Quer durch die Betten

Michael Kumpfmüllers Erstling - nur Kimbles Fluchten sind spannender

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was geht in einem vor, der eine Frau und eine Familie hat und dennoch ständig fremdgeht, der ein Bettengeschäft führt, ein Bettengeschäft im schönen Regensburg in zentraler Lage, aber sein Geschäft nicht durchschaut, sich auch nicht groß dafür interessiert und folglich pleite geht; was denkt er sich dabei, wenn er vor seinen Gläubigern in die Deutsche Demokratische Republik flieht, kurz nach dem Mauerbau und der Schließung der Grenzen, und die Familie im Westen zurücklässt; und wie erklärt er seiner Frau und seinem Stasi-Führungsoffizier, dass er erneut alles Maß verloren und sich heillos verschuldet hat, dass ihm alle Ziele und Träume und guten Vorsätze wie Seifenblasen zerplatzt sind? Wie erklärt er den Geruch fremder Frauen an seinen Fingern, die Batterie leerer Schnapsflaschen im Kohlenkeller, wie begründet er sein Fernbleiben von der Abendschule, seine Selbstanzeige bei der Volkspolizei, wie rechtfertigt er vor sich selber und der Welt seine Dummheiten und Niederlagen und die Enttäuschungen, die er sich und den Seinen bereitet hat?

Am besten wohl gar nicht. Alle Psychologie ist für die Katz, wo Vernunftgründe nicht greifen, wo Überzeugungen nichts gelten, wo jedes mögliche Motiv an der Widersprüchlichkeit der Person und ihrer Handlungsweisen zerbricht, wo es nicht einmal die geschlechtliche Not ist, die ihn in die soziale Katastrophe treibt, denn die soziale Not hat andere Gründe, und den Geschlechtstrieb weiß er einzusetzen wie kein zweiter, sich und das Geschäft und die Familie über Wasser zu halten und den Kopf immer wieder aus der Schlinge zu ziehen. Er kann keine Gewissensnöte geltend machen für sein Straucheln, er ist kein politischer Überzeugungstäter, der an Ideen glaubt und die Welt verändern will, keiner, der in die DDR geht, weil ihn das System dort fasziniert, kein Anarchist, der alle bürgerlichen Institutionen und damit auch die Ehe ablehnt, er ist nicht von Grund auf böse, beschränkt, dumm oder leichtsinnig. Er ist bloß einer, der wie die Katze das Mausen nicht lässt, einer, der nicht überlegt, der in den Tag hineinlebt und die Folgen nicht übersieht, ein Tunichtgut aus Eigensinn, ein Rätsel sich selbst.

Er ist ein Hampelmann, man braucht nur an der Strippe zu ziehen, und schon zuckt er und wirft die Gliedmaßen nach allen Seiten. Die Strippe hängt dort, wo der Mann am empfindlichsten ist und wo er sich im Alter von zwölf Jahren zu reiben beginnt, lustvoll und auf immer neue Weise, aber vorsichtig, damit es keine Flecken gibt wie beim Bruder Theodor, der auch prompt von der Mutter geohrfeigt wird, damit damit Schluss ist, ein für allemal. Dabei denkt die Mutter selber mit Hitze an den Vater und lässt sich von ihm ein Kind nach dem anderen machen, selbst in schweren Zeiten, den Kriegsjahren, als der Vater sich kaum noch aufs Zeugungsgeschäft versteht und die Fehlgeburten kommen, als der älteste Sohn noch eingezogen wird kurz vor dem Ende und man nicht weiß, ob er jemals wiederkommt.

Später dann reibt sich Hampel an den Frauen, die er kennenlernt und denen er seine Bettwäsche aufschwatzt, den Kundinnen, die er nachhause begleitet, um das erste Probeliegen in der neuen Garnitur nicht zu verpassen, während die eigene Frau, Rosa ist ihr Name, zu Hause sitzt und die Kinder großzieht und nur gelegentlich in den Genuss ihres Mannes kommt. Da gibt es eine schöne Stelle, auch anthropologisch interessant, da ist Hampel schon in die DDR gegangen auf der Flucht vor seinen Gläubigern, und Rosa ist ihm gefolgt mit den Kindern, womit Hampel am wenigsten gerechnet hat. Jedenfalls, was wollte ich erzählen, eines Nachts, gerade ist Otto Grotewohl gestorben, da hat Hampel nicht so recht landen können bei seiner neuen Bekanntschaft, die seine Gedanken beschäftigt, einer gewissen Gisela, und da spendet ihm die eigene Frau Trost in seiner Trauer, und das geht so: "Sie wollte nicht fragen, was vorgefallen war in jener Nacht, aber sie spürte, er nahm es als Niederlage, und weil er immer Trost brauchte nach seinen großen und kleinen Niederlagen, war sie freundlich und aufmerksam, überraschte und überzeugte ihn. Sie wollte, dass er den Namen der anderen sagte, und sie wollte, dass er es machte, als wenn er es dieser anderen gemacht hätte, und natürlich wehrte er sich zuerst, und dann staunte er über sie, die sich für eine andere ausgab und ihn lobte und ihm riet: Mach die Augen zu, ich bin es, ich habe keinen Namen als ihren."

Die Gedanken sind frei, auch in der DDR, doch was sich denken lässt, das will sich auch realisieren, zum Beispiel im Café Gera, Leipzig oder Bautzen, wo nur Männer einkehren und dann auch gleich auf einige Zeit bleiben müssen, so wie unser Hampel, weil er sich verschuldet hat und ein unsicherer Kantonist ist und weil auch die guten Worte seines Führungsoffiziers nichts mehr geholfen haben. Im Knast, da tun sich ganz andere Perspektiven auf, denn auch da hat Hampel Wünsche, und erst traut er sich nicht, doch dann kommt er bei Karl zum Ziel, der ist wie ein enges Mädchen oder ein Mädchen ohne Erfahrung. Für die Familie ist diese Zeit natürlich schrecklich oder auch ein Segen. Hampels Söhne sprechen nur von "Ede", wenn sie ihren Vater meinen, und Eva, das Nesthäkchen, muss in der Schule schwindeln, dass ihr Vater Kraftfahrer sei und auf Montage in der Volksrepublik Jemen, so peinlich ist ihr das alles. Selbst Harms, Hampels Führungsoffizier bei der Firma, scheint nichts mehr von seinem Klienten wissen zu wollen, immerhin hat er ihn angeworben. Es ist aber kein Wunder, wusste doch Hampel nie groß etwas zu sagen in seinen Berichten, außer vielleicht, wie diese oder jene Eroberung gerochen hat, als er ihr den Saft aus der Spalte soff, aber das interessierte Harms nicht gar so sehr, allenfalls vielleicht, wie sie über die Mangelwirtschaft dachte oder wie die Beschlüsse des 8. Parteitages diskutiert worden sind. Wurden sie natürlich gar nicht, und so waren Hampels Protokolle mehr oder weniger unbrauchbar, auch brachte er manches durcheinander, wie es schien. Aber vielleicht haben seine Aufzeichnungen ja doch jemandem genützt, irgendwer muss ja Hampels Geschichte erfahren und weitergegeben haben, muss Hampel kennen, wie man sonst nur sich selber kennt, muss auch alles richtig einzuschätzen wissen, die Zeitumstände, die politische Großwetterlage, die kleinen und die großen Sorgen der Bürger hüben wie drüben.

Jedenfalls dann, wenn es nicht alles erfunden wäre, geschickt kompiliert aus etwas Zeitgeschichte hier und etwas Literaturgeschichte da. Schon einmal gab es einen deutschen Bildungsroman, der wollte sich nicht zufrieden geben mit dem vorgezeichneten Lebenslaufmodell, das da hieß Wanderschaft, erotische Abenteuer, Ausbildung der Person, Berufswahl und Familie (und über den profanen Rest schwieg des Dichters Höflichkeit), schon einmal gab es diesen Widerstand gegen die Konvention, und Wilhelm, der junge Tischlermeister, der in Tiecks gleichnamiger Novelle dagegen verstieß und Frau und Arbeit den Rücken kehrte, um noch einmal die Jugendzeit zu durchleben und unbeschwert auf Wanderschaft zu gehen, auch erotische Abenteuer zu suchen, eine Skandalfigur der späten Goethezeit, war gefährdet wie Hampel oder William Lovell. Und schon einmal gab es welche, die rübergingen in die DDR, um dem Zugriff ihrer Verfolger zu enkommen, deutsche Terroristen der zweiten und dritten RAF-Generation, und vielleicht hat sich hier einer anregen lassen von den mitunter grotesken Volten, die unsere Geschichte geschlagen hat.

Michael Kumpfmüller, so heißt der 39jährige Autor dieses deutsch-deutschen Romans, eines Romans, der das Schelmenhafte streift, aber mit einer leisen Tragik dem Ende entgegenläuft, dessen Prosa entfernt an Uwe Johnson erinnert (sehr entfernt), entfernt vielleicht auch an Hermann Lenz, Verfasser eines Romans jedenfalls, der jenseits aller Anspielungen hier und Referenzen dort zu einer eigenwilligen Sprache gefunden hat, einer Sprache, in der das Wörtchen "und" zu dominieren scheint und eine mäandernde Bewegung der Sätze erzeugt, eine sachte und doch bestimmte Dynamik, die den Leser leichthin durch ihre syntaktischen Ungetüme hindurchführt, mit Verwerfungen in der Histoire spielend fertig wird, so zum Beispiel Hampels Kindheit nachholend erzählt, als er schon alt und krank ist und schon riecht wie einer, der sich zersetzt. Ein Roman also, der sich ohne große Anstrengung und Sinnhuberei auf deutsche Geschichte einlässt, auf die Zeit, die uns am meisten nachhängt, von der Weimarer Republik bis zum Ende der DDR, die uns noch lange beschäftigen wird, trotz aller Fluchten.

Titelbild

Michael Kumpfmüller: Hampels Fluchten. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000.
496 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3462029274

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