Ein Übermaß an Blau

Franz Hohler macht „Spaziergänge“ und betrachtet die Welt

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Farben der Blumen werden greller, ihre Stengel kürzer, die ersten Edelweiß zeigen ihre pelzigen Blüten. Langsam wird das Gras karger, es wird von Schieferrunsen durchzogen, und ich betrete die Geröllhänge. Drei Bergdohlen flattern vorbei und teilen sich irgendwas mit, vielleicht sprechen sie über mich.“ Ein Jahr lang hat sich Franz Hohler jede Woche auf einen Spaziergang gemacht, hat immer eine andere Route genommen, hat sich umgesehen und notiert, was er hört, sieht und denkt.

Und ist natürlich nicht immer auf die schönen Berge gestiegen, die ihm, dem Schweizer, direkt vor der Haustür liegen. Sondern er geht auch zum nächsten IKEA, geht zum See bei Wallisellen, wo er mit der S-Bahn hingefahren ist, geht den Weg seines Großvaters nach, der über den Rhein zur Arbeit musste, früh morgens eineinhalb Stunden hin, abends eineinhalb zurück. Geht an einem Sonntag statt zur Kirche zu einem Konzert und trifft auch dort auf eine „glaubensbrüderliche“ Gemeinschaft, geht durch eine „Überlandstraßenverschlingungslandschaft“ und über die Frankfurter Buchmesse, zum Zoo und zu einem Gletscher, der noch vor dreißig Jahren viel weiter unten lag. Geht sogar in alle Himmelsrichtungen, ganz präzise, mit einem Kompass, den er sich extra dafür gekauft hat. Und einmal spaziert er sogar in Büchern herum.

Vor allem aber schaut er und hört zu: dem Rauschen des Wasserfalls und dem Motorenlärm der Autobahn, die sich in einem einzigen an- und abschwellenden Ton vermischen. Und er hört den Gletscher: „einen unhörbaren Schrei, einen Schrei eines Lebewesens in Agonie, einen jahrzehntelangen, jammervollen Todesschrei.“ Er badet in Schönheit und nimmt auch den Schrecken wahr, nimmt sich zurück und ist doch voll dabei. Einmal schreibt er: „Ich neige zur Ungeduld, deshalb tut es mir gut, irgendwo hochzusteigen, irgendwo, wohin man nur mit Geduld kommt.“ Nichts stimmt weniger: Wenn es einen geduldigen Menschen gibt, einen mit der Ruhe, sich etwas anzuschauen und auf sich wirken zu lassen, dann ist es Hohler. Genau das kann man auch von ihm und seinen Büchern lernen: nicht durchzuhasten, nicht auf den nächsten Einfall, das nächste Ereignis zu warten, keine Action haben zu wollen.

Sondern einfache Beobachtungen, die durch eine kleine Volte im Hirn des Betrachters zu poetischen und manchmal auch politischen Weltbetrachtungen werden. Wenn er Hund und Frauchen zusammen sieht, an einer Leine, und nicht weiß, wer da wen spazierenführt. Oder wenn er merkt, dass das Bauen etwas Gewalttätiges hat. Oder dass man auf dem Land immer grüßt, auch die Unbekannten, in der Stadt aber nicht. Stets sind Beobachtungen und Reflexionen miteinander verknüpft, allein das Aussprechen der manchmal nur minimal abweichenden Sicht auf die Dinge macht die Differenzen, die er aufspürt, schon überdeutlich. Und all das in einer sanften, weichen Sprache. Genau, sachlich und zärtlich umschmeichelt sie die Dinge und staunt. Dass es Gegenden gibt, in denen er keine Menschen mehr trifft. Über die Freundschaft und „die unsichtbare Wolke von Wörtern“, die einen Gipfel umschwebt, über Landschaften, die nicht für die Menschen gemacht worden sind, über ein „Übermaß an Blau“ und die alten und neuen Machthaber.

Titelbild

Franz Hohler: Spaziergänge.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
154 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873862

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