deutlich, wie sehr das Manuskript von der Druckvorlage abweicht, Schnitzler hat seine Texte immer wieder intensiv, oft bis kurz vor der Drucklegung, überarbeitet. Vieles wird von ihm geglättet, Manches weggelassen. Der Antisemitismus von Gustl etwa wird vermindert, Schnitzler streicht hier des öfteren Textteile, die die Personen eindeutig als Juden kennzeichnen; ebenso verfährt er mit einigen erotischen Anspielungen, die etwa auf eine mögliche homosexuelle Neigung Gustls deuten lassen. Heißt es im Manuskript noch „Nachmittag ganz nackt bin ich von 2-6 auf dem Bett gelegen … einem schöne Figur der ganze August […] und dem Säbel neben mir. Nachmittag haben wir uns alle ganz nackt auf die Betten gelegt, einmal ist plötzlich der Wiesner zu mir hereingekommen und ich muss grad geträumt haben, und ich steh auf und zieh den Säbel, der auf der Bettkante neben mir liegt“, so ist der Drucktext weitaus weniger eindeutig sexuell konnotiert, hier lautet diese Passage: „Nachmittag haben wir uns nackt aufs Bett hingelegt. – Einmal ist plötzlich der Wiesner zu mir hereingekommen; ich muß grad geträumt haben und steh‘ auf und zieh‘ den Säbel, der neben mir liegt… muß gut ausgeschaut haben“. Doch nicht nur die explizite Betonung, dass alle „ganz nackt“ waren, streicht Schnitzler, sondern auch eine eine Passage, die auf eine Stelle in der „Traumdeutung“ Sigmund Freuds Bezug nimmt. Freud hatte im fünften Kapitel unter den sogenannten „Typischen Träumen“ eine Beziehung zwischen schlechter beziehungsweise falscher Bekleidung im Traum und der Nacktheit hergestellt: „[Es] ersetzt sich die Nacktheit häufig durch eine vorschriftswidrige Adjustierung. ,Ich bin ohne Säbel auf der Straße und sehe Offiziere näher kommen, oder ohne Halsbinde, oder trage eine karierte Zivilhose‘“. Schnitzler, der Freuds Buch bereits im Jahr des Erscheinens sorgfältig gelesen hatte, spielt im Manuskipt des „Gustl“ mit einiger Wahrscheinlichkeit auf diese Passage an, wenn sein Protagonist bemerkt, dass er seine Offiziersmütze nicht mehr bei sich trägt: „Jetzt bin ich durch die ganze Stadt ohne Kappel gegangen“, heißt es dort, „Ohne das Kapel hab ich salutirt! ohne das Kappel bin ich durch die Burg gegangen“. In der Druckfassung fehlt dieser Teil gänzlich.

Anschließend an das Faksilimie und die Umschrift findet man in der Ausgabe die Wiedergabe der Druckfassung des Erstdrucks in der Weihnachtsbeilage der „Neuen Freien Presse“ vom 25. Dezember 1900 und einen Anmerkungsapparat, der sämtliche Varianten der Drucke zu Schnitzlers Lebzeiten wiedergibt. Der Kommentar fällt dabei mit 14 Seiten überraschend kurz aus, hier hätte man mehr erwartet, doch alle wichtigen Fragen werden dennoch geklärt. Lobenswert ist auch der Abdruck der von Moritz Coschell verantworteten zwanzig Illustrationen zur Erstausgabe, die die Historisch-Kritische Ausgabe des „Lieutenant Gustl“ beschließen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser editorischen Leistung bald auch weitere Schriften Schnitzlers folgen.

Am entgegengesetzten Ende der Skala angesiedelt ist eine „Gustl“-Ausgabe, die der Oldenbourg Verlag für die Bedürfnisse des Schulunterrichts zusammengestellt hat. Die Lernenden sollen „schülergerecht und leserfreundlich“ an Schnitzlers Texte (der Band enthält auch die „Traumnovelle“) herangeführt werden. Zum Glück nicht mittels jener unsäglichen, vielfach von Lehrern ernsthaft in Betracht gezogenen „vereinfachten“ Ausgaben, sondern anhand des unveränderten, kommentierten Originaltextes. Der Band beginnt allerdings mit biografischen Informationen zum Autor, eine Gepflogenheit, die sich aus unerfindlichen Gründen immer größerer Beliebtheit erfreut, eine Nennung nach dem Text hätte hier auch nicht geschadet. Die Kommentare im Text sind jeweils in einer Randspalte gesetzt und stören den Lesefluss erfreulich wenig, die wichtigsten Begriffe werden knapp erläutert, im Anschluss an den Text gibt es jeweils weiterführende Wort- und Sacherklärungen. Ergänzend finden sich 45 Seiten Materialien für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Stoff der beiden Novellen – hier ist die Forschung ordentlich repräsentiert, lediglich die Abbildungsqualität der Bilder und Filmstills  lässt gelegentlich etwas zu wünschen übrig. Unverständlicherweise wird weder bei „Leutnant Gustl“ noch bei der „Traumnovelle“ angegeben, welcher Ausgabe der benutzte Text folgt, ein wenig mehr Sorgfalt wäre hier angemessen. Dennoch ist das Büchlein für den schulischen Gebrauch überaus brauchbar.

Titelbild

Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl. Traumnovelle. Texte, Kommentar und Materialien.
Bearbeitet von Wolfgang Pütz.
Oldenbourg Verlag, München 2011.
228 Seiten, 4,95 EUR.
ISBN-13: 9783637012998

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Titelbild

Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Historisch-kritische Ausgabe.
Herausgegeben von Konstanze Fliedl.
De Gruyter, Berlin 2011.
578 Seiten, 299,00 EUR.
ISBN-13: 9783110227574

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