Heiter, leicht, intellektuell

Wieland als Kraftquelle für Theodor Fontane, Karl May und Arno Schmidt

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Wer Christoph Martin Wieland nicht kennt, aber sich doch einmal zur Wieland-Lektüre verlocken lassen möchte, hat es heute leicht. 2009 ist in Biberach das „Das Neue Wieland-Lesebuch“ erschienen (ediert von Bock/Ottenbacher), das einen faszinierenden Querschnitt durch seine Erzählungen, seine theoretischen Schriften und seine Briefwechsel gibt. Der Aufklärer Wieland tritt auf – die Wissenschaften, schrieb er 1785, seien für den menschlichen Verstand wie das Tageslicht für die Augen –, ebenso der Satiriker – der über „Bonzen-Politik“ spottet – und der poetische Lehrmeister, der ausruft: „Die Bearbeitung des Stoffs ist die wahre Erfindung.“

Die Abbildungen, teils in Farbe, stammen aus den Schätzen des Wieland-Museums in Biberach. Vor kurzem, 2012, ist Band 7 der „Wieland-Studien“ erschienen, in dem Wieland-Forscher über die Märchenwelten bei Wieland, Mozart und Goethe berichten, die Kunst von Wielands Shakespeare-Übersetzungen würdigen, seine Haltung zu Jesus erörtern und sein Auftreten in den letzten Lebensjahren beschreiben. Dies alles in lebendiger, unkomplizierter Sprache.

Es ist also heute leicht, zur Wieland-Lektüre motiviert zu werden. Vielleicht wird Wieland wieder ein viel gelesener Autor, wie er es bis etwa 1900 war, als sein „Oberon“ von 1780 im Bücherschrank fast jedes Bürgers stand, jene Geschichte in Versen von der Ausfahrt eines westlichen Helden in den Orient, während Goethes „West-östlicher Divan“, wo es auch um eine Reise vom Okzident in den Orient geht, fast unverkäuflich war. Die Freude an Christoph Martin Wieland im 19. Jahrhundert kommt möglicherweise im 21. Jahrhundert wieder. Nicht so gut sah die Wieland-Rezeption im 20. Jahrhundert aus; dass sein Werk viele verlocken könnte, glaubte man damals nicht. In Arno Schmidts Erzählung „Aus dem Leben eines Fauns“ von 1953 gibt es diese Stelle: Ein Landrat, ausnahmsweise einmal jovial, fragt seinen Untergebenen, einen Verwaltungsangestellten (er ist das Ich der Erzählung), was er „da so“ lese, und dieser nennt eine Reihe von Schriftstellern, an erster Stelle Wieland, und erklärt dann: „,In Deutschland haben wir ein ganz einfaches Mittel, einen intelligenten Menschen zu erkennen.‘ – ,:? – ‘. ,Wenn er Wieland liebt.‘ – Aber er war doch auch stark; er sagte würdig: ,Ich kenne ihn nicht‘. ,Oh: aber Herr Landrat wissen so vieles Andere,‘ sagte ich schnell, in der vornehmen dritten Person […]“.

Die Sache ist lustig – wie der Held hier selbstbewusst vor dem Chef prahlt und dann doch einen Rückzieher macht und den Demütigen spielt. Aber ob jemand dadurch, dass er diese Passage bei Schmidt las, zur Wieland-Lektüre bewogen wurde? Es ist kaum anzunehmen, denn zu aufdringlich und zu sehr einschüchternd spielt der Schmidt’sche Erzähler mit dem Begriff ‚intelligenter Mensch‘; er legt eine Hemmschwelle vor das denkbare Leseerlebnis Wieland. Später in der Erzählung sagt er, wieder in hartnäckig belehrender Weise: „Wieland: unter uns Deutschen hat keiner so tief über Prosaformen nachgedacht.“

Im Jahre 1957 wurde vom Süddeutschen Rundfunk Arno Schmidts Funk-Essay „Wieland oder die Prosaformen“ gesendet. Es war eine kunstvoll zusammengestellte und tiefsinnige Gesamtschau auf das Leben und das Werk, vermittelt durch, wie oft bei Schmidt, zwei Sprecher: einen älteren allwissenden Literaturkenner und einen jüngeren Literaturinteressierten, der Fragen stellt und gelegentlich Einwände versucht und so den Älteren herausfordert. Dieser Essay hat bewirkt, dass Wieland bei Bücherfreunden wieder ins Gespräch kam, doch auch er hat Hemmschwellen errichtet. Der Essay ist eigentlich die große Ausformulierung der erwähnten vorangegangen These Schmidts, den Intelligenten erkenne man daran, dass er Wieland liebt. Es ist eben so: „Intellektuell“ ist Schmidts Losungswort, wenn er sich engagiert über Wieland äußert. Wieland habe „blinkernden Intellekt“, verkündet Schmidts Essay, er schreibe „intellektuelle Poesie“, sein Held sei „durchweg der Intellektuelle“ – diese Aussage ist eindeutig falsch –, Wieland sei ein „Berechner der äußeren Form“, Freundschaft gebe es bei ihm „eigentlich nur vom Kopfe her“, er kenne „alle Spielarten des Intellektuellen“, und so fort. Man spürt die Tendenz Schmidts, des sich bewusst intellektuell gebenden und mathematisch inspirierten Autors, den verehrten Wieland sich ähnlich zu machen. Sicher, Wieland war ein gelehrter Poet und trotz seiner großen Kinderschar in vielem ein intellektueller Typ à la Arno Schmidt. Aber es gibt auch andere Zeugnisse von Wieland. Zitieren wir aus dem Brief Wielands vom 4. Juli 1759, in dem er sich über seine Zürcher Bekannte Julie Bondeli äußert (Schmidt kannte den Brief, gibt aber in seinem Essay einen weniger interessanten Ausschnitt wieder): „Das ist ein schreckliches Mädchen, diese Mademoiselle Bondeli. Sie redet mir in Einem Zuge von Platon und Plinius, Cicero und Leibnitz, Pfaff, Aristoteles und Locke, von rechtwinklichten, gleichschenklichen Dreiecken und was weiß ich sonst […]. Es giebt kein Mädchen im Oberlande, das ich dieser gelehrten Bondeli nicht vorziehen würde.“

Hätte sich Schmidt, hätte sich ein Schmidt’scher Held je so abfällig-heiter von mathematisch-philosophischen Diskursen distanzieren können? Schmidt geht also zu weit, wenn er Wieland wieder und wieder auf seine Intellektualität festlegt. Hat Wieland nicht auch die Züge eines ungenierten Fantasten, wenn er während des Schaffens am „Oberon“ an Freund Merck schreibt: „Ich pinsle nur in meinen guten Tagen und Stunden dran, und sehne mich eben nicht nach dem Ende dieser wollüstig mühsamen Reise im Lande der Phantasey.“

Schmidts Betonung des ‚intellektuellen Wieland‘ war eine Nachwirkung seiner Erfahrung der Nazi-Jahre mit der öffentlichen Raserei gegen alles Intellektuelle, zumal die Grundstimmung gegen die Intellektuellen 1945 nicht mit untergegangen war. Doch diese Nachwirkung erklärt nicht alles. Hinzu kommt Schmidts Wunsch nach ‚Identifizierung‘. Schmidt identifiziert sich mit dem großen Mann, um sich abzusondern aus der zeitgenössischen Welt und sich selbst stark zu machen. Christoph Martin Wieland hat Arno Schmidt auf diese Weise Ich-Stärke vermittelt.

Dabei verkrampft sich Schmidt freilich, und doch löst sich einmal in dem erwähnten Funk-Essay die Verkrampfung. Da sagt der erste Sprecher plötzlich: „Vom Klang seiner Sprache will ich Ihnen eine kurze Probe geben“, und zitiert dann mehrere Seiten aus Wielands Gedicht-Erzählung „Clelia und Sinibald“, dieser wunderbaren Geschichte um Liebe, Suchen, Finden und Verkleidungskünste. Aber nach diesem poesievollen Zitat führt Schmidt das Gespräch sofort wieder zu Wielands Intellektualität: Aus diesem Versen spreche, so heißt es, eine Nervosität, denn: „natürlich ist Wieland nervös, wie nur je ein Intellektueller“.

Man kann sich Wieland auch ganz anders nähern. Achten wir, um uns nun ins 19. Jahrhundert zu begeben, auf Theodor Fontane, den die Literaturforscher gemeinhin nicht mit Wieland in Verbindung bringen. Im Jahre 1858, in einer Zeit, da das deutsche Bildungsbürgertum für Friedrich Schiller schwärmte und seinen 100. Geburtstag mit nationalem Pomp zu feiern plante, hatte Fontane von einer Bekannten die Schiller-Biografie der Caroline von Wolzogen, der Schwägerin Schillers, zu lesen bekommen. Er meldet ihr am 30. April 1858 nach der Lektüre: „Schiller – einige glänzende Stellen abgerechnet – macht den Eindruck eines Konrektors, über dessen Schulmeisterseele die Liebe gelaufen ist. Das Ganze ist steif und trocken, und man erquickt sich an dem frischen Ton der 6 oder 7 Briefchen des alten Wieland.“

In Wahrheit enthält die Biografie nur vier Wieland-Briefe; dieser in der Zahl zu hoch greifende Irrtum belegt umso mehr Fontanes spontane Hochachtung vor Wieland. Ich vermute, dass diese Berührung Fontanes mit Wielands Brief-Prosa – Fontane war 38 Jahre alt – für ihn der Anlass wurde, sich mit Wieland gründlicher zu beschäftigen. Ein Indiz dafür ist, dass in Fontanes literaturtheoretischen Schriften vom Anfang der 1850er-Jahre der Name Wieland nicht erscheint und dass er noch 1857 Paul Heyses Epos „Die Braut von Cypern“ mit Goethes „Hermann und Dorothea“ vergleicht, während er zehn Jahre später dasselbe Werk dem „Oberon“ von Wieland an die Seite stellt: „Wir wüßten nicht, daß, seit Wielands ‚Oberon‘, so heitere epische Dichtungen erschienen wären“, schreibt Fontane (in der ‚Gartenlaube‘ 1857). Fontane hatte wohl in der Zwischenzeit den „Oberon“ gelesen.

Und Fontane hat sich vom „Oberon“ sogar beflügeln, ja stärken lassen. Um dies zu erkennen, blicken wir in Fontanes autobiografisches Buch „Kriegsgefangen“. Am 5. Oktober 1870 war Fontane, der als Kriegsberichterstatter in Frankreich unterwegs war, im lothringischen Domrémy unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet worden. Er war unter steter Todesgefahr durch das vom Volkskrieg aufgestachelte Frankreich bis zur Atlantik-Insel Oléron transportiert worden, wo er erst am 29. November freikam. Über seinen Zwischenaufenthalt in Lyon, während der Verschleppung, berichtet er in dem genannten Buch: „Der Allerseelentag verlief ruhig, weniger Geräusch als sonst war äußerlich wahrnehmbar; nur im Gefängnis selber belebte sich’s über den Alltagsverkehr hinaus. Das machte, sieben norddeutsche Schiffskapitäne waren von Marseille her als Gefangene eingetroffen und warteten in einem kleinen Bureauzimmer auf den Bescheid des Lyoner Divisions-Generals, der über ihren weiteren Verbleib entscheiden sollte. […] Sie hatten alle etwas Trauriges, Verschleiertes im Auge und nur die Wahrnehmung beruhigte mich (sie waren eben beim zweiten Frühstück), daß ihr frischer, meerentstiegener Appetit unter dieser Stimmung keinen Augenblick gelitten habe. […] Einer der Kapitäne, ein großer, schöner Mann, mit einem langen schwarzen Sappeurbarte, war nicht nur verheiratet, sondern hatte auch seine kleine blonde Frau, eine Rostockerin, mit auf die Fahrt genommen; eine ‚Hochzeitsreise nach Konstantinopel‘ in glücklicher Mischung des Nützlichen mit dem Angenehmen. Die Frau regierte natürlich, und zwar nicht nur ihren Mann, sondern auch die sechs andern, was bei der besondern Stellung, die sie einnahm, keinen Augenblick zu verwundern war. Sie sprach ein leidliches Französisch, machte deshalb den Interpreten und focht für die Gesamtheit alle Kämpfe siegreich durch. Ihr Ehegespons war ihr eigentlich nur ‚beigegeben‘. […] Er wußte es übrigens selbst und trug es mit ritterlichem Anstand.“

In dieser spannungsvoll-heiteren Passage fällt das mythenhafte und märchenhafte Element auf. Wird doch mit dem Adjektiv „meerentstiegen“ die hier auftretende Frau sozusagen zur Melusine erklärt, einer Figur, die beim späten Fontane eine große Rolle spielen wird, und außerdem ist diese Frau mit den ihr ergebenen sieben Männern ein modernes Schneewittchen, von der eine seltsam flackernde Erotik ausgeht. (Das Wort von der „Reise nach Konstantinopel“ ist eine Anspielung auf ein gleichlautendes Werk Fritz Reuters.) Beachten wir diese Erotik und die Äußerungen über Meerfahrt und Orient, Stichwort: Konstantinopel, so zeigen sich Reminiszenzen an Wielands „Oberon“. Denn auch Hüon, seine Hauptfigur, kehrt mit seiner Braut, die eigentlich keine Braut mehr ist, aus dem Orient über Marseille in das Innere Frankreichs zurück, auch er hat Gefahren zu bestehen, und auch bei ihm spielen mancherlei Gefährten eine Rolle. Und durch das Wort vom „ritterlichem Anstand“, den Fontane dem Ehemann zuschreibt, wird der Bogen zur Historie und zurück zum ersten Kapitel von „Kriegsgefangen“ geschlagen. Diesem Kapitel hat Fontane die Überschrift „Ins alte, romantische Land“ gegeben. Dies ist ein damals sprichwörtliches Zitat aus dem „Oberon“, Fontane hat es aber benutzt, um seinen Bezug zu Wieland zu verkünden.

Wie lautet doch die Stelle bei Wieland, wie lauten jene so dynamischen Eingangsverse des „Oberons“?

Noch einmal sattelt mir den Hippogryfen, ihr Musen,
Zum Ritt ins alte romantische Land!
Wie lieblich um meinen entfesselten Busen
Der holde Wahnsinn spielt! Wer schlang das magische Band
Um meine Stirne? Wer treibt von meinen Augen den Nebel
Der auf der Vorwelt Wundern liegt?

Mit dem „alten romantischen Land“ erinnert Wieland zuallererst an die mittelalterliche Sagenwelt Südfrankreichs, aus der er den „Oberon“-Stoff entnommen hat, an die traditionelle Kultur des Languedoc (an die sich 1882 auch Friedrich Nietzsche mit seiner „Gaya scienza“, der „Fröhlichen Wissenschaft“ anschließen wird). Fontane meint, indem er die Wendung zitiert, zum einen das, wie er einmal sagt, „Jeanne d’Arc-Land“, also die Gegend um Domrémy, und zum anderen die mittel- und südfranzösischen Regionen, mit denen er in Lyon und auf seiner weiteren Zwangstour in Berührung gekommen war. Es gehe „weiter ins Land hinein“, schreibt Fontane, den Anfangstitel à la Wieland wieder aufgreifend, einige Seiten nach der Lyoner Episode, und auf der Insel Oléron fürchtet er fast, mit dem Blick aufs Meer, er könne wieder „als Opfer des Romantizismus fallen“.

Die tröstende und ermutigende Funktion, die Literatur haben kann, ist nicht oft in der Literaturgeschichte so eindrucksvoll sichtbar gemacht worden wie in Fontanes „Kriegsgefangen“. Das Denken an den „Oberon“ ist für einen Gefangenen und Verschleppten eine seelisch hilfreiche Fantasie. Wielands Heldenepos wird belebt durch die weise dosierte Mischung aus der Schlagetot-Mentalität der reisenden Ritter und den Wunderhandlungen des Elfenkönigs Oberon, der ein „Lichtgott“ ist, „durchaus im Sinne des Aufklärungszeitalters“ (wie Hans Mayer einmal dargelegt hat). Das märchenhafte Wunder als Symbol für das eigentlich Menschliche: diese Vorstellung bei Wieland kann einem Malträtierten die ersehnte Ich-Stärke geben. Wieland ist für Theodor Fontane eine Kraftquelle – wie auch später für Arno Schmidt. Ich „schlief“, schreibt Fontane am Ende des Lyoner Tages, „wie in meinen besten Tagen“. Bei Wieland hören wir über Hüon, nachdem ihm überraschend der Elfenkönig erschienen ist: „Bald löset unvermerkt des Schlafes weiche Hand / Der Nerven sanft erschlafftes Band.“

Natürlich hat auch ein Reise- und Abenteuerschriftsteller wie Karl May sich von Wieland inspirieren lassen. In seiner Reiseerzählung „Durch die Wüste“, in der Erstfassung 1880 entstanden, unterhält sich der Ich-Held vor den Toren Mekkas mit einem Reisenden aus Triest, der bei einem Kamelverleiher Reittier und Sattel besorgen möchte, aber sich doch nicht recht traut. Der Held sagt zu ihm: „,Wer mit großen Mitteln die Atlasländer oder die Weststaaten Nordamerika’s besucht, dem stehen eben diese Mittel im Wege; wer aber mit leichter Tasche kommt, der wird bei den Beduinen Gastfreundschaft suchen und sich nützlich machen, drüben im wilden Westen aber sich sein Brot schießen und mit hundert Gefahren kämpfen müssen; ihm wird es nie an Abenteuern fehlen. Wollen wir wetten, daß uns nachher bei unserem Ritt ein Abenteuer passieren wird, mag es auch ein nur kleines sein? Die Recken früherer Zeiten zogen aus, um Abenteuer zu suchen; die jetzigen Helden reisen als Commis-voyageurs, Touristen, Sommerfrischler, Bäderbummler, oder Kirmeßgäste‘. Ich hatte ihm diese Rede mit Vorbedacht gehalten; denn zu einem Erstlingsritt auf dem Kamele gehört unbedingt eine in das Romantische hinüberklingende Seelenstimmung.“

Dieses Gespräch mit seinem Erinnern an die „Recken früherer Zeiten“ und mit seinem mahnenden Gestus spiegelt die Einleitung des „Oberons“ wider. („Noch einmal sattelt mir den Hippogryfen, ihr Musen“). Dabei macht der Schluss-Satz über die nun einmal erforderliche romantische Seelenstimmung, den der Held nicht mehr als Romangestalt, sondern zum Leser hin spricht, die ganze Passage zu einem poetologischen Statement. Denn dieser Satz relativiert nachträglich das Schwärmen vom leicht zu findenden Abenteuer, erklärt den Rückblick auf frühere romantische Zeiten als etwas für den Alltag Unpassendes, als etwas nur Gewolltes und damit als eine literarische Pose – eine Pose allerdings, die für das Schreiben und Lesen der vorliegenden Erzählung angemessen ist. Die „in das Romantische hinüberklingende Seelenstimmung“ wünscht der Erzähler, ja holt der Erzähler seinen Lesern und sich selbst herbei.

Ob Mays später Roman „Ardistan und Dschinnistan“, der zum ersten Mal 2005-2007 vollständig auf der Grundlage des Manuskriptes ediert worden ist, und zwar von Hans Wollschläger (es war die letzte Arbeit vor seinem Tod), auch von Wieland inspiriert worden ist, ist schwer zu entscheiden. May besaß unter anderen eine 6-bändige Wieland-Ausgabe. Mays Dschinnistan ist das glückliche Land edler Menschen, und das verträgt sich damit, dass Wieland (in seinem Märchen „Adis und Dahy“) sagt, „Ginnistan“ sei „ein Nachbild es irdischen Paradieses“, und mit seinen Worten (im „Hexameron von Rosenhain“), die Bewohner seien „Schutzgeister der Menschen“, die „emporragenden Personen zu Beschützern gegeben“ sind. Andererseits schreibt Wieland im Allgemeinen „Ginnistan“, wenn er das Land meint, und „Dschinnistan“, um seine Sammlung von Märchen zu benennen.

Zum Schluss stellen wir noch zwei kleine originelle Passagen aus Wielands Werk vor. Die erste befindet sich im 4. Buch seines ‚Kleinstadtromans‘ „Geschichte der Abderiten“, der auch ein Staatsroman ist: „Endlich erschien der Nomophylax mit seiner Leibwache von armen, ausgemergelten und bresthaften Handwerkern, welche, mit stumpfen Hellebarden und mit einer friedsamen Art von eingerosteten Degen bewaffnet, mehr das Ansehen der lächerlichen Figuren hatten, womit man in Gärten die Vögel schreckt, als von Kriegsmännern, die dem Gerichte beim Pöbel Würde und Furchtbarkeit verschaffen sollten. Wohl indessen der Republik, die zu Beschirmung ihrer Tore und innerlichen Sicherheit keiner andern Helden nötig hat als solcher!“

Kranke, vogelscheuchenartige und bresthafte, das heißt hinfällige, Männer sind hier Soldaten. Wieland verulkt den Soldatenstand. Arno Schmidt hat sich über die Militär-Persiflage sehr lobend geäußert – aber nicht über diese, sondern über die in Karl Mays „Dschinnistan“-Roman, die von der Wieland’schen angeregt ist. May lässt da, bei einem naiv organisierten Urmenschen-Volk, eine Armee auftreten, die aus Gebrechlichen besteht, und außerdem eine dort eingeborene Frau, die ein derartiges Militärwesen rigoros verteidigt: „Also gehören die nützlichen Menschen, die gesunden, die arbeitsfähigen, zum Frieden, die andern aber für den Krieg!“ Schmidts Lob für diesen Abschnitt bei Karl May findet sich in seiner Studie „Abu Kital. Vom neuen Großmystiker“. Dass May sich an Wieland anlehnt, hat Schmidt jedoch nicht bemerkt; er brachte es nicht fertig, den ‚Intellektuellen Wieland‘ und den ‚naiven Erzähler May‘ zusammen in den Blick zu nehmen.

Die andere Passage aus dem 4. Gesang von „Oberon“ und ist auch in dem einleitend genannten „Wieland-Lesebuch“ von Bock/Ottenbacher enthalten. Hüon befindet sich am Euphrat:

Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen,
den ersten Schmerz, die erste Lust empfand,
Sei immerhin unscheinbar, unbekannt,
Mein Herz bleibt ewig doch vor allen dir gewogen,
Fühlt überall nach dir sich heimlich hingezogen,
Fühlt selbst im Paradies sich doch aus dir verbannt

Hüon denkt an seine Heimat an der Garonne, so wie sich Wieland in Weimar an seine Heimat in Oberschwaben erinnert, an das Dorf Oberholzheim und an Biberach. Wieland liebt die Welt, erfahren wir hier; das himmlische Paradies verlockt ihn nicht. Denn der Aufenthalt dort erscheint ihm als Verbannung aus der Heimat. Ein elegischer und zugleich irdisch-heiterer Wieland spricht hier; und auch ein intellektueller Wieland, der selbstbewusst die theologische Paradiesvorstellung in Frage stellt. Und Wieland zeigt sich hier zugleich als ein Dichter, der weiß, dass die Hingabe an die Poesie immer auch seelische Kraft erzeugt, beim Dichter selbst und ebenso bei seinen Lesern.