Und fröhlich dem Untergang entgegen gewalzt!
Bob Dylans neues Studioalbum „Tempest“ krönt ein erstaunliches Spätwerk
Von Manuel Bauer
1965 ließ Bob Dylan, der gerade den Folk elektrifiziert hatte und alsbald als Judas beschimpft werden sollte, im letzten Song von „Highway 61 Revisited“ die Titanic in die Dämmerung segeln. 1966 besang er auf „Blonde on Blonde“ Shakespeare und dessen spitze Schuhe. 2012 greift der Meister im Titeltrack seines neuen Albums erneut den Untergang des Riesenschiffes auf und verbeugt sich vor Shakespeares letztem Stück „The Tempest“. Seither ist natürlich viel passiert und es wäre töricht, „Tempest“, das nunmehr 35. Studioalbum Dylans, als ungebrochene Anknüpfung an seine zwei größten Werke zu erachten. Und doch: Seit den seligen 1960er-Jahren, in denen er einen Meilenstein nach dem anderen aus dem Ärmel schüttelte, die populäre Musik scheinbar nach Belieben auf neue Stufen hob und sich und seine Kunst jedes Jahr neu erfand, hat Dylan nicht mehr so konstant hohe Qualität geliefert wie in den letzten – nun auch schon wieder – 15 Jahren. Seit „Time out of Mind“ von 1997 wurde jede neue Platte einhellig gefeiert (lassen wir das Weihnachtsalbum außen vor). Die musikalischen, konfessionellen und allgemeinen Wirrungen, die spätestens nach den großen Alben „Blood on the tracks“ und „Desire“ Mitte der Siebziger in Dylans Œuvre zu verzeichnen waren, waren überwunden.
Kreative Ausfälle wie über weite Strecken der 1980er-Jahre sucht man seit dem „Comeback“ (tatsächlich war er ja nie untätig oder gar weg) vergeblich. Jedes Album – wenn auch im Einzelnen womöglich nicht immer das ganz große Meisterwerk, als das es von großen Teilen der nachgeborenen Musikjournalisten bejubelt wurde – war eine Erkundung der amerikanischen Musikgeschichte vor allem der 1920er- und 1930er-Jahre, deren bedeutendster Restaurator Dylan längst ist. Für Innovationen muss er nicht mehr selbst sorgen. Kommerziell so erfolgreich wie selten zuvor, hat Dylan jeder Modernität abgeschworen und besinnt sich auf das musikalische Erbe Amerikas, das er doch selbst für eine neue Generation erfolgreicher bärtiger junger Männer, die den Folk gerade wieder salonfähig machen, wie kein Zweiter verkörpert.
Während etwa Johnny Cash den Produzenten Rick Rubin brauchte, um sich neu erfinden zu lassen und die Jugend der Welt mit einem überraschend zeitgemäßen Spätwerk zu erobern, hat sich Dylan, wie es seit jeher seine Art war, einfach selbst neu erfunden. Wieder mal. Als Produzenten wählte er einen gewissen Jack Frost, ein weithin unbekannter Name, der nur ein weiteres Pseudonym für Robert Allen Zimmermann ist. Das Maskenspiel geht weiter. Treu blieb sich Dylan stets im Wandel, und sei es ein Wandel der Identitäten. Wer hinter der Maske steckt, bleibt selbstverständlich ungewiss. „You say I’m a gambler, you say I’m a pimp / But I ain’t neither one“, heißt es im ersten Song – eine Variation des klassischsten aller Dylan-Themen.
Stilistisch bleibt es auf „Tempest“ bei kleineren Verschiebungen im Detail bei der Richtung der letzten Alben. Weniger frostig als auf „Time out of Mind“ und etwas weniger folkoristisch als auf „Together through life“, etwas weniger swingig als auf „Modern Times“ und mit größerem Hang zum Epischen, Ausladenden und Balladesken. Die entscheidenden Elemente der letzten Alben aber sind alle vertreten. Rumpelnder Bluesrock, angejazzter Folk und Americana aller Art werden in ihrer Archaik exponiert und dem Vergessen entrissen. Dem launigen Einstieg mit „Duquesne Whistle“ folgt ein munterer Reigen von Stücken, die mal märchenhaft-schwelgerisch ein Date mit der „fairy queen“ („Soon after midnight“) oder mit einiger Bitterkeit eine vergangene Liebe beschwören („Long and wasted years“), mal rockend beschwingt daher kommen („Narrow Way“) oder fast schon – darf man das in Verbindung mit Dylan noch oder womöglich wieder sagen? – als Protestsong auslegbar sind („Pay in Blood“).
Einer überzeugenden ersten Hälfte folgt dann eine überragende zweite. Das elegische „Scarlett Town“, mit Endzeitmetaphorik durchsetzt, ohne allzu plakativ auf gegenwärtige Krisenszenarien Bezug zu nehmen, zählt ebenso wie das gleichermaßen an einen traditionellen Folksong anknüpfende „Tin Angel“ zu den besten Stücken, die Dylan in den letzten 30 Jahren geschrieben hat. Herausragend allerdings ist der Titeltrack. Nachdem es zuvor bisweilen finster zuging, vermittelt dieses kurzweilige 14 Minuten lange Stück eine frappierende Fröhlichkeit. Der Untergang der Titanic wurde häufig genug thematisiert. So schwungvoll wie hier wurde der Crash des vermeintlichen technischen Wunderwerks aber wohl nie besungen. Ähnlich fröhlich und unbeschwert wurde wohl nur kurz vor dem tatsächlichen Untergang gewalzt, wobei der Text die Schunkelmelodie konterkariert und schonungslos das Szenario einer epochalen Katastrophe entwirft.
Zum Abschluss erweist Dylan in „Roll on, John“ unter Zuhilfenahme zahlreicher Anspielungen und Zitate John Lennon seine Reverenz, der der Legende zufolge nach erstmaligem Hören von „Subterranean Homesick Blues“ gesagt haben soll, dass mit einem solchen Stück nicht zu konkurrieren sei (was ihn nicht davon abhielt, noch einige Jahrhundertsongs zu schreiben). Die Wertschätzung war offensichtlich gegenseitig. Knarzend und näselnd, im Refrain aber ehrerbietig und geradezu zärtlich setzt Dylan hier seine Stimme ein, die einmal mehr sein prägnantestes Instrument ist.
Alle Jahre wieder ist im Frühherbst das Gerede über den womöglich fälligen Literaturnobelpreis für Dylan zu vernehmen. Stattdessen sollte Bob Dylan als Gesamtkunstwerk zum Weltkulturerbe erklärt werden. Der größte Songwriter des 20. Jahrhunderts hat endgültig den Nachweis erbracht, dass er auch im 21. Jahrhundert noch eine Rolle zu spielen hat, die weit über Greatest-Hits-Darbietungen hinaus geht. Mit Voraussagen sollte man vorsichtig sein – „don’t speak too soon / for the wheel’s still in spin“ mahnte Dylan bereits in „The Times They are A-Changin“, und wie zum Beweis inszeniert er sich auf dem Foto auf der Albumrückseite am Steuer eines Autos, einen eher uninteressierten Seitenblick ins Nirgendwo richtend. Mit aller gebotenen Vorsicht angesichts der Möglichkeiten, die Dylans Reise noch zu Tage fördern kann: „Tempest“ ist der bisherige Höhepunkt eines Spätwerks, das nach den zumeist mediokeren Alben seit Mitte der 1970er-Jahre und Dylans Abstieg in die Bedeutungslosigkeit kaum jemand für möglich gehalten hätte. Gerne nehmen wir in zwei bis drei Jahren den Beweis entgegen, dass auch dieses Album noch einmal zu überbieten ist. Einstweilen darf sich die Dylan-Gemeinde an einer Ansammlung von Songs erfreuen, die ein so durchgängig hohes Niveau aufweist wie lange nicht mehr. Es bleibt zu hoffen, dass Dylans „Tempest“ nicht das Schicksal des gleichnamigen Shakespeare-Dramas teilen und der Nachwelt als Schlussstein eines einzigartigen Œuvres gelten wird.
Bob Dylan: Tempest. Sony Music 2012