Reden, daß man sie sieht

Zwei Sammelbände präsentieren Reden und Texte von und über Christa Wolf

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Posten ist vakant“, klagte sie 1991 anlässlich des Todes von Max Frisch. Und ihren Freund, den russischen Schriftsteller und Dissidenten Lew Kopelew bezeichnete sie 1997 in ihrer Trauerrede als eine „Art Wunder“: „Ich glaube, er brachte fast jeden, der ihm nahekam, dazu, seine besten Seiten herauszukehren. Vielleicht ist das ja die wirksamste Art, etwas an den Zuständen dieser Welt zu bessern“.

Christa Wolf selbst ließ der Zustand dieser Welt jedenfalls keine Ruhe. Sie schrieb gegen „falsche Alternativen“ an, suchte die in der Vergangenheit verfehlten Kreuz- und Wendepunkte und überlegte z. B. in den Frankfurter Vorlesungen zur Erzählung „Kassandra“, ob die zerstörerischen Entwicklungen unserer Zivilisation wirklich unausweichlich sind. In ihrem Prosawerk beschritt sie den nicht minder schwer zu bestimmenden „Weg zu sich selbst“, schmerzhafte Selbsterkenntnisse inklusive. Christa Wolf schonte sich selbst nicht − und sie wurde nicht geschont. Kaum eine Schriftstellerin und kaum ein Schriftsteller der deutschen Nachkriegszeit hat so viele, so vehemente Literaturdebatten ausgelöst wie sie. An den deutsch-deutschen Literaturstreit, der sich 1990 an ihrer kleinen Erzählung „Was bleibt“ entzündet hatte, erinnerte im Dezember 2011 bei der Gedenkfeier nach ihrem Tod vor allem Günter Grass mit harschen Worten. Grass hätte sich besser an Christa Wolf selbst orientiert: Ruhig und besonnen, treffend formuliert, ohne Kontroversen zu beschönigen oder zu verharmlosen − so waren ihre Reden bei ähnlichen Anlässen. Die Redekunst der Autorin beweist auch der neue Sammelband „Rede, daß ich dich sehe“. Auf 208 Seiten sind darin Essays, Reden und Gespräche der Autorin aus den vergangenen rund zehn Jahren gesammelt, die sie vor ihrem Tod noch selbst für den Band ausgewählt hatte, wie der Klappentext erläutert.

Nur zwei der ausgewählten Texte sind allerdings Erstveröffentlichungen, die meisten sind bereits in irgendeiner Form erschienen, oftmals in Zeitungen oder Zeitschriften wie die Interviews und Gespräche oder Wolfs Laudationes auf Schriftstellerkollegen und -freunde. Einer der Texte, nämlich die Rede auf dem Kongress der Redenschreiber im September 2000, ist sogar bereits in der Luchterhand-Werkausgabe (Band 12: Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1987-2000) abgedruckt. Nicht viel Neues also, das hier von Christa Wolf zu lesen ist. Und manch einer der Texte ist wohl auch diesmal nur für eingefleischte „Wolf-Fans“ von Interesse. Und doch ist es ein Verdienst des Suhrkamp Verlags, diesen kleinen Band noch herausgegeben und damit die Tradition, Wolfs „Gelegenheitstexte“ zu bündeln, weiter fortgesetzt zu haben.

Denn diese bilden nicht nur quantitativ einen bedeutenden Teil des Wolf’schen Werkes. Immer wieder finden sich unter den Essays auch programmatische Texte wie „Lesen und Schreiben“ (1968), für das Verständnis ihrer Prosa grundlegende Ausführungen wie „Erfahrungsmuster“ (eine Diskussion zum Roman „Kindheitsmuster“). Und immer wieder Dankesreden oder Rezensionen. Im Laufe der Jahre dann immer öfter auch Nachrufe, Erinnerungen an Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, Erinnerungen an Freundschaften: Worte zum Tode von Maxie Wander, Irmgard Morgner oder Heiner Müller, eine Trauerrede für Franz Führmann, Abschiedsworte für Günter Gaus. Christa Wolf fand in all diesen Reden immer die angemessenen Worte. Den Leitspruch „Von den Toten nichts als Gutes“ ignorierte sie bereits in ihrer Erzählung „Nachdenken über Christa T.“, die sie Mitte der 1960er-Jahre nach dem Krebs-Tod einer Freundin geschrieben hatte. Nicht um Schönfärberei ging es ihr, sondern um Wahrhaftigkeit, um die Suche nach der richtigen Benennung. Ihr lag an Differenzierungen, ihr Schreiben, das sie stets als Selbstbefragung und -erforschung verstand, war nachdenklich.

Was im Feuilleton jedoch über Christa Wolf geschrieben wurde, entsprach diesem Ideal eher selten. Kein Wunder also, dass auch mancher Nachruf, der im Dezember 2011 zum Tode Christa Wolfs geschrieben wurde, etwas daneben ging, wenn Wolf mal literarische „Schnellschüsse“ (Elke Heidenreich), mal − beziehungsweise wieder einmal − „Humorlosigkeit“ (Welt online) attestiert wurde. Von der Toten also nichts als Klischees?

Im Band „Wohin sind wir unterwegs“, in dem die Gedenkreden an Christa Wolf von der Trauerfeier am Dorotheenstädtischen Friedhof sowie der öffentlichen Gedenkfeier in der Akademie der Künste in Berlin gesammelt sind, hätte man daher gehofft, die richtigen Worte zu lesen. Die Hoffnung erfüllt sich nur − oder zumindest? − teilweise. Neben Günter Grass hielten damals weitere langjährige Schriftstellerfreunde und Wegbegleiter Reden, wie z. B. Volker Braun, Daniela Dahn, Christopher Hein oder Friedrich Schorlemmer, aber auch „offizielle“ Vertreter wie Klaus Wowereit (Regierender Bürgermeister von Berlin) und Tadeusz Jedrzejczak (Stadtpräsident des polnischen Gorzów Wielkopolski, d. i. Wolfs Geburtstadt, das frühere Landsberg an der Warthe), sowie Übersetzer ihrer Bücher ins Italienische und Französische. Sie sprachen dabei von der „engagierten Literatin“ (Wowereit), dem „neuen Ton“, den Wolf in die deutsche Literatur brachte (Hein) und von ihrem „wunderbaren, souveränen Vermächtnis“, dem Roman „Stadt der Engel“, in das sie in ihren letzten Jahren all ihre „verbliebene Kraft“ gesteckt hatte (Dahn). Sie sprachen aber auch von den ganz persönlichen Begegnungen mit der Autorin. Allen voran ihre Enkelin Jana Simon, die in einer anrührenden Rede dem „überernsten Bild“, das in der Öffentlichkeit von Christa Wolf gezeichnet wurde, den Witz und die Selbstironie ihrer Großmutter entgegenstellte − einer Großmutter, die einen Hang zu trivialen Fernsehserien gehabt und gut gemixte Margaritas geschätzt habe.

„Sie hatte stets ein offenes Ohr“, betonte Friedrich Schorlemmer in seiner Rede, und: „Sie war eine große und großartige Briefschreiberin. […] Kein Brief blieb ohne handschriftliche Antwort.“ Die Verlegerin Maria Sommer erinnerte sich an eine Begebenheit, in der Christa Wolf ihr in einer Lebenskrise half, und beschrieb sie mit folgenden Worten: „Sie war nicht jemand, der anderen mit überströmender, unverbindlicher Herzlichkeit an die Brust fällt. Sie wartete ab, aber sie hörte hin, sie verstand Menschen, und sie tat etwas, wenn es ihr notwendig erschien.“ Die Rednerinnen und Redner, die Christa Wolf näher kannten, hatten praktisch alle solche Geschichten von ihr zu erzählen, Geschichten von einer ungewöhnlichen Frau, „voller Würde, lebenserfahren, […] in sich ruhend“ (Hein). Dass dabei das Werk der Autorin insgesamt in den Gedenkreden ein bisschen unterging, mag man auf den ersten Blick bedauern. Doch schimmerte es auch in den persönlichen Anekdoten stets durch, handelte es sich doch um Geschichten von Begegnungen, in denen Christa Wolf dem Gegenüber zuhörte, sich einsetzte und wenn nötig auch widersprach. Ganz wie in ihren Werken, in ihren Essays, Reden und Interviews.

„Manchmal möchte man einfach die Klappe halten vor all der nachwachsenden Dummheit − aber das geht halt eben doch nicht“, habe ihm Wolf 2007 geschrieben, berichtete Friedrich Schorlemmer. Wenn man ihre Reden und Essays liest, möchte man sagen: zum Glück hat Wolf bis zuletzt die nachwachsende Dummheit nicht unwidersprochen hingenommen. Egal ob sie sich 2011 nach einigem Zögern doch noch zu einem Interview mit der „Zeit“ zum Reaktorunglück von Fukushima entschloss („Meine Hoffnung, daß das, was man nach so einer Katastrophe sagen kann, irgend etwas bewirkt, ist geschwunden.“) oder ob sie 2004 ihre in Zeiten von Photoshop-Retuschen und Schönheits-OPs so ganz unmoderne und deshalb um so essenziellere Definition von Schönheit erläuterte („Aber die Schönheit, die ich bewundere, ist die Schönheit des Lebens und nicht die, aus der das Leben getilgt wurde.“), Christa Wolf hatte der „nachwachsenden Dummheit“ etwas entgegenzusetzen.

Dieser Posten ist nun vakant.

Titelbild

Christa Wolf: Rede, daß ich dich sehe. Essays, Reden, Gespräche.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
208 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423134

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wohin sind wir unterwegs? Zum Gedenken an Christa Wolf.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
90 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518069226

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