Das Schöne, nicht das Wahre ist das Gute

Bernd Stiegler und Felix Thürlemann haben eine Sammlung zeitgenössischer Texte zur Kunstfotografie um 1900 herausgegeben.

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst des Jahres 1893 organisierte der rührige Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark eine Bilderschau in dem von ihm geleiteten Musentempel, die als „I. Internationale Ausstellung von Amateur-Photographen“ beworben wurde. Nun war Lichtwark zwar ein großer Förderer der künstlerisch ambitionierten Amateur-Fotografie, doch um die erste Ausstellung dieser Art handelt es sich mitnichten, wie man in der von Bernd Stiegler und Felix Thürlemann unter dem Titel „Das subjektive Bild“ herausgegebenen zeitgenössischen Textsammlung um 1900“ erfahren kann. Die Herausgeber selbst machen in der informativen Einleitung darauf aufmerksam, dass das interessierte Publikum in Wien bereits 1888 und 1891 internationale Ausstellungen mit den Kunst-Fotografien von Amateuren besuchen konnte.

Zu Beginn der 1870er-Jahre hatte der Engländer Richard Leach ein neues und einfacheres fotografisches Verfahren zur Erzeugung von Negativen entwickelt, dessen Grundlage die Erfindung der Gelatine-Trockenplatten war. Damit erleichterte er es Amateuren, Bilder aufzunehmen und vor allem, sie selbst zu entwickeln. Ein Jahrzehnt nach seiner Erfindung wurde das Verfahren und damit das Fotografieren in Kreisen des wohlhabenderen Bürgertums zunehmend populärer.

Verdienten die professionellen FotografInnen – zu denen durchaus auch einige sehr bekannte Frauen – wie etwa die feministischen Betreiberinnen des Münchner Fotoateliers „Elvira“ Anita Augspurg und Sophie Goudstikker zählten – ihren Lebensunterhalt vornehmlich mit Portraitfotografien, verstanden die AmateurfotografInnen ihre Arbeiten als Kunstwerke und wollten sie als solche etablieren. Daher orientierten sie sich von Beginn an an „vorgegebenen Formeln und traditionellen ästhetischen Prinzipien“ der Malerei. So griffen ihre Bilder Stilrichtungen und Motive der berühmtesten MalerInnen auf, wie die mehr als einhundert ebenfalls enthaltenen Fotografien zeigen. Aufnahmen Robert Demachy etwa erweisen sich als deutlich impressionistisch beeinflusst, während Hans Watzek beispielsweise das Vanitas-Motiv aufgreift.

Texte und Bilder sollen heutigen Lesenden erstmals einen Überblick über die „Amateurbewegung der Kunstphotographie“ bieten. Hierzu haben die Herausgeber die insgesamt 27 aus deutschsprachigen Zeitschriften entnommene Textdokumente der Jahre 1895 bis 1915 in acht Gruppen unterteilt, die sich etwa geografisch orientieren („Eine internationale Bewegung“, „Wien und Hamburg“), Kunsttheoretisches örtern („Amateure gegen Berufsphotographen“, „Die Kunstdebatte“, „Die Gattungen“) oder technische Fragen behandeln, die selbstverständlich auch künstlerische sind („Scharf oder unscharf – Der Gummidruck“). Den Abschnitte haben die Herausgeber jeweils eigene kurze Texte zur thematischen Einführung vorangestellt, in denen die Dokumente kontextualisiert werden. Ein Endnotenapparat bietet weitere Auskünfte.

Einige Autoren, wie etwa der bereits erwähnte Alfred Lichtwark, sind in der auf Repräsentativität bedachten Auswahl mit mehreren Artikeln vertreten. Ins Auge fällt allerdings, dass die Herausgeber keine Frauen zu Wort kommen lassen. Zumindest sind 24 der 27 Texte ausgewiesenermaßen von Männern verfasst, die drei anderen wurden anonym publiziert. Sollten sich Fotografinnen und Publizistinnen in den herangezogenen Zeitschriften tatsächlich nicht zur Amateurfotografie geäußert haben? Schwer vorstellbar. Vermutlich handelt es sich bei deren Absenz eher um ein Manko des vorliegenden Bandes.

Unter den wiedergegebenen Bildern sind hingegen sehr wohl auch Fotografien, die von Frauen aufgenommen wurden, wenngleich nur sehr wenige. Auch erwähnt etwa Sadakichi Hartmann gegen Ende seines in dem Band abgedruckten Textes „Über die amerikanische Kunstphotographie“ einige fotografische Arbeiten von Frauen. Dies allerdings eher beiläufig. Zudem scheint er sie in der Regel eher gering geschätzt zu haben. Erklärt er doch, „eine ganze Anzahl von Kunstphotographien zweiten Ranges“ seien „hauptsächlich von Damen“. Darunter etwa Bilder von Gertrud Käsebier, die es aber immerhin „vortrefflich versteht, Gemälde alter Meister aufzunehmen, so dass man nicht glaubt, dass es Photographien, sondern Reproduktionen sind.“ Zaida Ben Yussuf gesteht er in blasierter Manier zu, „zuweilen eine geschmackvolle Komposition“ zustande gebracht zu haben. Ähnliche durch Herablassung vergiftete Worte des Lobes findet er für einige weitere Fotografinnen.

Wie die Herausgeber im Nachwort resümieren, ging es den AmateurfotografInnen um „eine Verwandlung von Schärfe in Unschärfe, von wissenschaftlicher in ästhetische Erkenntnis, von Wahrheit in Schönheit.“ Nicht Objektivität, nicht Rationalität, sondern das „subjektive Gefühl ist dem Kunstwerk die höchste Instanz“, erklärte Max Allihn in einem der aufgenommenen Texte, die insgesamt hervorragende Einblicke in die Intentionen und Diskussionen der Kunstfotografen und deren Theorien um 1900 bieten. Die aufgenommen Bilder wiederum sind weit mehr als bloße Illustrationen.

Titelbild

Bernd Stiegler / Felix Thürlemann (Hg.): Das subjektive Bild. Texte zur Kunstphotographie um 1900.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011.
441 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552320

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