Ein leises Buch über ein stilles Glück

Über Christa Wolfs anrührende Erzählung „August“

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist schweigsam und wird niemals ungeduldig. Für die Reiseleiterin Frau Richter ist er ein guter Zuhörer, wenn sie sich mal wieder über ihre Beziehungsprobleme aussprechen muss. Seine Kollegen dagegen halten ihn eher für langweilig − und nicht „besonders helle“. Das alles berührt ihn nicht. Der Busfahrer August weiß ja selbst, dass ihm oft die richtigen Worte fehlen: für sein Leben an der Seite der Kassiererin Trude, für den Verlust von Eltern und Heimat durch den Krieg. Und vor allem für die Begegnung mit Lilo, damals im Jahr 1946 in dem behelfsmäßigen Krankenhaus nahe der Ostseeküste, in der die Tuberkulosekranken untergebracht waren.

August ist der Protagonist in Christa Wolfs gleichnamiger Erzählung, die sie im Juli 2011 geschrieben hat, knapp ein halbes Jahr vor ihrem Tod. Und er ist kein Unbekannter. Am Ende des Romans „Kindheitsmuster“ heißt es über ihn: „August aus der Nähe von Pilkallen. Eines Tages teilt er Nelly mit, er habe sie sich als Beschützerin ausgesucht. Er war zehn Jahre alt […]. Ein plumper, vierschrötiger, schwerfälliger Junge.“

35 Jahre später wurde diese Nebenfigur von der Autorin in den Mittelpunkt einer eigenen Geschichte gerückt, die nun posthum erschienen ist. Der Suhrkamp Verlag bietet die knapp 30 Seiten schmale Erzählung zu einem wahrlich stolzen Preis von 14,95 Euro an; ein Preis, bei dem man von der Ausstattung schon mehr als eine bescheidene Klappenbroschur erwarten würde. Das aber ist auch schon alles, was es zu kritisieren gibt. Denn mit „August“ hat Christa Wolf noch einmal ein Musterbeispiel ihrer Erzählkunst vorgelegt: die anrührende Geschichte eines einfachen Mannes, der auf ein bescheidenes Leben zurückblickt. Es ist ein Leben wie das tausend anderer auch im Nachkriegsdeutschland: Aufgewachsen als Kriegswaise im DDR-Kinderheim, absolviert der durch und durch anständige August eine Schlosserlehre, lernt Trude kennen, heiratet sie, und beide leben zusammen in einer kleinen Wohnung in Berlin-Marzahn. Urlaub machen sie meist auf ihrem Balkon − und sind ganz und gar damit zufrieden. Große Leidenschaften sehen wohl anders aus. Und doch: Das Verdienst der Erzählung ist es, dieses Glück im Stillen in seiner Würde darzustellen.

Christa Wolfs Thema ist hier, wie in so vielen ihrer Texte und nicht zuletzt in „Kindheitsmuster“, die Erinnerung. Während sich im Roman „Kindheitsmuster“ eine Ich-Erzählerin an die Zeit als Tuberkulosekranke im Behelfskrankenhaus in Winkelhorst erinnert und alles bewusst distanzierend aus der Sicht der 17-jährigen Nelly erzählt, denkt nun der Junge August an seine Begegnung mit Nelly zurück. Nur dass Nelly bei ihm Lilo heißt. In den beiden Texten unterscheiden sich aber nicht nur einige Namen von Tuberkulosepatienten und Ärzten, auch einzelne Begebenheiten werden in „August“ mitunter anders erzählt, die Schwerpunkte etwas unterschiedlich gesetzt. In „Kindheitsmuster“ versucht Nelly nach der erschütternden Erkenntnis, als hitlergläubiges Kind einer menschenverachtenden Ideologie gefolgt zu sein, sich gegen die täglichen Todesfälle im Krankenhaus mit einem Panzer zu umgeben.

Ihr Alter Ego Lilo erscheint dagegen für August als reinste Verkörperung von Mut und Mitgefühl: Lilo kümmert sich um die Mitpatienten, gibt August Nachhilfe, streitet mit der Oberschwester und lässt sich auch von der hohen Ansteckungsgefahr nicht davon abbringen, dem schwer kranken Hannelörchen vorzulesen. An all das erinnert sich August, der das Rentenalter erreicht hat, auf einer seiner letzten Fahrten. Es gilt, eine Reisegesellschaft von Prag sicher zurück nach Berlin zu bringen − und während die Senioren hinter ihm gutgelaunt singen, hängt August am Steuer seinen Gedanken nach. Erzählt wird dabei ganz aus der Sicht des Protagonisten, so dass die Verletzungen und Wunden in seinem scheinbar so langweiligen Leben nur fast wie nebenbei aufscheinen. Denn August hat, wie die meisten Kinder seiner Generation, viel zu früh die Macht des Todes kennen gelernt. Und festgestellt, „daß Trauer und Glück miteinander vermischt sein können“.

Was er nicht gelernt hat, ist, das alles auszudrücken. Nicht sein bescheidenes Glück mit Trude, nicht die Trauer um sie nach ihrem Tod. Und schon gar nicht hat August je ein passendes Wort für die Begegnung mit der resoluten Lilo gefunden. Liebe wäre vielleicht ein solches Wort gewesen. Aber auch: Freundschaft. Nähe. Verlust. Dankbarkeit.

So wie sie Christa Wolf wohl selbst empfunden hat, als sie „August“ geschrieben hat − als Geschenk an ihren Mann, wie eine handschriftliche Notiz, die sich im Anhang findet, nahelegt. „Große Worte sind zwischen uns nicht üblich“, schrieb sie dort. Und weiter: „Nur soviel: Ich habe Glück gehabt.“

Titelbild

Christa Wolf: August. Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
39 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423288

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