Blick aufs Medienjahrhundert

Warum Werner Faulstichs „Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts“ einen imposanten Überblick bietet, aber immer noch keine Mediengeschichte ist

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 20. Jahrhundert umfasst zweifellos nicht nur katastrophische hundert Jahre, sondern hat auch eine Reihe von Medienrevolutionen erlebt. Das ist für die Beteiligten nicht immer nur schön gewesen, sondern vor allem sehr anstrengend. Ein imaginärer Zeitgenosse hätte unter anderem die neuen Massenblätter des frühen 20. Jahrhunderts und die Erfindung der Illustrierten erlebt und deren Abstieg, er hätte den Aufstieg und Abstieg der Film- und Plattenindustrie gesehen, hätte sich ans Telefon, sogar ans Smartphone und an die Aufzeichnung seiner Stimme gewöhnen können.

Er (sie inbegriffen) hätte seinen ersten und seinen letzten Film in die Kamera gelegt, ohne je mit dem Fotografieren aufzuhören. Dasselbe gilt fürs Filmen, dem anderen großen Erinnerungsspeicher des 20. Jahrhunderts, über dessen Praxis man immer noch so wenig weiß. Er hätte immer noch ein Buch lesen, oder es sich mittlerweile von jedem x-beliebigen Schauspieler vorlesen lassen können. Er hätte sich vors Radio wie vors Fernsehen setzen können, um sich mehr oder weniger berieseln zu lassen. Er hätte die Information ebenso zu schätzen gewusst wie die Unterhaltung, und dabei hätte er immer neuen Kanälen und Plattformen seine Gunst erwiesen.

Er hätte sich allerdings auch in die Bedienung einer Unzahl von technischen Geräten einarbeiten müssen, um nur einigermaßen auf dem aktuellen Stand zu bleiben, als hätte er nichts Besseres zu tun. Er hätte selbstverständlich Kompetenzen erworben, mit denen er Dinge tun konnte, die für seine Großeltern bestenfalls als schwarze Magie durchgegangen wären. Aber auch daran hätte er sich gewöhnt, wie wir ja auch.

Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts hat ihre technische, ihre industrielle, ihre strukturelle und gesellschaftliche, aber eben auch ihre ganz private Seite. Die Mediengeschichte ist auch Gesellschaftsgeschichte und Geschichte einer je individuellen Praxis. Sie ist eingebettet in ein System einander bedingender Teilgeschichten – der Gesellschaftsgeschichte nicht minder als der Wirtschaftsgeschichte oder der Technikgeschichte. Mit ihr verändert sich das, was wir gewohnt sind Öffentlichkeit zu nennen ebenso wie das, was als Privatleben bezeichnet wird. Mediengeschichte ist mithin eine Geschichte mit umfassenden Implikationen und Vernetzungen mit anderen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung, sie ist mit gutem Grund separiert darstellbar und dennoch untrennbar mit dem geschichtlichen Prozess insgesamt verbunden. Sie ist als Ganzes mittlerweile unüberschaubar geworden. Die Ausdifferenzierung der Medien in jeder einzelnen Sparte wie in ihrer Gesamtheit hat einen Grad erreicht, der es keinem Einzelnen mehr erlaubt, so etwas wie einen Überblick beanspruchen zu können.

Was Werner Faulstich nicht daran gehindert hat, sich an die „Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts“ heranzuwagen und seinen Tribut an die Komplexität und das Volumen dessen, was zu bearbeiten war, zu zollen.

Erklärtes Ziel war dabei, die Beschränkung auf die Einzelmedien aufzugeben und stattdessen die „Einzelmedien des 20. Jahrhunderts als System darzustellen“. Dabei sollten freilich die Einzelmedien nicht vernachlässigt werden, sondern „alle Einzelmedien der Zeit einbezogen werden“. Das Einzelne ebenso zu bedenken wie das Gesamte – einen größeren Anspruch kann es kaum geben. Und einen unlösbareren.

Kein Zweifel, diese mehr als vierhundert eng bedruckten Seiten bieten manch Überraschendes und Erhellendes. Die Betonung der Bedeutung des Blattes beispielsweise ist für die Mediengeschichtsschreibung ungewöhnlich, und ist als Anregung doch dankend aufzunehmen. Dabei geht es nicht um so etwas wie die Flugblattforschung, die sich zwar gern um frühe politische Medien kümmert, aber die profanen Medien wie Bedienungsanleitungen, Beipackzettel oder Werbefolder – der berühmte „Schweinebauch“ – völlig ignoriert, obwohl deren lebensweltliche Bedeutung unbestreitbar ist. Das 20. Jahrhundert wird von Werbezetteln überflutet. Während aber sich Werber tagtäglich um eine angemessene Gestaltung und Textierung ihres Mediums bemühen, hat die Mediengeschichtsschreibung dafür keinen Blick. Schon die Flugblätter der Kommune I, die für die politische Geschichte der Bundesrepublik von Bedeutung sind, sind bislang eher stiefmütterlich – weil moralisch und nur in Auszügen – behandelt worden.

Von der Krise des Buchs ist allenthalben die Rede – der Aufstieg des Katalogs und des Telefonbuchs wie beider Abstieg ist für die Mediengeschichte bestenfalls eine Fußnote wert. Der Niedergang der Musikindustrie und der CD taucht immer wieder auf den Wirtschafts- und Feuilletonseiten der Tagespresse auf (solange es sie gibt). Aber wie sieht es mit Schallplatte, VHS-Kassette oder Musik-Kassetten aus? Historische Phänomene. Gibt es eine Krise des Erzählens, ausgelöst durch den Boom der Kinderhörspiele? Was die „Biene Maja“ für die Kinder der Wende zum 20. Jahrhundert war, sind „Die drei ???“ für die der Wende zum 21. Jahrhundert?

Ähnliche blinde Flecke gibt es bei der privaten Nutzung der großen Medien: Film- und Fotogeschichte sind große Themen der Mediengeschichte, ihre private, ja intime Nutzung jedoch kaum, wie ja auch die Industrien, die sich daran anschließen, kaum Beachtung finden. Faulstichs Hinweise zum erotischen Foto oder zur Porno- und Sexindustrie lassen erkennen, dass diese Themen auch medienhistorisch von Bedeutung wären.

Allerdings sind solche Lücken kaum erstaunlich, denn daneben stehen die großen medialen Revolutionen von Presse, Film, Radio, Fernsehen und schließlich Internet, die das 20. Jahrhundert prägen. Sie sind die bevorzugten Gegenstände der Mediengeschichte und finden selbstverständlich auch bei Faulstich ihren gebührenden Platz, wie eben auch das Buch und der Buchbetrieb deren Dauerkrisen. Nichts davon ist im 20. Jahrhundert geblieben, wie es am Anfang war, und auch das 21. Jahrhundert wird am Ende damit getan haben, was die Technologien zulassen und die Nutzer für richtig und bedeutsam halten. Welche der uns heute so vertrauten Medien dann noch existieren werden, ist offen. Vielleicht das krisengeschüttelte Buch? Zumindest als Metapher wird es wohl überleben.

Anregungen und Hinweise also genug, die dem Band Faulstichs zu entnehmen sind. Dem stehen allerdings lange Passagen gegenüber, die kaum mehr sind als verschriftete Listen dessen, was es in der jeweiligen Sparte gegeben hat – über deren sprachliche Qualität lässt sich nicht streiten. Faulstich erzählt keine Geschichte – das überlässt er lieber anderen, er breitet seinen – zweifellos imponierend umfangreichen – Zettelkasten vor uns aus. Was wir lesen, ist meist nur das aufgearbeitete Material. Damit aber hat es sich. Auch die knappen Zusammenfassungen, die er den chronologisch gegliederten Einzelabschnitten nachstellt, können dieses Defizit nicht ausgleichen. Es fehlt allenthalben an der notwendigen Klammer, einem roten Faden, an einer These, an einer nachvollziehbaren, ja auch strittigen Überlegung, wie alle diese Phänomene in einen anderen als den zufälligen Zusammenhang dieses 20. Jahrhunderts zu bringen sind. Das wäre aber von einer „Geschichte“ der Medien des 20. Jahrhunderts durchaus zu erwarten, so problematisch die allzu rasche Fokussierung auf die großen Linien und Begründungszusammenhänge auch wäre.

So bleibt Faulstichs Arbeit eine Materialsammlung, die bestenfalls als Erinnerungshilfe dienen wird – von den Hinweisen auf die Desiderata der Forschung einmal abgesehen. Sein Verzicht auf Quellenverweise hilft nicht weiter (auch wenn das angesichts der grassierenden Plagiatshysterie Größe zeigt). Zahlen und Daten sind jedenfalls auf den ersten Blick nicht überprüfbar. Das umfangreiche Literaturverzeichnis, das weiterführenden Charakter haben soll, ersetzt die Nachweise jedenfalls nicht. In Einzelfällen wäre ein zweiter Blick jedoch hilfreich, wie kleinere Irrtümer zeigen, die auch Faulstich unterlaufen (die Falschschreibung von Bernd und Hilla Becher in der Fotografiegeschichte der Nachkriegszeit ist das auffallendste Beispiel, die Skizze zur Geschichte des Thingspiels ist zumindest stark verkürzt).

Titelbild

Werner Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts.
Wilhelm Fink Verlag, München 2012.
461 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552689

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